Brückenschlag zum
Profitum
Die Ballett-Akademie München zwischen Aufschwung und Umbruch
Deutschland ist Tanzland. Das Bayerische Staatsballett in München hat sich dies sogar als Motto für die letzten drei Spielzeiten unter Ballettdirektor Ivan Liška programmatisch auf die Fahnen geschrieben. Über eine bewegte Geschichte in Sachen Tanz hinaus zieht heute eine Handvoll renommierter Institutionen – im Land verteilt und meist eng mit erstklassigen Compagnien verbunden – Studierende aus der ganzen Welt an. Aufnahme finden jene, die sich für ihr Berufsleben (vorerst einmal) nichts anderes vorstellen können, als die Verwirklichung ihres Traums: im Profilager zu tanzen. Auf bedeutenden Bühnen beziehungsweise möglichst an der Spitze herausragender Ensembles.
Außenansicht der Ballett-Akademie München. Foto: Day Kol
Der Weg dorthin ist – körperliche Eignung, Talent und das notwendige Quäntchen Glück vorausgesetzt – steinig und fordert viel Opferbereitschaft. Ohne Disziplin, fächerübergreifenden Ehrgeiz, täglich jede Menge Schweiß sowie die adäquate Ausbildungsstätte ist das nicht zu bewältigen. Die Akademieleiter sind permanent auf Achse oder als Juroren bei Wettbewerben präsent, um direkt vor Ort den passenden Nachwuchs für „ihre“ Location herauszufiltern, auch durch persönliche Gespräche.
So erläutert Stuttgarts ehemalige Erste Solistin und Kammertänzerin Birgit Keil aus der Warte ihrer Dreier-Funktion als Begründerin einer Tanzstiftung, Ballettdirektorin in Karlsruhe und (seit 1997) Chefin der in einem „traumhaften Neubau“ von 1999 untergebrachten Akademie des Tanzes an der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Mannheim: „Unsere Kriterien sind Befähigung, technische Qualität, Charakter und Sympathie; das heißt, auch die Chemie sollte stimmen.“
Jan Broeckx, mittlerweile seit sechs Jahren Chef der Münchner Ballett-Akademie, bestätigt: „Mehr als die Hälfte der Vollstudenten kommen heute nicht von selbst. Man muss sie holen. Das machen alle so und picken sich die richtigen Typen für ihre Schule heraus. Ist man nicht mit gutem Blick und Gespür für Potenziale dabei, sind die Besten schnell weg.“ Auch Igor Zelensky wird, wenn er nächste Spielzeit das Ruder am Staatsballett übernimmt, seinen bevorzugten Tänzertyp durchsetzen. Für Broeckx bedeutet das, „zu verstehen, was er sucht, um nach ‚richtigen’ Leuten Ausschau zu halten.“ Doch noch glänzt der Künftige in München mehr durch Ab- denn Anwesenheit. Im Ensemble wird sich manches ändern – die Weiterführung der Junior-Company (eine Kooperation zwischen Bayerischem Staatsballett, Heinz-Bosl-Stiftung und Ballett-Akademie München) liegt im Ungewissen. Dabei bietet sie seit 2011 den optimalen Brückenschlag für Absolventen zwischen Schule und festem Engagement. Der Usus eines Elevenjahres, wie er in Stuttgart praktiziert wird (quasi ein Praktikum innerhalb der Hauptcompagnie; in Hamburg: Aspiranten), existiert in Bayern nicht.
Großer Saal. Foto: Day Kol
Dabei ist es immer schwieriger, die Abgänger unterzubringen, gibt der Belgier zu bedenken. Das Stuttgarter und das Hamburger Ballett rekrutieren ihren Nachwuchs fast vollständig aus den eigenen Schulreihen. Compagnien werden kleiner und kleiner, andere verschwinden ganz; in Berlin wurden ursprünglich drei zu einer zusammengefasst. In ganz Italien gibt es nur drei entsprechende Ensembles. Das macht die breite Stadttheaterlandschaft Deutschland zu einem interessanten Ziel für begabte junge Tänzer. Von seinem Büro aus ist Broeckx deshalb ohne Unterlass dabei, Kontakte zu knüpfen, seine Netzwerke als ehemaliger Solist unter anderem bei Roland Petit weiter auszubauen. „Networking ist wichtig, darum bin ich so viel unterwegs.“
Im Ranking der professionellen Ballett- und klassisch fundierten Tanzausbildungen in Deutschland konkurrieren seit Jahrzehnten fünf große Schulen mit internationalem Ruf: die Ballettschule des Hamburg Ballett – John Neumeier (beheimatet im compagnieeigenen Ballettzentrum), die Stuttgarter John Cranko Schule (deren lange geplanter Neubau mit acht Probenräumen, moderner Küche und eigenem Physiotherapiebereich seit dem ersten Spatenstich im Juli 2015 in vollem Gang ist), die Staatliche Ballettschule Berlin (mit angegliederter Fachrichtung Artistik, und – verortet im Stadtteil Prenzlauer Berg – Deutschlands modernstem Ballettausbildungscampus), die 1925 von Gret Palucca initiierte und zuletzt 2007 baulich maßgeblich erweiterte Palucca Hochschule für Tanz Dresden (als erste und bislang einzige eigenständige Hochschule für Tanz hierzulande) sowie die auf Wirken von Konstanze Vernon mithilfe der 1978 gegründeten Heinz-Bosl-Stiftung in die Hochschule für Musik und Theater München eingegliederte Ballett-Akademie.
