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Solist Nummer eins: der Chor
Rossinis „Wilhelm Tell“ in Nürnberg · Von Wolf-Dieter Peter
Selbstbefreiung eines Volkes von Tyrannei – ein aktuelles Thema. Eine junge Musiktheaterregisseurin von heute will dieses schon von Schiller in seinem Drama und dann auch von Rossini für die Pariser Oper gestaltete Thema nicht historisch fernrücken. Intellektuell überzeugt folglich die Grundidee von Regisseurin Elisabeth Stöppler und Dramaturgin Sonja Westerbeck: So wie im „Arabischen Frühling“ die Leitideen von Freiheit und Demokratie oft auch durch politische Stiftungen und NGOs verbreitet und eingeübt wurden, so beginnt die Nürnberger Tell-Handlung in einem modernen Seminarraum. „Freiheit spielerisch lernen“ wird später von den Bühnenfiguren auf eine Tafel geschrieben: „Tell“ als „Bei-Spiel“ – das hätte, konsequent weitergedacht und inszeniert, wieder einmal eine „alte Oper“ zeitlos gültig erscheinen lassen.
Mitglieder des Chores, Taehyun Jun (Furst), Martin Berner (Tell) und Uwe Stickert (Arnold). Foto: Ludwig Olah
Doch schon in den Konzeptionsgesprächen lange vor der Premiere hätte klar sein müssen, dass in Rossinis Werk die Natur eine zentrale Rolle spielt. Prompt erwies sich Hermann Feuchters betongrauer Seminarraum trotz auf- und abfahrenden Wandschotten und Hubpodien bald nur noch als Korsett: Schweizer Berglandschaften via Tageslichtprojektoren wirkten da nur hilflos. Viel schlimmer wog, dass Regisseurin Stöppler dann auch noch ihr „Konzept“ durchzog. Eine Auswahl der teils banal feministischen Ärgerlichkeiten: Tells Sohn ist die Tochter Jemmy, die bestechend Armbrust schießt; sie wird aber beim berühmten Apfelschuss vom Vater doch getroffen und spielt gelähmt im Rollstuhl weiter mit; die Frauen bewaffnen sich und halten mit Armbrüsten Gesslers SEK samt dessen Floretten in Schach; Tells Frau Hedwige tritt nicht nur als „Helvetia“-Allegorie auf: sie erschießt Gessler; Tell kommt nämlich aus der Gefangenschaft gefoltert und blind zurück. Damit wir alle verstehen, dass die „alte Macht“ von vorgestern ist, tritt die Habsburger Prinzessin Mathilde im güldenen Reifrock und Allonge-Perücke samt blindem Adlatus auf; ihre Liebe zum Schweizer Revoluzzer Arnold macht sie offensichtlich, indem sie sich den Rockstoff herunter-reißt und ungemein attraktiv im Korsettgerüst agiert. Später wirbelt sie den Stoff als Fahne des Aufruhrs durch die Luft, doch dazwischen hat sie ihn mühsam und umständlich vor Lover Arnold wieder übergezogen und zusammengenestelt, denn ein Liebesakt auf dem Schreibtisch geht ja auch im Reifrock viel besser… Handwerk zum Schreien! Die hübsche Einfügung der solistisch komponierten Celli als Quintett auf der Bühne rettete nichts, weil keine kohärente Geschichte erzählt wurde. Der Buhsturm am Ende hätte das Team eigentlich zurück in die Regieklasse fegen müssen.
Trost des Abends: die gesamte musikalische Seite. Guido Rumstadt verlebendigte mit der Staatsphilharmonie Nürnberg Rossinis herrlich atmosphärische Naturstimmungen und auch dessen Sinn für Musikdramatik. Solist Nummer eins ist in diesem Werk der Chor: Zu recht gab es einhelligen Jubel für Chordirigent Tarmo Vaask und sein beeindruckend differenziert singendes Kollektiv. Staunenswerte Solisten: Der etwas blasse Tell-Bariton von Martin Berner wurde von guten Bassstimmen übertroffen. Glanz, Beseelung und auch Feuer kam von drei strahlenden Frauenstimmen, von Leila Pfisters anmutig edlem Hedwige-Mezzosopran, von Claudia Brauns frischem Jemmy-Sopran aus dem Orchestergraben (da Michaela Mayer erkrankt nur agierte und mit einem Lied vom Band eingespielt wurde), von dem Attacke und Leidenschaft furios verstrahlenden Sopran der gertenschlanken Leah Gordon – ihrer aller Terzett geriet zum Beispiel, wie Gesang alles transzendieren kann. Und dann das Erlebnis des Abends: den Revoluzzer Arnold hat Rossini dem französischen Star-Tenor Gilbert Duprez in die Kehle komponiert – einfach 456 mal das G, 93 mal das As, 54 mal das B, 15 mal das H, 19 mal das hohe C und dann noch 2 mal das Cis! Deswegen spielen Staatsopern das Werk kaum. Mit dem jungen, etwas fülligen Deutschen Uwe Stickert war zu erleben, dass all dies von tragendem, beseelten Piano aus unforciert gesungen werden und dann auch wie eine blanke Stahlklinge leuchten und blitzen kann – dazu noch textverständlich! Stupend! Bravissimo! Allein das war den ganzen Abend wert! Die Nürnberger Oper unter Peter Theiler beweist, dass die mittleren Opernhäuser oft die Nase vorn haben.
Wolf-Dieter Peter
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