Unter dieser neu eingeführten Rubrik bietet „Oper & Tanz“ ein
Forum, in dem interessierte Leser Gedanken zu aktuellen Themen äußern
können. Gerne fordern wir Sie auf, dem Beispiel Ihres Kollegen
zu folgen und eigene Meinungen, Stellungnahmen oder Kommentare
zur Diskussion zu stellen. Beiträge, die in diesem Rahmen
veröffentlicht werden, geben in erster Linie die Meinung des
Verfassers und nicht unbedingt die Meinung der VdO, der Herausgeber
und der Redaktion wieder. Die hier veröffentlichten Artikel
stellen wir auch im internen Bereich von www.vdoper.de zur Diskussion.
Wir behalten uns vor, Ihre Beiträge zu kürzen.
Ein freier Abend pro Woche ist zu wenig Gedanken des VdO-Mitglieds Sebastian Bollacher
„Keine Ruh bei Tag und Nacht…“ singt zwar Leporello,
der wahrscheinlich in den nächsten zwei Premieren nicht besetzt
ist und nach einer langen Partie auch mal eine Ruhepause einlegen
darf, aber eigentlich ist es das Klagelied eines gemeinen Chorsängers,
der eben auch in den folgenden beiden Stücken mitwirken muss
und am nächsten Tag zwei Dienste hat und am übernächsten
und so weiter… Im Folgenden möchte ich einige Überlegungen zu unserem
Beruf anstellen, um damit hier, in „unserer Zeitung“,
oder auf anderen Wegen der Vernetzung eine Diskussion anzuregen,
die auf eine Verbesserung unseres Tarifvertrages hinzielt, zumindest
aber unseren Vertretern bei den Verhandlungen mit dem Tarifpartner
eine Richtung vorgibt.
Warum kommen eigentlich in „unserer VdO-Zeitung“ so
wenige, beziehungsweise gar keine Chorkollegen zu Wort? Haben wir
keine Stimme? Zeigt sich hier etwas von unserem eigenen Selbstverständnis?
Es ist höchste Zeit, daran etwas zu ändern und unser
Image und Selbstbild aufzupolieren. Ich möchte daher dringend
erforderliche Verbesserungen anregen.
Als gravierendstes Problem in unserem Beruf sehe ich die Arbeitszeiten
und die daraus entstehenden Belastungen. Zehn oder gar elf Dienste
in einer Woche – und damit nur ein freier Abend – sind
definitiv zuviel! Die uns zustehenden 1,5 freien Tage in der Woche
reichen erfahrungsgemäß nicht aus, um genügend
Erholung vom Dienstalltag zu finden, und somit auch nicht, um eine
sich stetig steigernde Müdigkeit und erhöhte Krankheitsanfälligkeit
zu verhindern. Geteilte Dienste mit doppelten Anfahrten und biorhythmisch
ungünstig eingeteilter Leistungskurve sind etwas anderes als
ein „normaler“ Arbeitstag. Man sollte einmal von professioneller
Seite untersuchen, was diese Art der Diensteinteilung für
physische und psychische Folgen hat.
Man muss sich einmal ausrechnen, wann und wie oft ein Chormitglied
einen Lebenspartner sehen kann, der zu üblichen Bürozeiten
arbeitet. Die kurzen Phasen des Miteinanders erschweren das Familienleben
und die Aufrechterhaltung aller sozialen Strukturen, besonders
wenn dazu noch Verantwortung für Kinder kommt. Die Belastungen
treffen nicht nur die im Theater Beschäftigten sondern auch
deren Angehörige. In allen Opern und Mythen wird seit Urzeiten von den katastrophalen
Folgen erzählt, die entstehen, wenn Menschen aus ihrer sozialen
Balance geworfen werden. Regisseure, Dramaturgen und Intendanten
müssen lernen, dass dies auch im wirklichen Leben gilt.
