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Veranstalter und Lobbyist
Das „netzwerk junge ohren“ in Berlin · Von Kai H. Müller
Das „netzwerk junge ohren“ ist im deutschsprachigen Raum ein Pionier. Seine Gründung fällt ins Jahr 2007, als die Musikvermittlung zwar bereits auf dem Weg in den sprichwörtlichen Mainstream war, aber noch nicht die Popularität hatte, die sie heute besitzt. Es entstand als Reaktion auf das formulierte Bedürfnis, die zahlreichen Aktivitäten innerhalb der heterogenen Szene langfristig zu beobachten und in einer Struktur zu koordinieren. Seit seiner Gründung dient das „netzwerk“ nun als Anlaufstelle und Impulsgeber in der deutschsprachigen Musikvermittlungswelt. Unter der Federführung von Ingrid Allwardt und Katharina von Radowitz hat es sich, mit Unterstützung von Akteuren aus der Musikwirtschaft, etabliert: Die Büroräume in der Hauptstadt wurden erweitert, die personellen Ressourcen aufgestockt und das Aufgabenfeld ausgedehnt. Mittlerweile reicht dies von der Netzwerkarbeit über die Organisation zweier Wettbewerbe und eines Festivals hin zu publizistischen Tätigkeiten im hauseigenen Netzmagazin, im Bereich von social media und in Zeitschriften wie der „neuen musikzeitung“ oder „Das Orchester“.
Preiswürdige Musikvermittlung
Mit ihrem virtuosen Spiel, der Magie des Schwarzen Theaters und viel Musik entführten die Mimen Bodecker & Neander ihr Publikum in die Welt von Don Quichotte und Sancho Pansa.
Zwei Auszeichnungen werden derzeit vom „netzwerk“ vergeben: der „junge ohren preis“, kurz: „jop!“, und der „Young EARopean Award“, der mit „YEAH!“ abgekürzt wird. Der jährlich vergebene „junge ohren preis“ wurde 2006 ins Leben gerufen und ein Jahr später dem „netzwerk“ angegliedert. Er zeichnet Programme der Musikvermittlung im deutschsprachigen Raum aus und steht neben dem „YEAH!“, der sich an ein größeres, europäisches Umfeld wendet. Letzterer wurde 2011 erstmalig im Rahmen eines einwöchigen Festivals in Osnabrück vergeben. Fünf Projekte wurden in den Kategorien „Process“ und „Performance“ ausgezeichnet. Die Preisträger aus Dänemark, Österreich, Deutschland und Belgien decken ein multinationales Spektrum ab; hinzu kommt ein Sonderpreis „Welthorizonte“, den die Deutsche UNESCO-Kommission an das Projekt „Hasretim – eine anatolische Reise“ von Marc Sinan und anderen vergeben hat. Auch im Rahmen des Festivals stand der Netzwerkgedanke im Vordergrund. So hatten nicht nur die Preisträger und Nominierten Gelegenheit, ihre Projekte zu präsentieren, sondern es wurden auch unerwartete Bündnisse geschmiedet. Die Stiftung Stahlwerk Georgsmarienhütte war Hauptsponsor des Festivals, die Deutsche Bundesumweltstiftung finanzierte zudem im Rahmen des Projekts „Hörbare Umwelten“ einen „Kompositionsprozess“ an drei verschiedenen Schulen. Was bei jedem der gezeigten, ausgezeichneten, aber auch nominierten Projekte klar wurde, ist, dass die Szene ein hohes künstlerisches und kreatives Niveau erreicht hat. Auch das war ein Grund für die Initiative des „YEAH!“. Es werden internationale Standards benötigt, deren Diskussion durch Wettbewerbe, Symposien im Rahmen der Festivalwoche und nicht zuletzt durch die Reflexion des Gesagten angeregt werden kann. Der Erfolg beim Publikum war für eine erstmalige Austragung respektabel: So besuchten allein über 300 Zuschauer die Abschlusspräsentationen mit Diskussion zwischen Rolf Zuckowski und Dieter Kosslick zum Sinn und Unsinn von Wettbewerben sowie die anschließende Preisverleihung im Osnabrücker Schloss. Auch die Konferenz zu verschiedenen „Sound Perspectives“ war mit knapp 70 Zuhörern stärker frequentiert als so manch ein universitäres Symposion. Kein Wunder also, dass die nächste Runde des „YEAH!“ bereits in der Planung ist.
Diskussionsplattform
„Hörbare Umwelten“, ein Schulprojekt der Deutschen Bundesstiftung Umwelt und des „netzwerk junge ohren“.
