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Berichte

Aristokratisches Understatement

Hommage „Very British!?“ am Bayerischen Staatsballett · Von Malve Gradinger

Very British!?“ Unter diesem Motto startete das Bayerische Staatsballett im Herbst die Saison 2011/12 als Hommage an die große Tradition des britischen Balletts, dem speziell München eine Menge verdankt: Zwischen 1954 und 1986 wurde das Ballett der Bay erischen Staatsoper geprägt von den jeweils auch choreografierenden britischen Ballettchefs Alan Carter, John Cranko (kommissarisch leitend), Ronald Hynd und der Royal-Ballet-Ballerina Lynn Seymour. Und die Cranko-Klassiker „Onegin“, „Romeo und Julia“ und „Der Widerspenstigen Zähmung“ wie auch „Giselle“ von dem Briten Peter Wright sind heute noch Eckpfeiler des Repertoires.

Was ist nun so „very british“ am Ballett von jenseits des Ärmelkanals? Bis jetzt gaben zwei Staatsballett-Premieren einen Eindruck von dem, was im Allgemeinverständnis Ballett „made in GB“ ausmacht.

„Scènes de ballet“ aus „Steps & Times“ mit Daria Sukhorukova, Maxim Chashchegorov und Mitgliedern des Ensembles. Foto: Charles Tandy

„Scènes de ballet“ aus „Steps & Times“ mit Daria Sukhorukova, Maxim Chashchegorov und Mitgliedern des Ensembles. Foto: Charles Tandy

Im Dezember sah man unter dem Titel „Steps & Times“ vier Stücke aus der Feder von Frederick Ashton (1904-1988) und Kenneth MacMillan (1929-1992), zwei der wichtigsten „Architekten“ des britischen Balletts der 1930er- bis 1980er-Jahre. Frederick Ashtons Strawinsky-Ballett „Scènes de ballet“ (1948) ist – zumindest für Schritt- und Stil-Fanatiker – ein absolutes Juwel. In einem chiricoesken klassizistischen Dekor entfaltet sich eine Choreografie, die in den klaren geometrischen Arrangements der Tänzer wie in Bewegung gebrachte abstrakte Malerei wirkt. Diese Wirkung wird noch verstärkt durch die weißen Tutus und den schwarzen geometrischen Musterbesatz auf den Oberteilen von Frauen und Männern. Die sich formenden und wieder auflösenden Gruppierungen des klassisch-romantischen Balletts des 19. Jahrhunderts – (Zweier-)Reihen, Diagonalen und Pulks – sind hier noch vorhanden, aber sie sind ausdrücklich scharf konturiert. Und genauso die Bewegung des einzelnen Tänzers: Posen werden wie Schattenrisse gehalten. Die Sprünge der Männer flitzen pfeilgerade hoch, sekundenpräzise in den Akzenten der Strawinsky-Partitur. Die Spitzenschuhe sticheln sich metronomisch in den Boden. Das „épaulement“, die leichte Wendung der Schulter nach rechts oder links, wird puppenhaft kantig ausgeführt. Die Arme fließen nicht, sondern gehen ganz bewusst durch die fünf klassischen Positionen. Es ist fast so, als tanze hier – in faszinierend positivem Sinn – eine Truppe von belebten Marionetten. Ein Effekt, der sich ergibt durch den in der Senkrechtachse gehaltenen Oberkörper bei komplexen kleinen Schritt- und Sprung-Kombinationen à la Enrico Cecchetti. Die Ballettpädagogik des berühmten Italieners Cecchetti (1850-1928), der nach Tätigkeiten in St. Petersburg und Warschau ab 1910 Ballettmeister für Diaghilews berühmte Ballets Russes wurde, ab 1918 auch Leiter seiner eigenen Londoner Schule, hat die „englische Schule“ geprägt. Für Tänzer, die nicht im englischen System groß geworden sind, ist dieser, in „Scènes de ballet“ noch dazu überspitzt „kontrollierte“ englische Stil eine vertrackte Hürde. Gar nicht leicht, sich auch im Ausdruck zurückzuhalten. Der ersten Solistin Daria Sukhorukova kam ihre russische Ausbildung zugute. Sie brachte in ihre Solo-Variationen und in die Pas de deux mit Maxim Chashchegorov gerade nur die Spur von Gefühlsausdruck, die dieses Ballett noch erlaubt. Ashton gibt hier ein Paradebeispiel britischer (Neo-)Klassik.

Charakterisieren lässt sich diese am besten durch den Vergleich mit anderen Ballett-Traditionen: Wenn das Moskauer Bolschoi berühmt war für seinen geradezu heroischen Brio-Stil, wenn sich in New York der Neoklassik-Meister George Balanchine mit sportlichen Ports de bras, schräg ausgestellten Hüften, mit durch Schnelligkeit verwischten (ursprünglich klassischen) Positionen und mit hochgeschleuderten Beinen am Jazz- und Showdance inspirierte, so bleibt bei dem Briten Ashton jede Bewegung zu vornehmer Linie gezähmt. Die Höhe des Beines spielt keine Rolle, nur die präzise harmonische Position. Es lässt sich also für den englischen Ballett-Stil, in etwa, festmachen: statt Pathos – Präzision, statt Brio – aristokratisches Understatement.

