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Nun rumort es wieder in der Bildungspolitik. Nach dem Pisa-Schock
der Jahre 2000 und 2003, als die Leistungen der deutschen Schülerinnen
und Schüler weit abgeschlagen unter dem Durchschnitt der damals
40 in der „Schulleistungsstudie der Organisation für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung“ (OECD) getesteten
Nationen platziert worden waren, zeitigt die jetzt veröffentlichte
Pisa-Tabelle 2006 Verbesserungen. In den Naturwissenschaften belegen
die Deutschen jetzt nicht mehr den Platz 18 unter 40, sondern den
Platz 13 unter 57 Nationen; das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ konnte
sich daraufhin vor Begeisterung kaum mehr einkriegen und titelte
die „Neuentdeckung der Naturwissenschaften in der Schule“.
In den anderen Disziplinen gibt es jedoch keinen Anlass für
Begeisterungsausbrüche: In Mathematik erreichten die Deutschen
die gleiche Punktezahl wie 2003, beim Lesen legten sie einige wenige
Punkte zu. Die gleichzeitig veröffentlichte „Internationale
Grundschulstudie“ Iglu sah Deutschland in der Disziplin Lesen
immerhin auf Platz 11 unter 45 Nationen.
Allen Studien gemein ist, dass sie für Deutschland ein steiles
Leistungsgefälle zwischen guten und schlechten Schülern
feststellen und einen offenkundigen Zusammenhang zwischen Schulerfolg
und sozialer Herkunft. Immer noch gilt, dass soziokulturelle und
Bildungs-Defizite aus der Kindheit Hypotheken darstellen, die in
der Regel kaum mehr tilgbar sind. Angesprochen werden diese Defizite;
sie zu mindern könne, meinen die Studien, durch Änderungen
der Schulsysteme versucht werden, doch ihr Entstehen wird als milieubedingte
Erblast hingenommen. Ebenso beschränken sich die Studien auf
das Messen unmittelbar verwertbaren Wissens und Könnens, fragen
mit keinem Wort danach, ob die Anforderungen an verwertbare Bildung,
wie sie von den Bildungseinrichtungen vermittelt werden, nicht
einhergehen, ja fußen müssen auf sozialer und ästhetischer
Bildung, deren Wurzeln lange vor der Schulzeit, nämlich im
Kindesalter gelegt werden. Dass dabei lange vor dem Besuch der
Bildungseinrichtungen der sozialen und ästhetischen Bildung,
sei es im Elternhaus, sei es ergänzend oder hilfsweise in
Kindergärten oder Vorschulklassen entscheidende Bedeutung
zukommt, und dass diese Bildung – zumal der musische Unterricht
in den Schulen bundesweit im argen liegt – nur im Zusammenwirken
mit den Kulturinstitutionen geleistet werden kann, wäre den
berechtigten Klagen der Studien über die soziale Ungerechtigkeit
des Schulsystems entgegenzuhalten. Lesen und rechnen lernt das
Kinde erst, wenn es sehen, hören, sprechen, singen, tanzen,
musizieren gelernt oder eben nicht gelernt hat. Das Theater, das neben Bibliotheken und Museen teuerste Produkt
der deutschen Staatsauftragskultur, in diesem Zusammenhang als
Bildungseinrichtung zu werten, ist keine billige Anbiederungsattacke.
Die Theaterkunst ist nicht nur gesellschaftliche Dekoration oder
gesellschaftspolitisches Forum, geschweige denn Ausstellungsort
narzistischer Befriedigungsgelüste von postmodernen Theatermachern,
die nur auffallen und nochmals auffallen wollen, koste es mehr
als sie haben, sondern sie gehört zu den Künsten, die
bilden. Das ist letztlich ihr Gegenstand. Nähme sie diese
Aufgabe nicht mehr wahr, wäre sie gegenstandslos. Zuzugeben
ist, dass den deutschen Theatern und Orchestern, wohl
nicht zuletzt unter dem Druck der auch durch Pisa 1 deutlich gewordenen
Bildungsmisere bewusst geworden ist, dass sie ihren Beitrag zur
sozialen und ästhetischen Bildung, beispielsweise in und mit
Schulen zu leisten haben. Da geschieht inzwischen viel Gutes, über
das in den nächsten Ausgaben unserer Zeitschrift zu berichten
sein wird. Doch dabei drängt sich zum einen der Eindruck auf,
es gehe vorrangig um die Gewinnung jungen Publikums, zum anderen
stellen diese Maßnahmen nur den durchaus anerkennenswerten
Versuch dar, die früher selbstverständliche Zusammenarbeit
von Bildungs- und Kultureinrichtungen wiederaufleben zu lassen.
Beispielgebend erscheint hingegen der von Daniel Barenboim 2005
initiierte „Musikkindergarten Berlin“, in dem einmal
pro Woche Musiker der Staatskapelle mit rund 60 Kindern im Alter
zwischen anderthalb und fünf Jahren gemeinsam musizieren. „Nicht
Erziehung zur Musik, sondern durch Musik“, lautet Barenboims
Devise, die sich von der musikalischen Früherziehung in Musikschulen
unterscheidet. Auch hierüber wird ausführlich zu berichten
sein.
Mit Gunter Reiß’ Beitrag „Große Oper für
die Kleinen“ in dieser Ausgabe eröffnen wir den Themenreigen.
Kinder müssen lernen, Kommerzmusik aus iPods, Klingeltöne
und bettelnd jaulende Klarinetten der Straßenmusikanten richtig
einzuordnen. Sie haben es verdient, schrittweise mit „echter“ Kunst
vertraut gemacht zu werden. Und deshalb machen wir zum Schluss
hemmungslos Werbung. „Das geheime Königreich“,
das von Elke Heidenreich und Christian Schuller herausgegebene
prachtvolle Buch über „Oper für Kinder“,
bei Kiepenheuer & Witsch 2007 in Köln erschienen, sollte
unter jedem Weihnachtsbaum liegen. Ihr Stefan Meuschel
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