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Türen in die Vergangenheit
Das Tanzarchiv Leipzig wird 50 Jahre alt · Von Barbara Lieberwirth Kann man eigentlich eine so flüchtige Kunstform wie den Tanz
mit Hilfe eines Mediums festhalten, um ihn nachfolgenden Generationen
zugänglich zu machen? Und können diese Medien dann ganze
Archive füllen? Dass dies möglich
ist, beweisen weltweit zahlreiche Tanzsammlungen. So in New York,
Paris, Salzburg. Allein in Deutschland gibt es fünf Archive,
die sich dem Tanz widmen.
Eines von ihnen, das Tanzarchiv Leipzig, konnte im Oktober seinen
50. Geburtstag feiern. Diese Institution ist nicht nur Archiv,
sondern auch Forschungs- und Dokumentationszentrum. Bei der Aufarbeitung
der Bestände gehen Wissenschaft und Kunst Hand in Hand. In
der Präsenzbibliothek des Archivs greifen Theaterwissenschaftler,
Studenten und ausübende Künstler auf die verschiedenartigsten
Medien zurück. Neben dem reichen Bücherbestand sind Filmmaterial,
Dias, Fotografien, Plakate, Zeichnungen, Musikalien und Tonträger
zu finden. Modernste technische Ausstattung ermöglicht effektives
Arbeiten. Dem Nutzer steht ein Online-Katalog zur Verfügung,
sodass er bereits vor dem Besuch des Archivs in den Beständen
recherchieren kann. Volks- und Bühnentanz Den Grundstein für das einzige Archiv dieser Art in der
ehemaligen DDR legte der Tanz- und Musikwissenschaftler Kurt Petermann
(1930–1984).
Unter seiner Leitung entwickelten sich die Archivbestände,
die anfangs ihren Fokus auf den Volkstanz und die Folkloreszene
gerichtet hatten, mehr und mehr zur Dokumentation des Bühnentanzes.
Bis 1975 war das Tanzarchiv am Zentralhaus für Volkskunst
angesiedelt, dann wurde es von der Akademie der Künste der
DDR übernommen. Petermann erarbeitete eine heute noch beispiellose
Tanzbibliografie und rief eine Reihe Reprints bedeutender Schriften
der Tanzgeschichte, die „Documenta choreologica“, ins
Leben. Er begründete auch die Filmsammlung des Tanzarchivs
Leipzig.
Das Archiv beherbergt eine Vielzahl bedeutender Sammlungen
zu Tänzerpersönlichkeiten
und Wissenschaftlern. Petermann legte den Grundstein für Sammlungen
zu Vertretern des Ausdruckstanzes, wie Mary Wigman, Gret Palucca,
Jean Weidt oder Rudolf von Laban. Den Nachlass des berühmten
Tänzers, Choreografen und Begründers der Kinetographie
(Tanzschrift) zu betreuen, ist für das Tanzarchiv eine besondere
Ehre und Verpflichtung, gilt Laban doch als einer der Begründer
des Ausdruckstanzes im 20. Jahrhundert. Die Sammlung umfasst seine
persönliche Korrespondenz bis 1936, die Manuskripte und Arbeitsmaterialien
zu seinen Werken und Inszenierungen sowie Sekundärliteratur
zum Künstler und seinem Umfeld. Nach der Wende
Wie für viele Bibliotheken und Archive brachte die Auflösung
der DDR einschneidende Veränderungen mit sich. Die Akademie
der Künste, bis dahin Träger des Archivs, wurde mit all
ihren Zweigstellen aufgelöst und die Verantwortung für
das Tanzarchiv wurde dem Freistaat Sachsen übertragen. Die
Bestandssicherung und Weiterführung wurde 1992 vom Freistaat
gesetzlich verankert. „Zur gemeinsamen Nutzung der Universität
Leipzig und der Hochschule für Musik und Theater ‚Felix
Mendelssohn Bartholdy’“, heißt es im Gesetzestext.
Seit 1993 führt das Tanzarchiv seine Arbeit als gemeinnütziger
Verein weiter, dessen Direktorium sich aus Hochschullehrern der
beiden genannten Bildungseinrichtungen zusammensetzt. Den laufenden
Betrieb halten drei festangestellte Mitarbeiterinnen aufrecht,
die über einen jährlichen Etat von 315.000 Euro verfügen. Schwarze Wolken
Der 50. Geburtstag des Tanzarchivs Leipzig wurde jedoch überschattet.
Denn §5, Absatz (3) im „Staatsvertrag über die
Auflösung der Akademie der Künste der DDR“ ermächtigt
den Freistaat Sachsen, allein über die Nutzung der Bestände
des Tanzarchivs zu bestimmen, und genau von diesem Privileg macht
Sachsen jetzt Gebrauch. Die anstehenden Umstrukturierungspläne
des Sächsischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst
sehen den Wegfall der bisher gewährten institutionellen Förderung
vor. Für das Tanzarchiv Leipzig bedeutet das den Verlust der
Eigenständigkeit. Die Vereinsstruktur soll bis 2009 aufgelöst
werden, geplant ist eine Angliederung an die Universität Leipzig.
Besorgt und mit Skepsis sieht Geschäftsführerin Janine
Schulze in die Zukunft des Archivs. Im universitären „Großbetrieb“ könnte
das Tanzarchiv als marginal betrachtet und ins Abseits gedrängt
werden. Die Befürchtungen sind nicht ganz unbegründet.
Beklagt doch der Leiter des Deutschen Tanzarchivs in Köln,
Thomas Thorausch, den Stellenwert des Studiengangs Tanz an der
Hochschule für Musik Köln. Dort ist die erste Professur
für Tanzwissenschaft seit Jahren unbesetzt, „weil es
dem Rektor der Schule so gefällt“.
Die Vertragsverhandlungen zwischen Ministerium und Universität
sind im November nach ursprünglichem Scheitern wieder aufgenommen
worden. Vertreter des Archivs oder des Vereins waren zu diesen
Verhandlungen nicht geladen. Deshalb ist es wichtig, bei der Vertragsgestaltung
darauf zu bestehen, dass die zu fließenden Gelder zweckgebunden
dem Tanzarchiv Leipzig zukommen. Kooperation der Archive
Welcher Gefährdung die deutschen Tanzarchive und Sammlungen
ausgesetzt sind, weiß auch die Initiative „Tanzplan
Deutschland“ der Bundeskulturstiftung. Bereits zum zweiten
Mal brachte sie die fünf Institutionen zum Gedankenaustausch
zusammen und rief eine Arbeitsgruppe ins Leben, die die kulturhistorische
Bedeutung der deutschen Tanzarchive besser beschreiben und öffentlich
vermitteln soll. Denn auch das Deutsche Tanzfilminstitut Bremen
ist akut bedroht. Die Archive bereiten eine Zusammenarbeit vor,
um die Qualität und Vielfalt ihrer Bestände sowie ihrer
Tätigkeitsschwerpunkte zu vernetzen und in die Aufbruchsstimmung
einzubringen, die seit einigen Jahren im Bereich des Tanzes festzustellen
ist. Tanzgeschichte ist auch immer Gesellschaftsgeschichte. Die
Tanzarchive stellen eine wichtige Ressource für Forschung,
Lehre, Kunst und Gesellschaft dar. Das der Öffentlichkeit
einerseits, andererseits aber auch der öffentlichen Hand zu
vermitteln, ist ein lohnenswerter Weg in die Zukunft. Barbara Lieberwirth
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