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Berichte

Reise ins Nirwana

Wagner und Hosokawa bei der Ruhrtriennale 2011 · Von Christian Tepe

Schwerindustrie und monumentales bürgerliches Musiktheater – beide entstammen sie dem expansiven Geist des späten 19. Jahrhunderts mit seiner unaufhaltsam voranstürmenden Entfesselung von physischen und psychischen Energien, von Produktions- und Destruktionskräften. Villa Wahnfried und Villa Hügel, zeitgleich erbaut, verknüpft das Band einer gemeinsamen Geschichte. In Alexander Kluges gerne zitiertem Diktum von der Oper als einem „Kraftwerk der Gefühle“ ist auch dieser Zusammenhang einbegriffen. Nachdem 100 Jahre später die Schwerindustrie in fernöstliche Gefilde ausgewandert ist, hat die Oper als Turbogebläse der Leidenschaften in die verwaiste Industriearchitektur Einzug gehalten. Und wo einst Hüttenarbeiter die Plätze, Wege und Straßenbahnen des Ruhrgebietes bevölkerten, da füllen heute die Gehilfen der Ruhrtriennale während der Herbstsaison das Revier mit neuem Leben. Idee und Historie des noch jungen Theaterfestivals sind ein Triumph der Künste über die vermeintlich so viel robustere Macht von Wirtschaftsmag-naten, Kohle und Stahl. Das sei allen kommunalen Theaterabwicklern, die gerade in Nordrhein-Westfalen wieder fleißig ihr Unwesen treiben, ins Stammbuch geschrieben.

 
„Tristan und Isolde“ in der Inszenierung von Willy Decker. Leerer Raum: unsichtbare Energie oder szenische Stagnation? Anja Kampe als Isolde. Foto: Paul Leclaire
 

„Tristan und Isolde“ in der Inszenierung von Willy Decker. Leerer Raum: unsichtbare Energie oder szenische Stagnation? Anja Kampe als Isolde. Foto: Paul Leclaire

 

Denkt man an die aufwühlende Explosionskraft von Wagners „Tristan und Isolde“, so kann man sich kaum einen geeigneteren Aufführungsort als die Jahrhunderthalle in Bochum vorstellen. Aber in Willy Deckers Inszenierung bleiben die Möglichkeiten dieser Halle und ihres einzigartigen historischen Kontextes fast ungenutzt. Seine Lesart wird getreu dem Triennale-Schwerpunkt Buddhismus von dem Gedanken kontrolliert, es handle sich beim „Tristan“ um ein buddhistisches Lehrstück oder vielmehr: Leerstück. Zwei schwebende, gleitende Trapeze erschaffen einen virtuell anmutenden Raum, darauf und darin bewegen sich die beiden Liebenden in Deckers ruhiger, zurückhaltender Personenführung ohne alle Schwerfälligkeit: zwei Menschen, die sich auf ihrer Reise ins Nirwana von allen Zwängen der äußeren Welt und mehr noch der inneren Egozentrik des Begehrens befreien. Was dem Spiel an konkreten Anhaltspunkten fehlt, sollen Videosequenzen beigeben. Zum Liebesduett im zweiten Akt sind beispielsweise zwei gestaltlose Riesenembryonen in einer Fruchtblase zu sehen und erwecken Assoziationen an futuristische Fortpflanzungsexperimente. Endlich kommt die volle Raumwirkung der Halle doch noch zur Geltung, wenn das Realitätsprinzip in die weltentrückte Sphäre des Eros einbricht und in diesem Moment abrupt und schockartig die kahle, trostlose Rückwand des Gebäudes bloßgelegt wird.

Deckers Arbeit überzeugt durch ihren Mut zur Leere, durch den Verzicht auf bedeutungsheischenden Aktionismus. Doch ist damit nur die Hälfte der Aufgabe gelöst. „Ich glaube“, schreibt Cosima Wagner in einem Brief an Hermann Levi, „dass ein gewisser gutgemeinter Realismus das Allerfremdartigste ist, während die Ruhe, welche gleichsam die Hülle scheint, mit welcher die vom Orchester angegebene Gemütsbewegung umschleiert wird, wenigstens unschädlich ist, wenn auch durchaus nicht entsprechend.“ Das beschreibt noch heute präzise die Krux jeder szenischen „Tristan“-Deutung und aktuell auch die Schranke für Deckers Ansatz, der die durch zahlreiche Äußerungen belegte Affinität des Komponisten zum Buddhismus überpointiert. In seiner eigenwilligen Anverwandlung von Impulsen aus Philosophie, Religion und Politik ist Wagner eine Art Allesverdauer, der das einverleibte Material gänzlich seinem eigenen künstlerischen Stoffwechsel unterwirft. Wer sich hier auf nur einen Aspekt kapriziert, ist schlecht beraten. Ein Paar in der vollendeten Glut der Sünde darzubieten, wie Wagner einmal formulierte, das wird in Bochum zum artifiziellen Bühnen-Nirwana entschärft.