Ein weiteres wichtiges Thema, das es zu diskutieren gilt, sind
die Proben. Gleich dazu: Proben sind unerlässlich, wichtig
und schön, ein Theater ohne Proben ist nicht denkbar, wäre
Unsinn und könnte keinen künstlerischen Anspruch für
sich erheben. Aber: Probe ist nicht gleich Probe. Und Proben, die
nicht unter die oben genannte Kategorie fallen, sind allzu oft
ein Ärgernis.
Wir sind von Berufs wegen Kollektivtiere, aber das heißt
nicht, dass wir das auch a priori sein müssen. Wenn dieser
Aspekt unserer Arbeit überhandnimmt, geht Produktivität
verloren. Frust erwächst daraus, dass man bei der Arbeit,
im Kreativprozess, das Gefühl hat, nicht wirklich gemeint
und beteiligt zu sein, und dass unsere Zeit zu oft für bloße
Anwesenheit vergeudet wird. An anderer Stelle werden dafür
weitere Dienste angeordnet. Wer kennt nicht die langen halben Stunden,
in denen die Chorherde paralysiert und immer unaufmerksamer auf
der Probe steht, während ein Regisseur stammelnd versucht,
seine vagen Ideen in Worte zu fassen, oder in denen es ihm nicht
gelingt, auf den Punkt zu kommen.
Zu viel leeres Wiederholen sowohl bei szenischen als auch bei
musikalischen Proben führt zu Entfremdung und Distanz. Und welches Theater
lebte nicht und würde nicht getragen vom inneren Feuer der
Ausübenden? Routine und Überdruss sind hier kontraproduktiv.
Genau solche Momente werden aber allzu oft durch unsere Dienstpläne,
beziehungsweise deren Gestalter, und die dadurch erzeugte Dienstmentalität
kreiert.
Dem Übel könnte man durch Reformierung der Probenarbeit
den Stachel ziehen. Bei der Einstudierung mehrstimmiger Chorsätze
ergibt es sich häufig, dass viele Choristen mögliche „Kreativzeit“ ungenutzt
verstreichen lassen müssen, derweil ein kleiner Teil durch
die Stimme geführt wird. Auf meine jüngst gestellte Frage,
ob man nicht klugerweise erst einmal einzeln und in Ruhe zuhause über
den Noten sitzen sollte, ehe man dann gut vorbereitet zusammenkäme,
wurde uns vom eigenen Chordirektor die Kompetenz abgesprochen,
so etwas zu tun.
Darin drückt sich so vieles von dem aus, was uns das Leben
schwerer macht als nötig. Uns von Arbeitgeberseite für
unfähig zu erklären, mit Notentexten umzugehen?! Wir
sind keine musikalischen Analphabeten und haben alle ebenfalls
an Musikhochschulen studiert. Daher rührt es, dass man uns regelmäßig und tarifrechtlich
legitimiert (!) Dienstpläne vorlegt, die uns zehn- oder elfmal
in einer Woche anfordern. Das führt zu Proben, die nur um
der Proben willen gemacht werden, ohne daraus Gewinn zu ziehen,
man sitzt die Proben nur noch ab. Das rundet sich schnell zu einem
trüben Berufsbild: Leistung lohnt sich nicht, Aufstiegschancen
fehlen, man kann im Produktionsprozess keinerlei selbständigen
Entscheidungen treffen und leidet generell an einem Kreativitätsdefizit.
Das muss nicht sein. Wir müssen raus aus der chor- und theater-
typischen Denkweise: „Das war schon immer so.“ Weg
von dem Vorwand der besonderen Notwendigkeiten eines Theaterbetriebs.
Und weg von der Vorstellung, dass ein guter Chorsänger nur
den Mund aufmacht, wenn er einen Einsatz bekommt.
