Zur Startseite


 

 
Zur Startseite von Oper & Tanz
Aktuelles Heft
Archiv & Suche
Stellenmarkt
Oper & Tanz abonnieren
Ihr Kontakt zu Oper und Tanz
Kontakt aufnehmen
Impressum
Datenschutzerklärung

Website der VdO


Kulturpolitik

Wer will das eigentlich sehen?

Das Musikmagazin „taktlos“ zum Thema „Opernregie“

„Tannhäuser“ in der Biogas-Anlage, „Don Giovanni“ als Echtzeit-Thriller, Tenöre und Sopranistinnen, die im Kopfstand singen sollen, der Opernchor nackt an der Rampe: Wie weit kann, darf, soll Opernregie gehen im Bemühen das Genre publikumswirksam und/oder neudeutend aufzupolieren? Was ist den Interpreten, den Komponisten, den Librettisten noch zumutbar? Das waren die Fragen, denen sich die Gäs-te des Musikmagazins „taktlos“ stellten, einer Sendung des Bayerischen Rundfunks (BR Klassik) und der „neuen musikzeitung“. Moderiert von Theo Geißler und Marlen Reichert diskutierten Gerrit-Michael Wedel, Stellvertretender Geschäftsführer der VdO, Beate Kayser, Feuilletonchefin der tz München, und Regisseur Florian-Malte Leibrecht, Theaterakademie der Musikhochschule Hamburg. Zwischenzeitlich zugeschaltet war der Bassbariton Hanno Müller-Brachmann. „Oper & Tanz“ druckt einen gekürzten Mitschnitt der Sendung ab.

Lebhafte Runde im Studio des Bayerischen Rundfunks. V.li.n.re.: Gerrit-Michael Wedel, Marlen Reichert, Theo Geißler, Beate Kayser, Florian-Malte Leibrecht. Alle Fotos: Martin Hufner

Lebhafte Runde im Studio des Bayerischen Rundfunks. V.li.n.re.: Gerrit-Michael Wedel, Marlen Reichert, Theo Geißler, Beate Kayser, Florian-Malte Leibrecht. Alle Fotos: Martin Hufner

Reichert: Frustrierte Sänger müssen ihren Kopf hinhalten für Inszenierungen, zu denen sie nicht stehen können, und das frustrierte Publikum bleibt einfach aus, weil ihm die krampfhaften Deutungsversuche profilierungssüchtiger Regisseusen und Regisseure schlicht auf die Nerven gehen… Florian-Malte Leibrecht ist Professor für Musiktheaterregie an der HfMT Hamburg und hat selbst an renommierten Theatern inszeniert. Herr Leibrecht, sind Sie schon einmal verrissen worden?

Leibrecht: Natürlich, das gehört dazu. In jeder Künstlerlaufbahn muss man hin und wieder mal einen aufs Dach kriegen, damit genau das nicht passiert, worüber wir heute reden.

Reichert: Aber es ärgert einen dann schon?

Leibrecht: Ja, wenn die Kritik bodenlos ist.

Reichert: Aber man zieht auch etwas daraus?

Leibrecht: Ich denke schon, man ist gut beraten, wenn man die Macken, die man eingebaut hat, beim nächsten Mal sein lässt.

Reichert: Was vermitteln Sie den Studenten als oberstes Gebot?

Leibrecht: Erstmal das Stück ordentlich zu lesen, die Musik zu studieren, und ohne viel Analyse umzusetzen. Erstmal bei der Handlung bleiben, so, wie sie vorgegeben ist.

Geißler: Unser zweiter Gast ist nicht nur den bayerischen Feuilletonlesern bekannt. Beate Kayser, gehen Sie eigentlich noch gerne in die Oper?

Kayser: Und wie, es ist mein täglich Brot.

Geißler: Wann haben Sie die letzte wirklich gelungene Inszenierung gesehen?

Kayser: In Amsterdam, den „Eugen Onegin“, den Herheim gemacht hat und den der wunderbare Mariss Jansons dirigiert hat.

Geißler: Ist man als Kritiker vielleicht ein bisschen professionell deformiert und deswegen besonders milde, wenn man eine Kritik schreibt, weil man schon so viel gehört und gesehen hat, oder ist man besonders spitz?

Kayser: Für mich gilt: Ich muss da sitzen wie am ersten Tag und ich bin immer Publikum. Nie möchte ich anders ins Theater gehen denn als Publikum. Vielleicht bin ich etwas besser informiert.