 
Drama auf dem Bahndamm. Georg Nigl (Yoshio) und Ursula Hesse von den Steinen (Jitsuko) als überragende Singschauspieler in Toshio Hosokawas Oper „Hanjo“. Foto: Paul Leclaire
 

Drama auf dem Bahndamm. Georg Nigl (Yoshio) und Ursula Hesse von den Steinen (Jitsuko) als überragende Singschauspieler in Toshio Hosokawas Oper „Hanjo“. Foto: Paul Leclaire

 

Die Stärken und Schwächen der Inszenierung spiegeln sich in der musikalischen Interpretation. Kirill Petrenko und die Duisburger Philharmoniker musizieren ohne dynamische Übersteigerungen und ohne aufgesetzte Feierlichkeit mit feinem Gespür für die unermesslichen Abtönungen, Übergänge und Farbenwechsel der Partitur. Was fehlt, ist ein beherztes persönlicheres Gepräge; man wünscht sich alles eine Spur zärtlicher, feuriger, auch überschwänglicher. Anja Kampes Isolde beglückt mit tragenden, duftigen Piano-Kantilenen und wohldosierter expressiver Dringlichkeit in den leidenschaftlichen Aufgipfelungen. Christian Franz beeindruckt als zunächst in sich ruhender, beherrschter Tristan, der klug und mit Erfolg auf die Kraftreserven des dritten Aufzugs spart. Das „ChorWerk Ruhr“ erweist sich trotz überschaubarer Aufgaben wiederum als eine quirlige Sängerformation. Das weitere Ensemble ist mit Claudia Mahnke (Brangäne) und Alejandro Marco-Buhrmester (Kurwenal) luxuriös besetzt.

Während Willy Decker „Tristan und Isolde“ in eine buddhistische Meditation verwandelt hat, formt Calixto Bieito im zweiten Musiktheater-Beitrag der Ruhrtriennale aus einer blassen, 90-minütigen Kurz-oper über die Melancholie des erwartungslosen Wartens ein veritables Psychodrama. Gattungsgeschichtlich steht Toshio Hosokawas 2004 uraufgeführte Oper „Hanjo“ Schönbergs Einakter „Erwartung“ nahe, besonders was den Traumcharakter und das Changieren zwischen Singen und Sprechen betrifft, wiewohl die musikalische Substanz weit hinter Schönberg zurückfällt. Das Stück erzählt vom Los der Geisha Hanako, die seit Jahren auf einem Bahnhof die Rückkehr ihres Liebhabers Yoshio herbeisehnt. Inzwischen ist sie von der Künstlerin Jitsuko Honda gekauft und zum Gefäß eigener Wünsche und Gelüste instrumentalisiert worden. Voller Argwohn wacht Jitsuko über ihren Besitz, doch als Yoshio tatsächlich kommt, um Hanako zu sich zu nehmen, droht keinerlei Gefahr mehr: Für Hanako ist aus dem ewiglichen Warten ein Selbstzweck, ja ihre ureigene Daseinsweise geworden, sie kann und will Yoshio nicht mehr erkennen. Toshio Hosokawa umkleidet die Handlung nach einem No-Spiel von Yukio Mishima genregerecht mit einer anämischen Musik ohne rhythmische Konturen und ohne melodisches Relief, die vom Ensemble „musikFabrik“ (Leitung: Garry Walker) durch eine geschickte Dramaturgie der Dynamik und beredte klangliche Differenzierungsarbeit geadelt wird. Unter einem sehr glücklichen Stern stand die Sängerbesetzung mit Georg Nigl (Yoshio), Ursula Hesse von den Steinen (Jitsuko) und der überragenden Kerstin Avemo (Hanako); drei begnadete Singschauspieler mit klarer vokaler Diktion, einem schier unerschöpflichen Reservoir an psychischen Schattierungen und der Bereitschaft, bis an die Grenze psychischer Selbstentäußerung zu gehen.

Und doch ist diese Oper nur überlebensfähig in einer so herausfordernden Inszenierung wie der von Calixto Bieito, die das ganze blutbesudelte Inferno von ohnmächtigem Besitzanspruch, unerfüllbarer Liebe, Projektionen, Eifersucht und Misstrauen durchwatet. Susanne Gschwender hat in die Duisburger Gebläsehalle mit naturalistischer Detailtreue einen Gleisstrang gebaut, der aus unbestimmter Ferne bis zu den ersten Zuschauerreihen reicht. Schwellen, Schienen und Schotterbett geben die Bewegungsformen der Sänger vor und verleihen ihnen einen rituellen Ausdruck, der überraschend an die kunstvolle Stilisierung der japanischen No-Spiele erinnert. „Hanjo“ ist ein Seelendrama, bei dem jede Person traumatisch in ihre eigene Welt eingesponnen bleibt. Diese Beziehungslosigkeit ist keineswegs irgendwelchen gesellschaftlichen Umständen geschuldet, sondern macht den innersten Kern der Person aus. Erst ganz zum Schluss entschweben Hanako und Jitsuko gemeinsam als ein Paar in die Unendlichkeit des Schienenstranges, während Yoshio als Verkörperung des „aggressiv männlichen Logos“ sterben muss und sich ertränkt. Aber diese gendertheoretisch durchaus korrekte Konzession an den postmodernen Zeitgeist kann den Eindruck eines starken Theatererlebnisses nicht mehr schmälern.

Ankunft. Suche nach dem Jetzt“, diese Losung der Ruhrtriennale 2011 realisiert sich erst spätabends am Duisburger Hauptbahnhof beim stundenlangen Warten auf den Nachtzug. Hier sind sie, die wirklich einsamen Heldinnen und Helden des ziellosen Wartens: ein Mundharmonikaspieler mit der immergleichen Weise, ein zerstrittenes und doch verzweifelt aneinanderhängendes Paar, Pfandflaschenjäger, kopflos herumirrende Halbstarke, eingeschlafene Bettler. Dies ist das Revier abseits des Glanzes der Ruhrtriennale. Die Reise ins Nirwana hat ihr Ziel erreicht.

Christian Tepe

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