„Zeitgenössische Choreografen wollen für mitdenkende Tänzer kreieren. Diese Entwicklung muss man für ein Ausbildungsinstitut berücksichtigen.“
Arbeit mit den ganz Jungen. Foto: Ida Zenna
Alle diese fünf Einrichtungen bilden Kinder ab dem Grundschulalter aus und führen die Heranwachsenden auf dem Fundament des klassisch-akademischen Tanzes zur Bühnenreife. Einzig in Bayern fehlt jedoch bis heute ein akademieeigenes Internat. Die Politiker von dessen absoluter Notwendigkeit zu überzeugen, darin sieht Jan Broeckx derzeit eine seiner wichtigsten Aufgaben und größten Herausforderungen. Er selbst wurde an der Staatlichen Ballettschule Antwerpen ausgebildet, die mit dem normalen Gymnasium gleichgeschaltet ist: „Man geht in der Frühe hin und wird auch in herkömmlichen Fächern wie Sprachen, Mathematik, Geschichte et cetera unterrichtet. Wie bei einer Sportschule liegt der Schwerpunkt auf der Praxis, dem Tanz. Auf diesem Gebiet wird einem eine gute Basis an kultureller Ausbildung vermittelt – nicht nur Repertoire, Pas de deux, Modern, Jazz, Pantomime, sondern auch Tanz- und Musikgeschichte sowie Musiktheorie, Tanznotation, Schminken, Improvisation …
Seit seinem Amtsantritt 2010 hat Broeckx die Breite des Fächerspektrums innerhalb des neu eingeführten Bachelorstudiengangs maßgeblich erweitert und durch diverse Workshopangebote wie zuletzt zum Thema „Curriculum vitae“ in Richtung einer ganzheitlicheren Tänzerausbildung ergänzt. „Tänzer müssen verstehen, was sie auf der Bühne darstellen. Und zeitgenössische Choreografen wollen für mitdenkende Tänzer kreieren. Diese Entwicklung muss man für ein Ausbildungsinstitut berücksichtigen.“ Für Aufführungsprojekte werden erfolgreich Kooperationen zwischen der Hochschule und Ballett-Akademie angeregt. Das beachtlich gestiegene Leistungsniveau und die sichtbare souveräne Reife bei den Aufführungsterminen im November und Dezember geben seiner Strategie Recht.
„Solange wir kein neues Gebäude mit Internat, Mensa et cetera anbieten, wandern die Begabten mit 12, 13 Jahren nach Stuttgart, Berlin, Dresden, Hamburg oder Zürich ab.“
Wie man mittels guter Infrastruktur und Nähe zwischen Profitum und Nachwuchs erfolgreich Synergien erzeugt, hat exemplarisch Ballettintendant John Neumeier 1989 – elf Jahre nach Gründung seiner Schule – mit der Zusammenlegung beider Schienen in einem ehemaligen Mädchenschulkomplex von 1929 vorgemacht. Dieser wurde bewusst für den dicht getakteten Tagesablauf und die Bedürfnisse von Trainings- und Probeneinheiten, körperlicher Entspannung und Kraftaufbau sowie praktischen und theoretischen Ausbildungsanforderungen restauriert. Das (neben Räumen in der Staatsoper) bis zur Verwaltung alles integrierende Zentrum verfügt über vier Säle für die Compagnie (einer davon mit Bühnenmaßen) sowie fünf Studios für die Ballettschule mitsamt Internatsräumlichkeiten für 34 Eleven.
