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Abgesang auf ein Jahrhundert
Friedrich Cerhas „Der Rattenfänger“ in Darmstadt
· Von Andreas Hauff
Aus einem Hohlweg taucht er auf, ein fahrender Musikant in der
Stadt Hameln. Noch weiß er nicht, dass man ihn später
den Rattenfänger nennen wird. Er singt, erst unbegleitet in
kurzen diatonischen Phrasen, dann weiter ausgreifend in chromatischen
Intervallen. Kam da nicht ein unheimliches Rascheln von unten? Dezent
setzt eine Gitarre ein, weitere Instrumente gesellen sich zu dem
Lied: „In diese Stadt verschlagen, in der ich nichts verloren
hab’, fällt es mir ein zu fragen: Was sucht ein Mann
in einer Stadt, in der er nichts verloren hat?“
Zum ersten Mal überhaupt seit der Uraufführung beim Steirischen
Herbst in Graz 1987 hat das Staatstheater Darmstadt in Kooperation
mit den Wiener Festwochen Friedrich Cerhas zweite Oper „Der
Rattenfänger“ auf die Bühne gebracht. Vor der Aufführung
konnte man sich fragen, ob der Komponist mit dem Rückgriff
auf Carl Zuckmayers fast vergessenes Schauspiel von 1975 nicht einem
überholten Konzept von Literaturoper gefolgt ist, und zudem
an der ästhetischen und literarischen Qualität der Vorlage
zweifeln. Doch der suggestive Einstieg auf der Darmstädter
Bühne drängt die Bedenken zurück. Was sich dann in
beinahe dreieinhalb Stunden auf Hartmut Schörghofers Bühne,
in Operndirektor Friedrich Meyer-Oertels Inszenierung und unter
GMD Stefan Blunier am Pult des Darmstädter Orchesters entfaltet,
erweist sich als ein einziges großes Plädoyer für
die Qualität und die Bedeutung des Werkes. Und man erlebt den
Glücksfall, dass auf der Bühne alle Mitwirkenden sängerisch
und darstellerisch gleichermaßen überzeugen.
Schon in seinem Kommentar zur Uraufführung hat Cerha die „Problemvernetzung“
als die eigentliche Qualität seiner Vorlage benannt; und mit
Hingabe entfaltet er auch musikalisch die komplexe Handlung: Erst
allmählich erkennt die Titelfigur (beeindruckend: John Pierce)
die verfahrene Situation in der mittelalterlichen Stadt. Sie ist
gespalten in Arm und Reich, untere und obere Stadt. Die Elenden
sind heruntergekommen und brutalisiert, die Wohlhabenden gierig
und korrupt. Der Stadtregent (Thomas J. Mayer) duldet die bedrohlich
wachsende Rattenplage, um seine Getreidespekulationen zu fördern
und einen Anlass zum Losschlagen gegen die erwarteten Unruhen zu
bekommen. Die Jugend der Stadt sieht keine Perspektive; in ihren
wenigen freien Stunden treffen sich die jungen Leute im Stadtgraben,
wo sie herumlungern, räsonieren, tanzen, geheime Rauschmittel
probieren und ihre Aggressionen an Schwächeren abreagieren.
Auf die Kirche als moralische Instanz ist kein Verlass. Dem aufrechten
weisen Stadtdekan (Horst Schäfer) steht der verschlagene mächtige
Stiftspropst (Friedemann Kunder) gegenüber: Warum soll man
nicht die aufsässige Bevölkerung als Arbeitssklaven in
den Osten verkaufen?
Zwei Figuren bewegen sich zwischen den beiden Lagern: der obskure,
intrigante Hostienbäcker (Wojciech Halicki), Zuträger
des Stadtregenten, und der Kleine Henker (Hans Christoph Begemann),
ein geradliniger kleiner Beamter, der ohne viel Nachdenken seine
schmutzige Pflicht tut. Zwei Frauen hat es der exotisch wirkende
Fremdling angetan: Rikke (Morenike Fadayomi), der Pflegetochter
des Kleinen Henkers, auf deren Zuneigung er sich allmählich
einlässt, und Divana (Jennifer Barrette Arnold), der schönen
Frau des Stadtregenten, deren Machtspiele und innere Kälte
er rasch durchschaut. Erst durch diese Begegnungen wird er sich
der Macht seiner Musik und seiner Ausstrahlung bewusst, und es gelingt
ihm, die Ratten in die Weser zu locken. Für Divana muss er
privat zum Tanz aufspielen; als sie sich im Tanzrausch zu Tode getanzt
hat, scheitert der geplante Aufstand gegen die betrügerische
Stadtregierung. Die alarmierten Landsknechte schlagen die Rebellion
brutal nieder, Rikke kommt zu Tode und nur die Selbstmorddrohung
der beiden Kinder des Stadtregenten (Diana Tomsche-Beikircher und
Marian Olszewski) rettet den Rattenfänger vor dem Galgen. Am
Ende nötigen ihn die überlebenden Jugendlichen, sie aus
Hameln weg in eine bessere Zukunft zu führen.
Was Zuckmayer Anfang der 1970er-Jahre zu Papier brachte, erscheint
heute als illusionsloser Blick auf ein ziemlich verworrenes und
verkorkstes 20. Jahrhundert. Man spürt in diesem Text zugleich
das Nachbeben vergangener und das Wetterleuchten gegenwärtiger
(und vielleicht zukünftiger) Katastrophen. Zudem ist „Der
Rattenfänger“ ein Stück, das das ganze Spektrum
der Wirkungen von Musik vorführt. Sie betört, verführt,
mobilisiert, berauscht und tröstet, spricht Gefühle aus,
charakterisiert Figuren und Situationen, setzt inhaltliche Akzente
und malt auch, was man nicht sehen kann: Die Ratten in Winkeln und
Löchern. Cerha hat es nicht nur geschafft, Alban Bergs „Lulu“
abzuschließen; er ist auch mit Erfolg auf dem Weg weitergegangen,
den Berg mit seinen beiden Opern gewiesen hat.
Andreas
Hauff
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