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Chorsänger und Solisten in einem
Gerhard Schmidt-Gaden und der Tölzer Knabenchor · Von Wolf-Dieter Peter
Das ganz große Scheinwerferlicht kam am Festspielabend des 26. Juli 1964: Nationaltheater München, Neuinszenierung der „Zauberflöte“ mit Anneliese Rothenberger, Erika Köth, Fritz Wunderlich, Hermann Prey – und erstmals stand auf dem Programmzettel „Drei Knaben – Solisten des Tölzer Knabenchors“. Es war der Beginn einer Chor-Weltkarriere, denn es folgten Einladungen in bis heute über 2.000 Inszenierungen, zu Festspielen, an nahezu alle Opernhäuser weltweit, und neben der „Zauberflöte“ auch: Amor in Monteverdis „Orfeo“, Hirtenknabe in „Tannhäuser“, Yniold in „Pelléas“, Miles in Brittens „Turn of the Screw“, Young Joseph in Zenders „Chief Joseph“ und etliche andere Rollen bis hin zu den 18 Knaben-Solisten in Jörg Widmanns „Gesicht im Spiegel“. Halb erfüllt, halb unerfüllt ist der Auftritt eines „Tölzers“ als Waldvogel in Wagners „Siegfried“: In Amsterdams „Ring“ hat es geklappt, doch der mit Wolfgang Wagner besprochene Plan für die „benachbarten“ Bayreuther Festspiele konnte bislang nicht realisiert werden. Neben all dem steht dann noch ein riesiges, künstlerisch erfülltes Konzertrepertoire.
Wurzeln bei den Pfadfindern
Konzentriert bei der Sache: Die „Tölzer“. Foto: Jan Roeder
Angefangen hat all dies in der 1950er-Jahren. Der junge Gerhard Schmidt-Gaden kam nach dem Krieg als Sudetendeutscher nach München, dann nach Bad Tölz. Im halb-musischen Elternhaus lernte er Klavier und sang gern – bei einer Abiturfeier als zwölfjähriger Sopran die Arie der „Königin der Nacht“. Gleichzeitig sollte die Jugend „umerzogen“ werden, weshalb die Amerikaner in ihrer Besatzungszone Bayern die Pfadfinder-Bewegung etablierten und förderten. 1956, nach seinem eigenen Abitur, wurde Schmidt-Gaden gefragt, ob er nicht die Tölzer Pfadfinder-Gruppe musikalisch und gesanglich betreuen wolle. Er begann mit zehn Jungen und holte die Tenor- und Bassstimmen unter seinen Abiturfreunden dazu. Der Redakteur des „Tölzer Kurier“ wies dann auf eine Tagung von 300 Chorleitern in Schloss Reichersbeuern hin und forderte den jungen Gerhard und seine Sänger zu einem Begrüßungsständchen auf. Der Leiter der Tagung stellte nach dem Ständchen fest: „Sie haben Talent. Wenn Sie wollen, kommen Sie zu mir nach Leipzig. Sie können bei mir studieren. Ich habe ein Stipendium von Herrn Ulbricht für Sie.“ Es war Kurt Thomas, der Thomaskantor in Leipzig, damit gewissermaßen direkter Nachfolger von Johann Sebastian Bach. Der junge Gerhard fuhr daraufhin – mitten in der sich verhärtenden Abgrenzung „BRD – DDR“ – Woche für Woche nach Leipzig und stellte in der Rückschau fest: „Ich habe zugeschaut, enorm gelernt und war auch bei den Plattenaufnahmen, die Thomas gemacht hat, wie dem ‚Weihnachtsoratorium‘, der ‚Matthäuspassion‘ mit Hermann Prey und Dietrich Fischer-Dieskau als jungem, 25-jährigem Sänger mit dabei.“ Es sang der rund 90 Sänger umfassende Thomaner-Chor – was Schmidt-Gaden nachdenken ließ. Auf den Rat von Thomas ging er ins Stadtarchiv, und dabei kam heraus, dass Bach drei Sänger pro Stimmfach hatte. Und von diesen drei Sängern sang dann auch noch einer zusätzlich alle Arien, auch die Frauenstimmen, wie zum Beispiel in der „Matthäus-“ und in der „Johannespassion“ – getreu dem auch bei den Protestanten gepflegten Kirchengrundsatz „mulier tacet in ecclesia“. Den damaligen Kampf Johann Sebastian Bachs um einen vierten Sänger griff Schmidt-Gaden nun auf: Seine ab 1959 in „Tölzer Knabenchor“ umbe-nannte Vereinigung hat seither pro Stimmlage vier Sänger, jeder davon wird vier Jahre lang zum Solisten ausgebildet. Parallel setzte er durch, dass diese seine Solisten bei Konzert- wie Opernauftritten dann auch wie Solisten bezahlt wurden. Davon bekommen die Buben – nach rechtlichen Schwierigkeiten wegen „Arbeitsvermittlung“, vor allem aber nach breiter Zustimmung der Eltern – ein Taschengeld, der Rest geht in den Etat des Chores. Der bekommt derzeit von der Stadt Bad Tölz und dem Freistaat Bayern jeweils einen Zuschuss, der aber nur etwa zehn Prozent des Jahresetats ausmacht: Der Rest muss „weltweit ersungen“ werden. Über einen potenten Langzeit-Förderer würde sich der Chor freuen.
