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Portrait

Die Stille in der Musik

Der Opern-Komponist Salvatore Sciarrino · Von Jelena Rothermel

In unserer Reihe „Zeitgenössische Opernkomponisten“ porträtieren wir in dieser Ausgabe Salvatore Sciarrino.

Salvatore Sciarrinos Oper „Infinito nero“ beginnt mit Nichts, mit Stille. Dann – fast unmerklich – sind Atemgeräusche zu hören. Sind es die eigenen, sind es die der Sängerin? Gehören sie schon zur Komposition oder sind es unvermeidbare Nebengeräusche? Wenn sich der Hörer von Sciarrinos Oper derlei Fragen stellt, dann ist er schon im Sog der Musik gefangen, dann ist er dort, wo Sciarrino ihn haben möchte. Sciarrino geht es um Fragen der Wahrnehmung, um die Wahrnehmung von Stille, von Tönen, von der Umwelt. Der Anfang von „Infinito Nero“ ist eine Übung des aufmerksamen Hörens.

Salvatore Sciarrino. Foto: Charlotte Oswald

Salvatore Sciarrino. Foto: Charlotte Oswald

Vielleicht kann dies die erstaunliche Sogwirkung beschreiben, die von Sciarrinos Opern ausgeht. 15 musikdramatische Werke hat der Sizilianer bisher geschrieben, sieben davon wurden in Deutschland uraufgeführt. Und längst ist die Musik des heute 66-Jährigen im Repertoire der Opernhäuser angekommen. Nicht nur Neue-Musik-Festivals spielen sie, sondern auch kleinere Landestheater wie die in Coburg oder Oldenburg. Im Jahr 2011 standen zeitgleich drei Premieren an: Das Nationaltheater Mannheim brachte die Uraufführung von Sciarrinos bisher letzter Oper „Superflumina“, einige Kilometer weiter gaben die Oper Frankfurt „Luci mie traditrici“ aus dem Jahr 1998 und das Staatstheater Mainz „Macbeth“, 2002 komponiert. Woher rührt dieser Erfolg? Warum faszinieren Sciarrinos Opern auch die Menschen, die sich eigentlich nicht für zeitgenössische Musik interessieren?

Revolution in der Musik

Sciarrino ist genuiner Musikdramatiker, sein Wunsch ist nichts Geringeres als die Revolutionierung des Musiktheaters. Das Ziel dieser Revolution ist ein Theater, das „einzig auf der suggestiven Kraft des Dramas beruht“. Es ist eine Revolution, die in der Musik stattfindet. Auf der Bühne spielt sich – wenn überhaupt – nur wenig ab, das Drama ereignet sich im Klang: Eine Verinnerlichung des Theaters in die Musik nannte dies Sciarrino gegenüber dem Musikwissenschaftler Gian­franco Vinay. So trägt die Oper „Lohengrin“ von 1984 auch den Untertitel „Azione invisibile“ (Unsichtbare Handlung). Hier hört man weder Schwertergeklirr noch Brautchor, sondern die Visionen und Träume Elsas. Einige Jahre vorher, 1981, entsteht „Vanitas“, ein Stillleben in einem Akt. Im Mittelpunkt der Nicht-Handlung stehen Vanitas-Symbole, Symbole der Vergänglichkeit, die Sciarrino durch Übergänge des Singens in Stille darstellt. Hier entwickelt er erstmals eine Figur, die später sein Markenzeichen und die Basis seines Gesangsstils werden wird: die „sillabazione scivolata“, zu deutsch etwa „gleitende Silbenartikulation“. Ein lang gezogener Ton schwillt an und mündet in einer schnellen Abwärtsfiguration. Die kurze Figur schwebt zwischen Singen, Sprechen und Stille.