Reichert: Gerrit-Michael Wedel ist gelernter Jurist und seit 2010 Stellvertretender Geschäftsführer der VdO. Außerdem gehört er seit 18 Jahren zum Statistenstamm der Deutschen Oper Berlin. Sind Sie als Statist schon einmal an Ihre Grenzen gestoßen oder gestoßen worden?

Gerrit-Michael Wedel

Gerrit-Michael Wedel.

Wedel: Die Statisten sind in der Regel das letzte Glied der Künstler in den Theaterhäusern und lassen sich daher am besten knechten. Ich denke, ich bin selbst nicht an meine Grenzen gestoßen. Was ich nicht gemacht habe, ist komplett nackt aufzutreten.

Reichert: Und das wurde auch so akzeptiert?!

Wedel: Das wurde so akzeptiert.

Reichert: Gibt es hin und wieder Inszenierungen, bei denen Ihnen schon im Vorfeld bewusst ist: Das wird nichts?

Wedel: Das ist ganz schwer zu sagen, da es so viele unterschiedliche Regiestile gibt. Manche Leute kommen mit einem kompletten Plan und setzen den um. Das ist ein unglaubliches Handwerk, das ich sehr bewundernswert finde. Es gibt aber genauso diejenigen, die ankommen und dann einfach mal anfangen. Das ist immer relativ schwierig, gerade, wenn man mit Kollektiven arbeitet. Wenn Kollektive tatenlos herumsitzen, werden sie unruhig, unzufrieden und wenn sie nicht mehr wissen, warum sie etwas machen, dann geht die Spiellaune verloren. Allerdings habe ich auch schon diese „planlosen“ Regisseure erlebt, bei denen am Ende etwas ganz Besonderes herauskam.

Kommunikation und Tarifvertrag

Reichert: Sie sind einer der Geschäftsführer der Vereinigung deutscher Opernchöre und Bühnentänzer, ich nehme an, dass bei Ihnen einige Beschwerden einlaufen. Sind diese größtenteils berechtigt?

Wedel: Größtenteils sind sie durchaus berechtigt. Ganz entscheidend ist die Kommunikation, auch wenn der Regisseur vielleicht einmal etwas ausprobieren möchte. Es ist wichtig, den Leuten zu erklären, warum sie etwas machen sollen. Wenn das fehlt oder die Anforderungen überzogen werden, bitten die Leute uns um Rat. Irgendwann sind dann die Grenzen erreicht. Es gibt ja Persönlichkeitsrechte, es gibt Tarifverträge, die eingehalten werden müssen, und Mitwirkungsverpflichtungen, die definiert sind. Insofern kann man sagen, dass die meisten Beschwerden tatsächlich berechtigt sind. In anderen Fällen muss man aber vielleicht auch ein bisschen ausgleichen und sehen, dass man wieder auf den Boden der Tatsachen zurückkommt.
Reichert: Hanno Müller-Brachmann ist Sänger an der Staatsoper Berlin. Welche Erfahrungen haben Sie mit Regisseuren?

Brachmann: Ich bin Bassbariton und seit 20 Jahren auf der Bühne. Ich habe kürzlich von einer Kollegin gehört, dass ein Regisseur – immerhin Intendant eines Hauses – befunden hat, Zwischenspiele streichen zu wollen, denn da passiere ja nichts und er konnte damit inszenatorisch nichts anfangen. Ich würde mir wünschen, dass Opernregisseure mehr Respekt vor dem Werk haben, das sie zur Aufführung bringen. Sie können die Geschichte, die sie aufführen, durchaus neu erzählen, aber sie sollte erkennbar bleiben. Ich denke, dass die Optik heutzutage immer mehr Macht über die Musik bekommt und mit der Optik die Regie und die Inszenierung.

Geißler: Frau Kayser, was sagen Sie zu der Kritik des Sängerkollegen am System?

Beate Kayser

Beate Kayser

Kayser: Natürlich gibt es grauenerregende Inszenierungen, die ich genauso schrecklich finde und nach Strich und Faden verreiße, aber es gibt auch wunderbare Aufführungen. Es kommt eben darauf an, dass man das Werk kennt und den Respekt davor nicht verliert. Aber wenn es klappt, ist die Oper immer noch das Schönste, Beste und Umfassendste, was es gibt.

Leibrecht: Das Wichtigste an der Oper für den Zuschauer ist die sinnliche Wahrnehmung. Ein Zuschauer geht in eine Oper, nicht, um intellektuell gesteuert zu werden, sondern um an seine Sinne zu kommen.

Kayser: Denken darf er auch.

