Erneuerungsbestrebungen der singimmanenten musischen Bildung konnten – gewiss nicht zu unrecht – nach dem zweiten Weltkrieg keinen dauerhaft fruchtbaren Boden mehr finden. So war und ist ein allgemeiner Sing-Rückgang in unserer Gesellschaft zu beobachten, der heute wesentlich von den Sozialisationsfaktoren Elternhaus und Medienpräsenz begünstigt wird. Die Chorverbände sind seit einiger Zeit stetig bemüht, sich diesem Problem zu widmen und auch Abhilfe zu schaffen. Die Aktivitäten beziehen sich aber natürlicherweise in erster Linie auf den eigenen Mitgliederkreis. Aus der Not zur IdeeUm diesem Sing-Rückgang nachhaltig entgegenzuwirken, kam in Hannoveraner Kreisen die Idee auf, Chorklassen zu gründen. Dem Trend, dass immer weniger Eltern ihren Kindern die Freude am Gesang vermitteln, stehen die Musikpädagogen, die Musiklehrerinnen und -lehrer an allgemein bildenden Schulen relativ machtlos gegenüber. Deshalb strebt die Hochschule für Musik und Theater in Hannover ein Entgegenwirken auf schulischer Ebene an. Kinder sollten so früh wie möglich an das Singen herangeführt werden, damit dessen Natürlichkeit an sie übermittelt werden kann. Insofern wäre es wünschenswert, dass die Kinder schon im Kindergarten- oder Vorschulalter mit den Möglichkeiten vertraut werden könnten, die ihnen der Gebrauch ihrer eigenen Stimme bietet. Die musikalischen Qualifikationen der Erzieher reichen jedoch in der Regel nicht aus, um schon im vorschulischen Bereich Chorklassen gründen zu können. Im Gegensatz zu der Ausbildung der Erzieher werden jedoch die Musikpädagogen an der Universität beziehungsweise Hochschule auf den vokalen Umgang mit Musik vorbereitet. Auch wenn diese Vorbereitung im Studium teilweise noch verbesserungswürdig ist, bringen die ausgebildeten Musiklehrer zweifelsohne die erforderlichen Qualifikationen mit, die Voraussetzungen für die Leitung einer Chorklasse sind. Gerade im Primarbereich lassen sich die Kinder noch für die verschiedensten Dinge begeistern und von der Lehrperson beeinflussen und leiten. Dieser Tatsache müssen die Pädagogen verantwortlich und mit Bedacht begegnen, jedoch auch das enorme Potential der meist stark motivierten und lernwilligen Grundschüler bestmöglich ausschöpfen. Hinter der Idee der Chorklasse steht eben dieses Ausschöpfen der Möglichkeiten. Möglicherweise kommt die Chorklassen-Idee einer Suche von Lehrern nach einem Konzept entgegen, welches Ordnung in die schon fast unübersichtlich gewordene Fülle von Unterrichtsinhalten und -didaktiken bringen kann. Das KonzeptDie Begriff „Chorklasse“ existiert schon länger. In Ostdeutschland hat das chorische Singen im Klassenverband eine langjährige Tradition, so zum Beispiel in Gymnasien Magdeburgs, Leipzigs und Weimars. Die niedersächsische Idee bezieht sich im Idealfall auf die gesamte Schulzeit von der Grundschule bis zum Gymnasium. Dabei erhält gerade der Primarbereich einen hohen Stellenwert, um Grundlagen zu schaffen.
Ein Personenkreis aus dem Umfeld der Hochschule für Musik und Theater entwickelte gemeinsam aus der Idee einer Chorklasse ein Konzept, das nicht als Zusatz zum obligatorischen Musikunterricht zu verstehen ist, sondern in Anlehnung an das Bläserklassenkonzept und gemäß den Essener Thesen zum Chorsingen im 21. Jahrhundert den Chorklassenunterricht als Alternative zum Musikunterricht oder besser als besondere Form des Musikunterrichts vorsieht. Chorklassen können in der Grundschule ab der ersten Klasse eingerichtet werden. Doch obwohl solch ein früher Zeitpunkt wünschenswert ist, macht es auch Sinn, die Idee der Chorklasse ab einem höheren Jahrgang zu verwirklichen. Die ursprüngliche Konzeption sieht vor, dass die Schulleitung beziehungsweise der Musiklehrer einer Schule oder die Gesamtkonferenz sich dazu entschließt, eine Chorklasse oder auch mehrere solcher Schwerpunktklassen einzurichten. Erfolgt die Bildung der Chorklasse in Klasse eins, so werden die Eltern vor der Einschulung ihrer Kinder über die Möglichkeit informiert, ihren Sohn oder ihre Tochter für die Chorklasse anmelden zu können. Dabei hat die Schule den Eltern deutlich zu machen, dass der Unterricht in der Chorklasse eine erweiterte Anzahl an Schulstunden mit sich bringt: Einer Chorklasse wird neben den zwei herkömmlichen Musikstunden eine obligatorische dritte Stunde zugedacht, die aus dem Bereich der Betreuungszeit genommen wird. Außerdem bedeutet die Teilnahme