Mit „Vanitas“ beginnt auch Sciarrinos Arbeit als Librettist. Hatte er vorher mit Aurelio Pes und Giorgio Marini zusammengearbeitet, schreibt oder kompiliert er seine Libretti nun selbst, damit Text und Musik von Anfang an miteinander verbunden sind. In der Wahl der Stoffe wendet er sich meist Mythen – antiken und modernen – oder literarischen Klassikern zu. Seine erste Oper aus dem Jahr 1973 verarbeitet die Erzählung von „Amor und Psyche“ – so auch der Titel der einaktigen Oper –, „Perseo e Andromeda“ (1990) geht auf die „Moralités légendaires“ von Jules Laforgue zurück. In „Cailles en sarcophage“ (1980) treten Kultfiguren der ersten Jahrhunderthälfte auf: Marlene Dietrich, Jacques Lacan und Salvador Dalí. Mit „Macbeth“ (2002) und „Lohengrin I/II“ (1984/2004) widmet sich Sciarrino Klassikern der Literatur- und Operngeschichte.

Anlehnung an Traditionen

„Luci mie traditrici“ in Frankfurt mit Christian Miedl als Il Malaspina und Nina Tarandek als La Malaspina. Foto: Wolfgang Runkel

„Luci mie traditrici“ in Frankfurt mit Christian Miedl als Il Malaspina und Nina Tarandek als La Malaspina. Foto: Wolfgang Runkel

Bearbeitungen schon existenter Stoffe – literarischer und musikalischer – sind Schwerpunkte der künstlerischen Arbeit Sciarrinos. Seine Textvorlagen kürzt er radikal, selten bleiben ganze Sätze übrig. Satzfetzen und „sillabazione scivolata“ fügen sich in ihrer Kürze perfekt ineinander. Bearbeitungen alter, schon existenter Musik gibt es in fast allen Opernwerken Sciarrinos. In „Aspern“ (1978) beschwören Mozartarien und Meeresrauschen venezianische Klangwelten herauf; das Ballett „Morte a Venezia“ von 1991, basierend auf der Novelle von Thomas Mann, arbeitet mit Musik von Johann Sebastian Bach und die Oper „Luci mie traditrici“ bezieht eine Elegie von Claude Le Jeune in ihre Intermedien ein. Sciarrino scheut die Tradition nicht. Er eignet sie sich an – nicht auf analytische Weise, sondern subjektiv. Eine interessante Mischung ergibt sich, wenn Flötenglissandi und Flattertöne aus dem Spieltechnikrepertoire des 21. Jahrhunderts auf klassische Tongebungsverfahren der früheren Jahrhunderte treffen. Sciarrino kontrastiert die Klänge nicht, sondern löst die alte in der neuen Musik auf – der Komponist sprach gar vom respektvollen „Töten“.

In seinen Partituren reizt Sciarrino sämtliche Möglichkeiten der Klangerzeugung aus. Flageolett-Töne der Streicher und Anblasgeräusche der Holzbläser erzeugen eine Atmosphäre von flirrender Hitze und Windrauschen. Es sind leise, filigrane Klänge, die in ihrem Stillstand ein gewaltiges Spannungspotenzial innehaben. Wenn sich wie in „Luci mie traditrici“ Zikadenzirpen und das artifizielle Knarren morscher Äste steigern und dichter werden, dann kündigen sie den Mord des Mannes an seiner Ehefrau (Il Malaspina und La Malaspina) ebenso an wie die Aufregung und Sensibilität der Personen. Aber nur selten entlädt sich die Spannung in solch eruptiven Explosionen wie hier. Naturgeräusche hört Sciarrinos Publikum immer durch den Filter der Wahrnehmung der Bühnenfiguren. Den Kontrast von Innen- und Außenwelt gibt es nicht. Er schreibe keine Musik, sondern „psychologische Erfahrungen“, so Sciarrino in einem Interview mit Maria Kostakeva. Ausgangspunkt seines Komponierens ist die Wahrnehmung – seine eigene und die der Hörer –, weshalb es der Musikwissenschaftler Carlo Carratelli auch ein „Komponieren des Hörens“ nennt. Die Struktur seiner Musik entlehnt Sciarrino den menschlichen Wahrnehmungsvorgängen, sie ist assoziativ, fragmentarisch und in kurze Einheiten, Figuren, unterteilt. Wie auch die menschliche Wahrnehmung nicht linear voranschreitet, vollzieht die Musik plötzliche Wendungen: Klänge multiplizieren sich, türmen sich auf und münden doch abrupt in Stille. So ziehen sie den Zuhörer in ihren Bann, der meint sich mitten im Geschehen und wird dann doch durch kurze Forte-Einbrüche oder fremde Klänge dieser Illusion beraubt.