Seit sechs Jahren Chef der Münchner Ballett-Akademie: Jan Broeckx. Foto: Ballett-Akademie
Seit 2011 ist das Hamburger Ballettzentrum im Stadtteil Hamm außerdem Heimstätte für acht Jungprofis zwischen 18 und 23 Jahren. Unter der künstlerischen und pädagogischen Leitung von Kevin Haigen, ehemaliger Erster Solist des Hamburg Ballett, zum Bundesjugendballett zusammengefasst, sorgen sie immer wieder mit kreativen Projekten für Aufmerksamkeit. Jüngster Neuzugang seit Herbst: der Italiener/Australier Joel Paulin und der gebürtige Münchner Tilman Patzak, zwei Absolventen der Münchner Ballett-Akademie!
Stuttgart besitzt 32 Internatsplätze. Wohnplatz für 75 Tanzstudenten bietet das Dresdner Ballettinternat. Der Campus verfügt über eine physiotherapeutische Praxis, mehrere Massage- und Krafttrainingsräume und sogar eine „Unterwasser-Druckstrahlmassage“ für Therapieanwendungen. Für das Ausbildungsprogramm stehen insgesamt zwölf Säle zur Verfügung, wovon zwei für Studiovorstellungen zu einer Bühne für 200 Zuschauer umfunktioniert werden können. Auch in Berlin verfügt man über 74 Internatsplätze und beschäftigt im Team eine fest angestellte Fachärztin, zwei Physiotherapeutinnen und eine Ernährungsberaterin. Nur im Bereich eigener Fitness- und Rehakapazitäten hat die Stadt den Rotstift angesetzt. Die jungen Tänzer weichen auf entsprechende Studios im Umfeld aus.
Vor einigen Wochen besuchten Münchens Hochschulpräsident Bernd Red-mann und der Abgeordnete Thomas Goppel die seit 1989 in den ehemaligen Schwabinger Trambahndepots untergebrachten Trainingssäle. Eine Stätte, in der – den anderen Instituten zahlenmäßig vergleichbar – an sechs Tagen 13 Dozenten, unterstützt von 18 Pianisten, 89 Mädchen und 33 Jungs in Tanzpraxis unterrichten und Choreografien proben. Broeckx: „Sie haben gesehen, dass wir seitens räumlicher Kapazitäten hinter dem Standard zurückliegen. Mit aktuell 126 Studenten (darunter 46 Vollstudenten und 80 Kindern in den Vor-, Grund- und Mittelstufen) platzen wir aus allen Nähten. Dabei haben wir gerade eine sehr starke Abschlussklasse der Mädchen, nächstes Jahr sind die Männer stärker. 2016 gehen wir zum ersten Mal mit sieben Studenten zu einem der renommiertesten Wettbewerbe nach New York: Sarah Schäfer (1. Platz) und Max Ossenberg-Engels (3. Platz) qualifizierten sich in Paris erfolgreich für das Finale des „Youth America Grand Prix“ im April. Dennoch brauchen wir unbedingt mehr jüngere Gute! Solange wir kein neues Gebäude mit Internat, Mensa et cetera anbieten, wandern die Begabten mit 12, 13 Jahren nach Stuttgart, Berlin, Dresden, Hamburg oder Zürich ab, wo die Wege kürzer und die intensiveren Anforderungen zwischen Schule und Ballett organisatorisch einfacher zu managen sind.“
Das erste konkrete Angebot für ein Internat kam kürzlich von einem Stiftungsvorsitzenden, der an einer Führung durch die Ballett-Akademie teilnahm. Und es scheiterte an den für Studenten zu hohen Kosten für die anzumietenden Räume. Doch die Berechnungen regten Gespräche mit dem Ministerium an. „Es wird Zeit, hier endlich etwas auf die Füße zu stellen. Aber natürlich funktioniert das nur, wenn auch Igor Zelensky mit uns hinter einer Ballett-Akademie für das Bayerische Staatsballett steht.“ In der zweiten Januarhälfte kommt der Russe, mit dem Broeckx bisher gerade einmal sprechen konnte, wieder nach München. „Wir müssen auch in München erreichen, dass Schul- und Ballettausbildung wie bei guten Sportschulen unter einem Dach vereint werden. Einer der Gründe, warum ich die Tanzbiennale des Dachverbands aller Hochschulen in Deutschland 2018 in die Landeshauptstadt geholt habe.“
Am 19. Februar bittet der Bundespräsident zu „Deutschland tanzt im Schloss Bellevue“. Vielleicht die Chance, das Wort an Seehofer und in Sachen Ballettausbildung den Fokus auf Bayern zu richten …
42 Wohnheimplätze, die die Heinz-Bosl-Stiftung im Prinz-Joseph-Clemens-Haus unterhält, dienen als Unterkunft für die Staatsballett-Junioren und helfen 21 Studenten. Im Konkurrenzgefüge der „Big Five“ sind sie aber nur ein Tropfen auf den heißen Stein.
Vesna Mlakar |