Das „netzwerk“ greift nicht nur mit seinen Wettbewerben verstärkt in den öffentlichen Diskurs um die Musikvermittlung ein, sondern tut dies auch in moderierender Funktion. Es versucht immer wieder, polare Meinungen aufzufangen, diese auf ihren gemeinsamen Nenner zu hinterfragen und auf eine breitere Reflexionsbasis zu stellen. Ein Beispiel aus jüngster Zeit ist die hitzig geführte Diskussion von Holger Noltze und Christoph Becher in der „ZEIT“, die mit einer Polemik Noltzes zur Musikvermittlung begann und von Becher scharf weitergeführt wurde. Das „netzwerk“ griff diese Kontroverse auf, führte beide Kontrahenten im Rahmen einer Diskussion zusammen und publizierte die Ergebnisse anschließend sowohl in virtueller als auch in gedruckter Form.
Die elementare Bedeutung von Musik für das gesellschaftliche Zusammenleben und die Übertragung dieser Idee in eine konkrete Praxis sind grundlegende Beweggründe für die Berliner Netzwerker. In der Idee zum „YEAH!“ heißt es, dass die Musik unmittelbar zum Menschsein gehöre. Und auch wenn diese Formulierung ein wenig abgenutzt sein mag, so kann diese Sentenz doch auf eine lange Denktradition zurückblicken. Ihre Anfänge liegen in der Alten Welt und reichen über das „Quadrivium“ hin zu Martin Luther, der in seinen Tischreden donnerte, die „Musica“ sei „eine halbe Disziplin und Zuchtmeisterin, so die Leute gelinder und sanftmüthiger, sittsamer und vernünftiger machet“. Die „septem artes liberales“ der Antike und des Mittelalters, zu deren weiterführendem „Quadrivium“ die Musik gehörte, stehen mit ihrer festen Verankerung von Musik mit Astronomie, Arithmetik und Geometrie (und Grammatik, Logik und Rhetorik) paradigmatisch für die hohe Wertschätzung, die der Musik für die Ausbildung des Menschen entgegengebracht wurde. Sie weisen zudem in die Richtung unseres heutigen Musikunterrichts. Auch wenn hier natürlich angemerkt werden muss, dass der Musikbegriff der Antike nur wenig mit dem Klangphänomen zu tun hat, das wir heute unter „Musik“ zusammenfassen. Nichtsdestotrotz ist die Bedeutung von Musik für das gesellschaftliche Zusammenleben und die Erziehung unbestritten. Und genau aus diesem Grund ist es wichtig, dass sich Akteure wie das „netzwerk junge ohren“ auch als Lobbyisten engagieren und bei Entscheidungsträgern die sprichwörtlichen Klinken putzen, das im Netzwerkprozess gebündelte Meinungsbild präsentierend.
Schulworshop „Ohne Worte“ von Bodecker & Neander. Alle Fotos: Katharina Herkommer
Durch die organisatorischen Tätigkeiten und den Blick aus der Vogelperspektive, aber auch durch die Lobbyarbeit und das Bemühen um Vernetzung, ist das „netzwerk“ in gewisser Hinsicht ein Leuchtturm in den Fahrwassern der Musikvermittlung geworden. Es versucht, Orientierungsmarker zu setzen, wo angesichts der Innovationsdichte und der Wandel-erscheinungen, die einem so hybriden Sys-tem wie dem der Musikvermittlung zu eigen sind, Orientierungslosigkeit herrschen kann. Ein gesellschaftliches System überlebt, wenn es sich von Zeit zu Zeit verändert. Gerade im Bereich der Musikvermittlung ist eine besondere Schnelllebigkeit in der Erneuerung augenscheinlich, und es bleibt zu hoffen, dass die Offenheit und Neugier auf neue Vermittlungsebenen und -bereiche bestehen bleibt.
Wie Ingrid Allwardt im letzten Heft (O&T, Ausg. 1/2012) schreibt, ist der „jop!“ eine Art Seismograph für die deutschsprachige Musikvermittlungslandschaft. Wenn dies so ist, so schließt sich mit einem Blick auf die knapp 80 Bewerber im Jahr 2011 unmittelbar die Beobachtung an, dass noch immer viel zu tun ist. Musikformen wie die Alte Musik, der Jazz oder die Welt- und Popmusik mit ihren zahlreichen Unterformen sind im Vergleich zum Angebot von Neuer Musik im Portfolio stark unterrepräsentiert. Diversifikationseffekte wären hier durchaus wünschens- und erstrebenswert. Wer weiß, wie es in fünf Jahren aussehen wird. Dann ist die erste Dekade des „netzwerks“ vorbei – und das liefert neben allem Grund zu feiern auch eine passende Gelegenheit für eine umfangreiche Bestandsaufnahme.
Kai H. Müller |