Traute man uns mehr Befähigung und Selbständigkeit zu,
könnte man leicht die Hälfte der Chorsaalproben einsparen
und durch flexible Eigenarbeit ersetzen. In allen modern geführten
Unternehmen hat man längst festgestellt, dass Flexibilisierung
und Individualisierung von Arbeitszeit Leistungsbereitschaft, Wohlgefühl
und Produktivität steigern. Warum sollte das am Theater anders
sein? Es geht hier nicht um Arbeitszeitverkürzung, sondern
um Qualitätsmanagement und Menschenumgang.
Das selbständige Erarbeiten und Auswendiglernen von Chorpartien
böte immense Vorteile:
- Mehr freie Abende
- Mehr Flexibilität und Eigenverantwortung (auch im Zeitmanagement)
- Intensivere
Auseinandersetzung mit den Noten und dem Text (mehr innerer Bezug
zur Partie)
- Intensivere Auseinandersetzung mit der eigenen Stimme
und dem eigenen Körper (stärkere Selbstwahrnehmung)
- Besseres „Im-Hals-haben“ der
Partie
Mehr Möglichkeiten sozialer Interaktion außerhalb
des Theaters
- Mehr Selbstwertgefühl (daraus folgt: mehr Einsatzbereitschaft)
- Weniger
Krankheiten
- Erhalt und Steigerung der Qualität
Die unmittelbaren Vorteile für das Theater bestünden
in motivierteren, ausgeruhteren und dadurch schlicht besseren Choristen.
Vielleicht ergäben sich dabei für den einzelnen Chorsänger
auch tatsächlich kürzere (oder zumindest so empfundene)
Arbeitszeiten, da jede selbst unternommene Probe auf die individuellen
Bedürfnisse ausgerichtet werden kann.
Natürlich muss der Chor zur kollektiven Probengestaltung auch
zusammenkommen. Hier bieten sich lernphasenbegleitende Korrepetitionsproben
an, die in unterschiedlicher Besetzung stattfinden können.
So stehen an erster Stelle natürlich Stimmgruppenproben (auch
mit nur Teilen der Gruppen) und später so qualitätsfördernde
und dienstlich entlastende Varianten wie zum Beispiel Quartett-
oder Oktettproben.
Die Regieseite und auch die Dirigenten könnten sich so über
besser studierte, vielseitiger einsetzbare und fittere Singdarsteller
freuen, die dank der oben aufgeführten Vorteile natürlich
auch die Regie- und Bühnenarbeit schneller, effektiver und
künstlerisch befriedigender werden lassen. Was wiederum zu
einer Entzerrung und Entlastung auf dienstlicher Seite führen
kann.
Ich schlage folgende Formulierung für den neuen Passus im
Tarifvertrag vor: „Dem einzelnen Chormitglied sind individuell
pro Woche mindestens zwei Dienste zum selbständigen Partienstudium
zu gewähren, wovon mindestens einer am Abend liegen muss.
In besonderen Fällen ist es möglich, diese Studierzeiten
aus einer Woche auf einen anderen Zeitraum zu verschieben, wobei
auch hier die Zahl der freien Abende gewahrt bleiben muss. Das
Chormitglied kann auf die Wahrnehmung dieser Studierzeiten verzichten,
wenn es stattdessen an vom Haus angebotenen Korrepetitionsproben
teilnimmt. Das Chormitglied, welches die Studierzeiten in Anspruch
nimmt, verpflichtet sich, die jeweils abgesprochenen Partien oder
Teile davon vorzubereiten, weiterzustudieren und auswendig zu lernen.“
Ich hoffe, dass sich ein in Verhandlungen hineinwirkender starker
Wille der Chöre bildet, dem sich endlich auch zaghafte und ängstliche
Chordirektoren, Intendanten und Disponenten anschließen müssen,
kurz, dass dieser Text nicht hier endet, sondern dass er als Anfang
fungieren möge, damit wir endlich freier atmen können.
Und darum möchte ich endend beginnen: Va, pensiero, sull’ali
dorate…
Sebastian Bollacher
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