Leibrecht: Ja, aber ich finde, es ist wesentlich wichtiger, dass wir als Regisseure mit den Sängern, dem Orchester und dem Dirigenten die Gefühle des Publikums erreichen. Politik, intellektuelles Gefasel, zu tiefe Psychoanalyse gehören nicht in die Oper.

Wedel: Ich kann dem nur zustimmen. Die Oper ist ein Medium, das viel mehr bedient als „nur“ Schauspiel. Aber man muss auch die Entwicklungen der Opernregie sehen, die nicht zuletzt dem Schauspiel geschuldet sind. Oper entführt den Rezipienten durch die Musik, durch das Bild, durch die Schauspielerei und fängt Gefühle ein.

Bayreuther Erfahrungen

Geißler: Also bitte! Ich erwarte einen „Parsifal“ in Bayreuth, sehe dann ein paar Hasen über die Bühne hoppeln und ein paar schöne Projektionen, und bin dann wirklich weit weg davon, mich von den Sängern noch einfangen zu lassen.

Wedel: Sie haben „Parsifal“ aber gar nicht gesehen, oder? Gerade „Parsifal“ in Bayreuth ist ein Beispiel für eine unglaublich gelungene Kombination.

Florian-Malte Leibrecht

Florian-Malte Leibrecht

Leibrecht: Das Wichtigste ist der Geschmack. Ich finde beide „Parsifal“-Inszenierungen völlig daneben, obwohl eine von Stefan Herheim stammt, der mein großer Schüler ist. Dieser „Parsifal“ ist katastrophal, weil ich fünf Stunden in Bayreuth gesessen und nicht gewusst habe, was er will, und ich nicht in die Gefühle gekommen bin.

Wedel: Dann hat das bei Ihnen wohl ausnahmsweise nicht geklappt, dass Ihre Gefühle entführt werden konnten.

Leibrecht: Nein, ich wünsche mir vom Regisseur, dass er mir die Musik transparent macht, ich möchte im dritten Akt von „Tris-tan und Isolde“, wenn das e-moll-Thema kommt, Tränen in die Augen bekommen, bis zum Schluss, bis zum großen Liebestod. Dann hat der Regisseur mich erreicht. Wenn ich danach immer noch sitze, muss ich mich fragen, was der Regisseur eigentlich wollte…

Wedel: Es fragt sich dabei natürlich immer, wer der Maßstab ist.

Geißler: Nun drehen wir den Spieß aber einfach mal herum. Wenn ich an den „Ring“ etwa Mitte der 1970er denke, der so etwas wie eine Revolution ausgelöst hat im hohen Bayreuth, der ein hochpsychologisch durchstrukturierter, hochpolitischer „Ring“ war und auf den wenig Besseres folgte. Das widerspricht doch ein bisschen Ihrer These, Herr Leibrecht, dass, im Grunde genommen, alles zu Herzen gehen muss.

Leibrecht: Nein, dem widerspricht es nicht. Gut, dass wir auf den Jahrhundertring zu sprechen kommen. Das ist ein absolutes Phänomen. Mit allen Sängern, die in diesem „Ring“ waren, habe ich gearbeitet und mir haben alle das Gleiche gesagt. Es sei in der ersten Saison eine Katastrophe gewesen, Chéreau hat aus dem Reclam-Heftchen inszeniert, die Musik nicht gekannt, die Sängerinnen haben bis zuletzt in der „Götterdämmerung“ nicht gewusst, wie sie die Szene umsetzen sollen.

Wedel: Wahrscheinlich ist er deshalb so gut geworden.

Leibrecht: Ich kann Ihnen sagen, warum er so gut geworden ist. Ich glaube Chéreau hat – und das ist das Wichtigste, was ein Regisseur können muss – Interaktionen zu den Künstlern aufgebaut. Das heißt: Er muss sie führen und nicht Geschichten erzählen oder eine neue Werkanalyse bringen. Chéreau konnte damals das ganze Personal auf der Bühne herumschieben und sie haben alles selbst gemacht.

Wedel: Ich denke, der große Erfolg des Chéreau-„Rings“ war es damals schon, dass jemand neue und unkonventionelle Wege gegangen ist und im Grunde mit den Traditionen gebrochen hat, die vorher auch in Bayreuth präsent waren. Was mich interessieren würde: Wenn diese Inszenierung heute nochmal herauskommen würde, wie würden da die Kritiker reagieren?

Kayser: Das geht nicht mehr.

Geißler: Wir haben doch heute auch Filmregisseure, die ahnungslos – was Musik betrifft – in Opernhäuser gehen und denken, sie könnten ihre fette Show abziehen.