an einer Chorklasse eine Verpflichtung für die gesamte Dauer der Grundschulzeit. Die guten Erfahrungen in den Bläserklassen mit der Verpflichtung auf einen mehrjährigen Zeitraum und dem Unterrichten im Klassenverband dienen dabei als Vorbild. Mit der Versorgung der Chorklasse wird ein kompetenter Fachlehrer betraut. Dringend wünschenswert ist es, dass dieser Musiklehrer gleichzeitig der Klassenlehrer ist. Der neue AnspruchMan wird sich vielleicht fragen, weshalb gerade an Grundschulen die Bildung von Schwerpunktklassen angestrebt wird, obgleich es die Rahmenrichtlinien ohne weiteres zulassen würden, auch ohne eine speziell auf die chorische Arbeit ausgelegte Konzeption gerade im Primarbereich ein besonderes Augenmerk im Musikunterricht auf das Singen zu legen. Tatsächlich wird sich der Anfangsunterricht in der Chorklasse bezüglich der didaktischen Modelle nicht wesentlich vom allgemeinen Klassensingen unterscheiden. Allerdings liegt der sängerisch-musikalischen Arbeit ein anderer Anspruch an den Lehrinhalt zugrunde: Chorklassen sollen darauf ausgelegt sein, in relativ kurzer Zeit die aus dem Unterricht erwachsenen Ergebnisse zu präsentieren und an die schulische und außerschulische Öffentlichkeit zu tragen. Dies könnte beispielsweise ein Auftritt bei der Weihnachtsfeier oder beim Schulfest sein. Die Chorklassen-Schüler sollen auf diese Weise erfahren, dass ihr Arbeiten darauf ausgelegt ist, durch die vermehrte Einbeziehung stimmbildnerischer Übungen einen zunehmend souveränen Umgang mit der eigenen Stimme zu bekommen sowie ein Publikum zu erreichen und anzusprechen, das die Arbeit der Chorklasse honorieren kann. Im Sinne des Gedankens an ein „Chorzentrum Hannover“,
das alle am chorischen Singen beteiligte Einrichtungen integrieren
soll, wird längerfristig die Option ins Auge gefasst, eine
Zusammenarbeit der Chorklassen mit hannoverschen Spitzenchören
wie beispielsweise dem Mädchenchor Hannover zu ermöglichen. Unterstützung von außenAuf unterschiedliche Weise unterstützt die Hochschule für Musik und Theater Hannover die Chorklassen. Ein Aspekt ist das Einberufen regelmäßiger Treffen der Chorklassen-Lehrer mit den Hochschulverantwortlichen. Diese Zusammenkünfte dienen dem Austausch von Erfahrungen der Lehrer untereinander sowie der Aufrechterhaltung von Kontakten zwischen der Hochschule und den Pilotschulen. So können Durchführung und Zielsetzung der Konzeption gefestigt oder gegebenenfalls neu überdacht und an die Erfahrungen aus der schulischen Praxis angeglichen werden. Eine Evaluation des Konzepts und dessen Bewährung in der Praxis soll ebenfalls von Seiten der Hochschule initiiert werden. Dies ist etwa im Rahmen einer Hausarbeit von Studierenden möglich. Daneben plant die Hochschule, eine Repertoireempfehlung herauszugeben – gestützt auf die Erfahrungen des Projektjahres. Eine weitere Maßnahme besteht darin, Studierende diverser Studienrichtungen (zum Beispiel Lehrämter der verschiedenen Schulformen, Musikerziehung mit Schwerpunkt Gesang) dafür zu gewinnen, den Chorklassen-Lehrern in den Schulen zu assistieren und in den Bereichen Korrepetition, Stimmproben oder Gruppenstimmbildung für Förderungsbedürftige tätig zu werden. Dabei sollte seitens der Studenten die Bereitschaft aufgebracht werden, sich im Sinne einer kontinuierlichen Arbeit in den Schulen für mindestens ein oder besser zwei Semester zur Mitarbeit zu verpflichten. Um die Studierenden für diese Aufgaben zu qualifizieren, sorgt die Hochschule für ein Zusatzangebot stimmbildnerischer Seminare, die sich nach Möglichkeit speziell auf die Kinderstimmbildung konzentrieren sollen. Die Aufgabenstellung für die Studierenden wird von den Hochschulverantwortlichen so gestaltet, dass sie als Studieninhalt durch Testat oder Leistungsnachweis angerechnet werden kann. Schließlich können die Musikstudenten im Sinne eines Fachpraktikums betreut werden. Zwar ist das hier vorgestellte Konzept der Chorklasse eng mit der Hochschule für Musik und Theater Hannover verbunden und an der Musiklandschaft der niedersächsischen Landeshauptstadt orientiert. Zu hoffen bleibt dennoch, dass das Ziel der Chorklassen-Idee – Kindern die Freude am Singen wieder näher zu bringen – mit dieser Konzeption erreicht wird und dass diese Idee auch andernorts Zustimmung und Verbreitung findet. Hanna Fuhrmann und Franz Riemer |
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