Ein weiteres Charakteristikum ist die britische Vorliebe fürs Erzählen. Während der russische Wahl-Amerikaner Balanchine fast ausschließlich abstrakte Stücke choreo-
grafierte – als reines Sichtbarmachen von Musik durch Tanz –, ging es Ashton und MacMillan vor allem um die Vermittlung von Inhalten, von Geschichten. Und die durften oder sollten ganz im Sinne der britischen Nichtachtung von E- und U-Klassifizierung, durchaus unterhalten. Ashtons „La fille mal gardée“ („Das schlecht gehütete Mädchen“) von 1960 ist solch ein komödiantisch unterhaltsames Ballett. 1971 von München erworben, wird es in dieser „britischen“ Saison am 5. Juli wiederaufgenommen.
Ashton und MacMillan verkörpern im Grunde zwei entgegengesetzte, aber sehr wohl britische Charakterzüge: Ersterer ein Gentleman von eher ausgeglichenem Gemüt, dessen Ballette seinen Sinn für Schönheit, Harmonie und eine positiv-heitere Lebenseinstellung zum Ausdruck bringen. Besonders britisch bei ihm ist sein skurriler Humor. Ashton war sich auch nicht zu schade, selbst komische Frauenrollen zu tanzen, wie eine der hässlichen Schwestern in MacMillans „Cinderella“.

„Las Hermanas“: Beatrice Cordua (Mutter), Lucia Lacarra (älteste Schwester), Monika Hejduková (dritte Schwester), Mia Rudic (vierte Schwester), Roberta Fernandes (zweite Schwester), Ilana Werner (jüngste Schwester). Foto: Wilfried Hösl

„Las Hermanas“: Beatrice Cordua (Mutter), Lucia Lacarra (älteste Schwester), Monika Hejduková (dritte Schwester), Mia Rudic (vierte Schwester), Roberta Fernandes (zweite Schwester), Ilana Werner (jüngste Schwester). Foto: Wilfried Hösl

MacMillan hingegen ist der Einzelgänger, melancholisch, grüblerisch, der sich in seinen Werken mit den Schicksalen, Problemen und Konflikten menschlicher Existenz auseinandersetzt. Zwei typische MacMillan-Ballette, die jetzt wiederaufgenommen wurden, sind die Mahler-Choreografie „Das Lied von der Erde“ (1965, seit 2006 im Repertoire des Staatsballetts) und „Las Hermanas“, ein Tanzdrama nach Garcia Lorcas „Bernarda Albas Haus“ (1963 für Stuttgart entstanden, seit 1975 im Münchner Repertoire).

In Ersterem übersetzt MacMillan, auf der Suche nach der ultimativ besten bedeutungstragenden Geste, die Lied-Texte von Hans Bethge zwischen Jugend, Schönheit, Abschied und Tod in seine Neoklassik, in die er Vokabeln der Martha-Graham-Moderne hineinnimmt: leicht im Knie gebeugte Schleifschritte, Graham-Sprünge mit angewinkelten Beinen, breitbeinige Männerpositionen, anmutige S-kurvige Frauenhaltungen. Dazu Arme, die wie leidende Flügel nach unten abgerundet geführt sind und die grahamsche Kontraktion in der Körpermitte – ein auch für den Nicht-Ballettfachmann unmittelbarer Ausdruck von Erleiden und Schmerz. In „Las Hermanas“ erzählt MacMillan zu Frank Martins nervanspannendem Cembalokonzert das Lorca-Drama der unerbittlich bigotten Bernarda Alba und ihrer weggesperrten, erotisch frustrierten Töchter zwischen neoklassischer Spitze und freien, das Geschehen expressionistisch stilisierenden Gesten. Genau dies garantiert dem Stück seine Zeitlosigkeit.

Zeitlos ist auch Ashtons Nachempfindung von Isadora Duncans in eine unbekannte Freiheit aufbrechender Tanzkunst. In seinen „Five Brahms Waltzes in the Manner of Isadora Duncan“ (1975/76), choreografiert mit frei schwingenden, teils naiv spielerischen, teils expressiv kämpferischen Gesten, Schritten und Sprüngen, erkennt man den Einfluss der Duncan-Bewundererin und Rhythmikerin Marie Rambert, die neben Ninette de Valois als große Gründergestalt des britischen Balletts gilt. Beide hatten übrigens in Diaghilews Ballets Russes getanzt und dort auch mit Cecchetti gearbeitet. So weit, so britisch gut.

Grundsätzlich lässt sich der „englische Stil“ nicht auf die genannten zwei, drei Merkmale reduzieren. Zwar wird er gehütet und gepflegt durch die von Ninette de Valois schon in den 1930er-Jahren gegründete Schule und das sich immer wieder selbst überprüfende Ausbildungssystem der Royal Academy of Dance (solch ein einheitliches Ausbildungssystem hat in Deutschland eben immer gefehlt!). Aber natürlich hat sich das britische Ballett im Laufe der Zeit auch verändert. Schon in den 1960er-Jahren machte der Exil-Russe Rudolf Nurejew – gegen viel Widerstand – im Royal Ballet, wo er „permanent guest artist“ war, das Narzisstische, das Animalische des Tanzes hoffähig. Und während früher ausschließlich britische Tänzer im Royal Ballet tanzten, ist es heute international besetzt, was zwangsläufig eine Globalisierung mit sich bringt.

Zur Ballettwoche (22. bis 29. April) ist David Bintleys Birmingham Royal Ballet mit Ashtons „The Dream“ von 1964 eingeladen. Gelegenheit, mehr von „Very British!?“ zu sehen.

Malve Gradinger


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