Zeitlose Archetypen

Im Mittelpunkt der Musik steht aber der Gesang. Sciarrinos Vokalstil basiert auf der zweiteiligen Figur der „sillabazione scivolata“, die der Komponist je nach Ausdruck und Charakter variiert. Ob Flüstern oder langgezogene Seufzer, beinahe jeder Laut der Sänger lässt sich auf diese kurze Figur zurückführen und ist minutiös ausgearbeitet. Sciarrino schuf damit zum Einen einen hohen Wiedererkennungswert seiner Musik, quasi sein Markenzeichen, und zum Anderen nimmt er seinen Bühnenfiguren die Individualität: Hochemotionale aber zeitlose Archetypen bevölkern Sciarrinos Opern.

Die Ehefrau La Malaspina in „Luci mie traditrici“, die träumende Elsa aus „Lohengrin“ oder die Mystikerin Maria Maddalena de‘ Pazzi mit ihren Visionen in „Infinito nero“ (1998): Sie verbindet nicht nur Imagination und Traum, sondern auch das Rituelle, das immerwährende Wiederholen bestimmter Elemente. Wiederholung – noch so ein Verfahren, das Sciarrinos Arbeiten wie ein roter Faden durchzieht.

Die Wiederholungsform ist bei „La porta della legge“ (2009) schon im Untertitel angelegt: „Quasi un monologo circolare“. Dieser „kreisförmige Monolog“ basiert auf der Erzählung „Vor dem Gesetz“ von Franz Kafka. Sciarrino illustriert hier die fatale Wirkung von Macht und Gehorsam: Immer wieder versucht ein Mann, durch eine Tür zum „Gesetz“ zu kommen, doch der Türhüter verbietet es ihm. Lähmung und Stillstand drücken sich in der dramaturgischen Anlage aus, denn Sciarrino lässt den kompletten Ablauf wiederholen. Aber – wie stets in seiner Musik – mit minimalen Bearbeitungen.

Distanz zur Realität

Sciarrinos letzte Oper „Superflumina“ wurde 2011 in Mannheim uraufgeführt. Wie in vielen seiner Opern steht eine Frau im Mittelpunkt, eine Obdachlose, von der Gesellschaft verstoßen. Superflumina ist sozialkritisch, aber nicht auf die realistische Art eines Kurt Weill, sondern erst durch die Fiktionalität des Bühnengeschehens. Mit der Bühne will Sciarrino Distanz zur Realität gewinnen, anders wäre sie nicht zu diskutieren, meint er. Einige bekannte Verfahren begegnen uns hier wieder. Der Bahnhof wird selbst zum Protagonisten: Das Orchester ahmt dezent die Hektik des Betriebes nach und entfaltet mit seinen Klängen eine räumliche Tiefe. Lautsprecherdurchsagen unterbrechen den Gesang der Obdachlosen. Und Traditionsbezug auch hier: „Super flumina Babylonis“ sind die Anfangsworte des 137. Psalms, die Musik bezieht sich auf Palestrinas gleichnamige Motette.
Worin liegt also Sciarrinos Erfolg begründet? Seine Musik wirkt unmittelbar, ohne dass sich der Hörer vorher mit ihr auseinander gesetzt haben muss. Indem Sciarrino direkt auf das Hörerleben abzielt, sind die Kenntnis musikalischer Diskurse oder Zitate obsolet geworden, selbst wenn der kundige Hörer auch hier gefordert ist. Sciarrinos Musik fasziniert, ohne dass man sie erklären müsste, und sie erstaunt, je mehr man über sie erfährt.

Jelena Rothermel

 

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