Leibrecht: Schamlos.

Zeitgenössische Oper

Geißler: Hüpfen wir mal raus aus dem Repertoire und schauen ein bisschen in die zeitgenössische Opernszene. Da sollte man meinen, dass die Komponisten und die Librettisten des Genres entsprechend innovativ arbeiten. Ich habe mich schon zu Tode gelangweilt – das sage ich ganz ehrlich – bei verschiedenen höchst renommierten zeitgenössischen Musiktheaterstücken. Wie geht es einem Regisseur, wenn er sich einem solchen Stück annähert und dieses einem Pub-likum – das meistens immer noch konservativ ist – darbieten soll?

Leibrecht: Naja, da kann man natürlich ganz böse sein. Bei modernen Stücken, die das Pub-likum nicht kennt, kann der Regisseur „die Sau rauslassen“. Da gibt es ja noch keinen Maßstab. Umso wichtiger ist es bei neuen Stücken, ganz sauber nachzuerzählen.

Wedel: Die zeitgenössische Musik passt ja oftmals nicht in die klassischen Schemata. Ist das zum Beispiel noch ein Chorgesang, wenn man 30 verschiedene Stimmen hat, die alle unterschiedlich singen? Natürlich müssen wir uns auch an das Neue anpassen. Wir werden sehen, was davon Erfolg hat und was nicht. Das Theater ist immer auch Weiterentwicklung, Experimentierbühne, und der muss man auch den notwendigen Raum geben.

Kayser: Die Leute regen sich ja zunächst einmal über das Bühnenbild auf. Sie wollen nicht sehen, was sie zu sehen kriegen. Und ich meine: manchmal zu Recht. Wir hatten jetzt eine Epoche in der Bayerischen Staatsoper, da ging keine Aufführung ohne Kühlschrank, ohne Krankenschwestern ab. Das war nicht so wahnsinnig zielführend. Aber so etwas kann auch gut gehen. Ich habe zum Beispiel den „Don Giovanni“ von Claus Guth in Salzburg gesehen, der ziemlich angegriffen wurde. Da kam im Wald ein Auto vor, und man kann fragen: Was soll das? Bei da Ponte gibt es kein Auto. Das ist aber kein Argument. Es hat zu einer der berührendsten Szenen geführt, die ich je gesehen habe. Es gibt also ganz moderne Umsetzungen, die absolut zum Kern führen. Deswegen zu sagen: „Mach das alt oder neu“, ist so töricht wie nichts anderes.

Leibrecht: Das Wichtigste ist – und dann wird Oper immer gut – wenn ein Opernregisseur sein Handwerk beherrscht. Ein Filmregisseur zum Beispiel kann mit einem Opernsänger nicht arbeiten, weil er gar nicht weiß, wie dieser funktioniert. Regie ist im besten Sinne Unterstützung für den Sänger. Durch gute Regieführung kriegen Sänger wunderbar ihre Farbe. Das muss man aber lernen, das ist ein Handwerk.

Wedel: Aber auch Filmregisseure können bestimmt noch lernen.

Leibrecht: Ja, aber ein Filmregisseur führt anders. Da ist auch eine andere Körpersprache.

Reichert: Schauen wir uns vielleicht mal die Seite der Akteure an. Herr Leibrecht, Sie möchten die Sängerinnen und Sänger „aufbrechen“. Was heißt das?

Leibrecht: Aufbrechen ist ein böses Wort. Ich möchte die unbewussten Vorgänge in einem Sänger offenlegen. Während er eine Partie einstudiert, sagt er viel Unterbewusstes. Mein großes Bestreben ist es, das aufzubrechen, in Bereiche zu kommen, die man sonst gar nicht erreicht. Das ist immer ein großes Geschenk für einen Regisseur, denn da muss er nicht mehr viel arbeiten, da läuft die Szene dann.

Wedel: Aber das ist auch eine große Gefahr für die Darsteller, oder? Es ist ja eigentlich eine Technik, die aus dem Schauspiel kommt. Für jemanden, der womöglich nicht den klassischen Schauspielweg gelernt hat und mehr aus dem reinen Gesang kommt und damit derart konfrontiert wird, ist es ja eine Gratwanderung, auch die Psyche anzugreifen.