Das erste Konzert des „Tölzer Singkreises“ am 14. Juli 1956 in der Wandelhalle der Jod AG in Bad Tölz. Foto: Archiv TKC
Denn inzwischen besitzt der in München beheimatete Chor doch eine aufwändige Musikschulen-Struktur: Rund 200 Knaben durchlaufen in den Jahren die Ausbildungs- und auch künstlerische Stufenleiter von Chor IV bis Chor I, hin zu den genannten Solistenauftritten, betreut von acht Gesangslehrern. Sie wohnen zuhause, besuchen ihre jeweiligen Schulen und kommen nachmittags zum Unterricht – was für viele zeitraubende Anfahrten bedeutet. Schmidt-Gaden: „Das entlas-tet uns aber auch von der ‚Missbrauchs-Problematik‘ wie bei Chor-Internaten…“ Bei auswärtigen Auftritten von mehr als drei Tagen reist zusätzlich ein Lehrer mit. Den möglichen Spott – „Lernst du auch Stricken?“ – bis hin zu „Mobbing in der Schule“ bekämpft Schmidt-Gaden mit einer lange erprobten Gegenwehr: „Mein Sänger stellt sich vor die Spötter, sagt ‚Hundert Euro, wer’s nachmachen kann‘, und singt ihnen dann Ton für Ton zwei Oktaven rauf und runter auf einem Atem vor – dann ist meist Ruhe, weil die Mitschüler erkennen, dass er mehr kann als ihre Pop-Idole.“
Prominente Partner
Das erkannte vor langen Jahren auch ein echter Kenner. Schmidt-Gaden: „Kennengelernt haben wir uns bei den Orgeltagen in der Nürnberger Frauenkirche, wo wir Benjamin Britten und Johann Sebastian Bach gesungen haben. Nach dem Konzert kam ein Herr zu mir und meinte: ‚Ich muss Ihnen gratulieren! Jetzt haben wir wieder einen neuen, sehr guten Knabenchor in Europa. Mein Name ist Harnoncourt, ich möchte Sie einladen zu meiner Produktion ‚Das Alte Werk‘ mit der Teldec, bei der wir die gesamten 214 Bachkantaten einspielen.‘ Das haben wir dann gemacht, auch zusammen mit Gustav Leonhardt. Das war eine herrliche Zeit: Zehn Jahre lang waren wir jedes Jahr für zwei Wochen in Wien oder in Amsterdam bei den Aufnahmen. Das war eine unserer schönsten Zeiten.“
Probenimpression mit Gerhard Schmidt-Gaden. Foto: Michael Schilhansl
Ein anderer Kenner sagte dann bei einem Konzert der Münchner „musica viva“ wohl eher „Schee habt’s g’sunga!“. Schmidt-Gaden: „Das war Carl Orff. Er meinte: ‚Das ist der Klang, den ich für mein Schulwerk brauche! Wir wollen das im Bayerischen Rundfunk machen.‘ Damit waren wir dann auch jahrelang beschäftigt.“ Schmidt-Gaden bekennt auch ganz offen, dass er von Orff „das Meiste“ gelernt habe, ja das Zentrale: „Von meinem Studium her war ich es gewohnt, alles genau einzustudieren, jede Intonation musste stimmen, es durfte kein rhythmisches Wackeln geben, die Aussprache musste stimmen et cetera. Es musste alles perfekt sein. Das haben wir auch so einstudiert und das Ganze dann Orff vorgesungen. Hinterher sagte er zu mir: ‚Ja, mein lieber Schmidt-Gaden, das haben Sie schön gemacht. Aber jetzt, wo die Noten stimmen, jetzt fängt erst die Musik an!‘ Das wurde zu meinem Lebensmotto und ich muss sagen, ich bin gut damit gefahren.“ Dazu gehört auch, dass er alle Chor-Lehrer dazu verpflichtet hat, in den Proben nicht nur theoretisch zu verbessern oder am Klavier vorzuspielen, sondern selbst vorzusingen: „Ich kann heute noch als 76-Jähriger ein hohes A singen.“ In all diesen Jahren, neben Auftritten mit „Abbado über Bernstein, Karajan bis Solti“ hat sich Schmidt-Gaden auch zwei große Wünsche erfüllt: Konzerte im Wiener Musikverein und dann auch im Petersdom vor Papst Benedikt XVI.: „Einen Tag vor der Privataudienz haben wir noch einen alten Komponisten des Petersdoms, nämlich Orazio Benevoli, neu einstudiert und aufgeführt, und zwar mit vier Chören an den Originalstellen im Petersdom… so etwas wie ‚Surround-Sound‘ und wir haben das auch so aufgenommen.“
So ist ihm auch um die Zukunft nicht bang: Er hat die Leitung an Ralf Ludewig übergeben und seinen Chor damit den Händen eines ehemaligen Tölzer Solisten anvertraut. Derzeit melden sich meist über 100 Aspiranten an, von denen etwa 50, je nach Schwankung der Zahl der „Stimmbrüchler“, neu aufgenommen werden.
Wolf-Dieter Peter |