|
Ein Programm nach Maß
Erste Chormesse „chor.com“ in Dortmund · Von
Juan Martin Koch „Nehmt Scharen von Menschen, nehmt sie zu Hunderten, zu
Tausenden, versucht es, sie in humane Wechselwirkung zu bringen,
eine Wechselwirkung, wo jeder Einzelne seine Persönlichkeit
so wohl durch Empfindungs- als Wortausdruck freythätig ausübt,
wo er zugleich von allen übrigen homogene Eindrücke empfängt,
wo er sich seiner menschlichen Selbständigkeit und Mitständigkeit
auf das intuitivste und vielfachste bewußt wird, wo er Aufklärung
empfängt und verbreitet, wo er Liebe ausströmt und einhaucht,
augenblicklich, mit jedem Athemzug – habt ihr etwas anders
als den Chorgesang?“
So genüsslich Friedhelm Brusniak, Experte für die Geschichte
des Chorwesens, Hans Georg Nägelis Zitat aus dem Jahr 1809
auch servierte, spannender wäre es gewesen, hätte er
es nicht vor den handverlesenen Teilnehmern des Symposiums zur
Chorforschung referiert (denen es bekannt gewesen sein dürfte),
sondern vor versammelter Enthusiastengemeinde anlässlich der
ersten „chor.com“ in Dortmund.
Warum das spannend gewesen wäre? Nun, ein Blick in die Historie
der Sänger- und Chorfeste seit Beginn des 19. Jahrhunderts
hätte ein Gefühl dafür vermitteln können, in
welcher Tradition – gewollt oder ungewollt und ungeachtet
der jugendlich-internetten Bezeichnung – eine solche Zusammenkunft
steht. Hätte das Ohr dafür schärfen können,
dass der Geschäftsführerin der gastgebenden Westfalenhallen
zur Charakterisierung der geladenen Sängerzunft ausgerechnet
das Wort „gesellig“ ins ungelenke Eröffnungsredemanuskript
getippt worden war. Hätte andererseits aber auch Perspektiven über
die berechtigte Euphorie ob des Gelingens dieser ersten „Chormesse“ hinaus
aufschließen können. Vielseitiges Angebot
Chormesse? Branchentreff? Kongress? Festival? Gut, wenn eine
solche Veranstaltung sich nicht auf eine bestimmte Funktion festlegen
lässt, wenn sie es schafft, all dies und doch mehr zu sein;
wenn sie ihren Besuchern mehr zutraut als das Bedürfnis, an
Messeständen ein paar Give-aways und in Workshops ein paar
Rezepte à la „Pimp your Choir“ abgreifen zu
wollen. Der Deutsche Chorverband (DCV) hatte ganz offensichtlich
sehr genau in seine vielstimmige Mitgliederschar hineingehorcht
und für die Multiplikatoren unter ihnen, vornehmlich also
die Chorleiter, ein Programm nach Maß gestrickt. Die Resonanz
von etwa 1.000 Fachteilnehmern bei 120 Workshops und über
50 Ausstellern (mehrfach hörte man von deren Seite Begeisterung über
ein Besucherinteresse „ohne Streuverluste“) sprach
für sich, hinzu dürfte der inoffizielle Ertrag zahlloser
Flurgespräche zu rechnen sein; das exquisite Konzert-
angebot schließlich, von den Rundfunkchören aus Köln
und Berlin bis zur Nacht der Chöre mit über 30 Veranstaltungen,
entfaltete den ganzen Reichtum des Repertoires von der Gregorianik
bis zur Gegenwart.
Für ein ungetrübtes Halleluja auf das deutsche Chorwesen
wäre freilich noch die eine oder andere Einzelprobe anzusetzen:
So ging die Umdeutung der einleitenden Pressekonferenz zur „Singenden
Eröffnung“ mit einem Verlust des Informationsgehaltes
und damit der öffentlichen Signalwirkung einher. Mit Interesse
wurde aber die spontan wirkende Einbeziehung Regina Görners,
Präsidentin der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Chorverbände
(ADC), durch DCV-Präsident Henning Scherf zur Kenntnis genommen,
hat der DCV doch seinen Austritt aus der ADC zum Jahresende beschlossen.