Leibrecht: Das sehe ich anders. Ich bin kein Psychologe, aber ich finde, das ist mit Abstand das Interessanteste und Wichtigste: nicht nur in ein Stück, eine Handlung und eine Geschichte, sondern in diesen Interaktionsprozess mit den Sängern einzutauchen. Der ist doch nur interessant, wenn da auch bei mir Sachen ins Rollen kommen, wenn mir Sachen angeboten werden, an die ich vorher gar nicht gedacht habe. Das ist phänomenal.

Wedel: Ich stimme grundsätzlich zu, ich frage nur nach den Risiken.

Leibrecht: Sänger müssen – das stimmt – von Hause aus stabil sein, das ist keine Frage.

Grenzen des Zumutbaren

Reichert: Und inwieweit wird dann Rücksicht auf Schamgrenzen genommen?

Leibrecht: Das ist eine Frage, die sich für mich nicht stellt, weil ich in dem Moment, in dem ich spüre, dass ein Sänger sich verschließt, die Sache beende. Es klingt alles so, als ob wir Regisseure böse wären und als ob wir unsere Sänger quälen würden. Meine beiden großen Lehrmeister, Harry Kupfer und Jean-Pierre Ponnelle: Was denken Sie, wie die mit den Sängern umgegangen sind?! Da habe ich mir als Regieassistent geschworen, so niemals mit den Leuten umzugehen.

Wedel: Man kann sicherlich auch die These vertreten, dass einige Sänger das herausfordern und geradezu wollen. Es ist selbstverständlich eine Balance, was man mit den Menschen macht, was man verlangen kann. Wir haben zum Beispiel häufig die Anfragen, inwieweit ein Chor verpflichtet ist, sich auszuziehen. Ich werde gerne gefragt: Der Regisseur will, dass wir hier nackt auftreten. Aus unserer Sicht ist für den Chor da die Grenze erreicht. Es gibt die Maßgabe: Es muss eine „züchtige“ Unterwäsche sein. Aber es stellt sich natürlich die Frage: Wer will das eigentlich sehen?

Leibrecht: Genau!

Opernregie heute: Für Trolle

Einspielung: Ein Beitrag von Martin Hufner zum Thema „Opernregie“

Die Oper ist längst nicht mehr das Kraftwerk der Gefühle, wie Alexander Kluge sie einmal bezeichnete. Die Oper heute ist die „Bild“-Zeitung für das dahinsterbende Bürgertum. Sex and crime sells, weiß schon jedes Kind. In der Oper bekommt der Zuschauer geboten, was ihm seine kleine, häuslich heile Welt vorenthält. Action, Provokation, Aufregerei, Gags und Show. Viel „Geschwurbel“ statt Gefühle. Um all das zu erleben, könnte das Publikum gewiss auch ins Kino gehen, doch ist beim Film die Musik oftmals leider viel zu schlecht. Aufsehenerregend, Aufmerksamkeit mit Gewalt erheischend sollte Oper heute schon sein. Sonst macht ja auch die öffentliche Kritik nicht mit. Der fällt es leichter, sich mit mehr oder weniger fragwürdigen Inszenierungen zu beschäftigen, als mit der Substanz der Oper selbst: dem Stoff, der Musik. Die gelten schließlich als gegessen. Zahlreiche Opernführer künden davon. Aufmerksamkeit ist im Kulturleben die einzig geltende Währung. Deshalb steigen mit jedem inszenatorischen Skandalon das Renommee und der Wert des Opernregisseurs. Wenn der Skandal im Kanon gewöhnlicher Verstöße verbleibt, versteht sich die gesamte Opernwelt wie von selbst. Man darf es nur nicht wagen, das Werk selbst ernst zu nehmen. Das wird einem wirklich verübelt - und zwar von allen Seiten, außer von den Sängern und Tänzern. Aber was zählen die denn schon? Opernregie hin, Opernregie her. Haben Sie schon mal gehört, dass in Opernvorführungen für Kinder derartige inszenatorische Sonderbarkeiten zu sehen gewesen wären? Sind die Kinder und Jugendlichen es nicht wert, bis an den angeblichen Kern der Operngeschichten vorzudringen, oder dürfen sie die Wahrheit nicht kennen, wissen, erfahren? Vielleicht riechen die den Braten aber nur besser und lassen sich nicht auf‘s Glatteis führen. Aus Computerspielen, Horrorfilmen und der Tagesschau sind sie Regelverletzungen ohnehin über die Maßen gewohnt. Opernregie heute: eher was für Trolle.

Info und nachhören: taktlos 156

 

startseite aktuelle ausgabe archiv/suche abo-service kontakt zurück top

© by Oper & Tanz 2000 ff. webgestaltung: ConBrio Verlagsgesellschaft & Martin Hufner