In ihrer Kernsubstanz hat die Chorszene der momentanen Aufbruchstimmung
zum Trotz noch eine Menge Arbeit vor sich: Wie Peter Brünger
in seinem Vortrag zur Alters-,Bildungs- und Berufsstruktur von
Chorsängern im Laienbereich zeigte, könnten durch gezielte
Ansprache bisher chorferner Milieus neue, dem demografischen Wandel
entgegenwirkende Potenziale erschlossen werden.
Den Mittelpunkt bei diesen Bemühungen müsste aber natürlich – dafür
lieferten Brüngers Teilauswertungen einer Studie weitere Argumente – die
Nachwuchsarbeit im eigentlichen Sinne bilden, die Stärkung
des Singens im Kindes- und Jugendalter also und damit die möglicherweise
wichtigste Aufgabe im Bereich der musikalischen Bildung überhaupt.
So war es eine weitsichtige Entscheidung der „chor.com“-Macher
um Veronika Petzold und Moritz Puschke, einige der in verschiedenen
Teilen der Republik in diesem Sinne aktiven Projekte und Initiativen
zum Informationsaustausch zusammenzubringen, darunter auch das
Gütesiegel für singende Kindergärten, das der DCV
derzeit unter dem etwas merkwürdigen Namen „Caruso“ einer Überarbeitung
unterzieht. Mobilisierung zum Singen
In der Abschlussdiskussion gingen die Meinungen darüber auseinander,
wie aus diesen vielgestaltigen Impulsen, die bei unterschiedlicher
pädagogischer Ausrichtung das gleiche Ziel verfolgen, eine
Bewegung mit bundesweiter Schlagkraft erwachsen könnte. Einig
war man sich aber, es nicht bei wortreichen Appellen belassen zu
wollen, sondern, koordiniert vom DCV, Formen gemeinsamen Tuns anzustreben,
die in der Mobilisierung breiter Bevölkerungsschichten politisch
nicht länger ignorierbare Tatsachen schaffen könnten.
Doch welche Musik werden wir singen, wenn aus all diesen Aktivitäten
wirklich so etwas wie eine Chorbewegung des 21. Jahrhunderts erwachsen
sollte? Es war ein besonderer Glücksfall, dass der Chor des
WDR unter Rupert Huber mit seinem Eröffnungskonzert genau
diese Frage stellte. Auch hier schärfte der Blick zurück
auf das Repertoire der Sängertafeln, der Männer- und
Frauenchöre, auf die Perlen, aber auch auf zu Recht Abgesunkenes,
nur noch aus dem historischen Kontext heraus Sangbares die Sensibilität
dafür, was Chormusik heute sein könnte. Ob es wirklich
eine Demokratisierung der Sänger bedeutet, wenn sie sich,
statt einem Dirigat zu folgen, den Improvisationen einer Vorsängerin
ausliefern, blieb dabei zwar offen, das ansteckende Charisma der
Natascha Nikeprelevic wird aber in Erinnerung bleiben. Das anregende
Aufeinandertreffen mit den Rappern Maeckes & Plan B schließlich
zeitigte zwar kein neues Meisterwerk der Durchdringung von E- und
U-Musik, setzte aber mit den widerborstigen Texten ein schönes
Fragezeichen hinter eine unreflektierte Choreuphorie, der die jungen
Musiker dann auch symbolisch dämpfende Papiertüten aufsetzten
(sie-he unser Foto auf Seite 9). Mit der von nun an im zweijährigen
Turnus geplanten „chor.com“ hat der Deutsche Chorverband
der Szene ganz offensichtlich jene Veranstaltung geschenkt, auf
die sie schon immer gewartet hat. Wenn nun in Berlin auch noch
ein „nationales Chorzentrum“ Realität werden sollte – der
unermüdlich und stets glaubwürdig präsente Henning
Scherf konkretisierte im Gespräch mit Theo Geißler diese
seit der „Chor@Berlin“ im Januar genährte Hoffnung –,
bekommt die von Simon Halsey beschworene „Renaissance des
Chorgesangs“ endgültig Boden unter den Füßen.
Die gilt es nun in Bewegung zu halten.
Juan Martin Koch
|