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Kulturpolitik

Auf ein Wort mit...

... Julien Chavaz, Generalintendant des Theaters Magdeburg

Im Gespräch mit Barbara Haack und Gerrit Wedel

Julien Chavaz ist seit Beginn der Spielzeit 2022/2023 Generalintendant am Theater Magdeburg. Zuvor hat der gebürtige Schweizer als Intendant der Neuen Oper Freiburg/Fribourg in der Schweiz gearbeitet. Chavaz studierte Agrarwissenschaften in Zürich und Dramaturgie in Lausanne. Später arbeitete er als künstlerischer Mitarbeiter und Regieassistent von Laurent Pelly an verschiedenen Häusern und inszenierte selbst zahlreiche Musiktheaterwerke, unter anderem in Paris, Genf, Lausanne, Amsterdam, Den Haag und London. Ein Schwerpunkt lag dabei auf neuen Musiktheaterformen. In der Spielzeit 2022/2023 inszenierte er am Theater Magdeburg „Eugen Onegin“ und die deutschsprachige Erstaufführung von Gerald Barrys Oper „Alice im Wunderland“. Barbara Haack und Gerrit Wedel sprachen für „Oper & Tanz“ mit dem Intendanten.

Oper & Tanz: Sie sind seit 2022 Intendant in Magdeburg, haben also eine ganze Spielzeit hinter sich. Wie sind Sie eingestiegen?

Julien Chavaz. Foto: Georg Bandarau

Julien Chavaz. Foto: Georg Bandarau

Julien Chavaz: Ich wurde 2020 offiziell ernannt und habe die Stelle 2022 angetreten. Ich hatte also eine lange Vorbereitungszeit und habe mich mit den Herausforderungen dieser Position schon seit drei Jahren beschäftigt. Ich konnte diese Vorlaufzeit gut nutzen. In der Corona-Zeit war es natürlich schwierig. Viele Vorstellungen konnten nicht stattfinden. Es war eine Zeit, in der alle Künstler*innen 10 oder 20 Prozent Extra-Stress hatten, weil diese Zeit uns alle verunsichert hat. Dazu kam dann noch der Intendantenwechsel in dieser Periode. Das sollte friedlich gehen, wichtige Entscheidungen mussten getroffen und wieder ein klarer Kurs gefunden werden. Das ist aus meiner Sicht zufriedenstellend gelungen. Voraussetzung dafür war, dass das Haus in einem sehr guten Zustand an mich übergeben wurde, von der Stimmung her, von den Finanzen, von der Auslastung, von der Beziehung zur Politik, der Glaubwürdigkeit dieser Institution in der Stadt und der Region. Es war kein Krisentheater. 
Dazu kommt: Es gibt hier eine sehr offene Belegschaft. Ich bin hier nicht angetreten mit dem Ziel, Revolution zu machen, sondern eine Evolution zu bringen. Zu schauen: Was kann man mit diesem Theater machen? Was schätze ich an diesem Theater? Ich bin damit, mehr als ich erwartet hatte, auf eine freudige und positive Belegschaft getroffen.

O&T: Was ist die Bilanz dieser ersten Spielzeit, die Sie verantwortet haben?

Chavaz: Ich ziehe eine positive Bilanz. Unser Spielplan war mutig, aber erfolgreich. Das mag eine subjektive Betrachtung sein, aber wir wurden – viel mehr als in früheren Jahren – überregional anerkannt. Wir bekamen Nominierungen, Einladungen nach München, Italien, Frankreich. Das sind Einzelerfolge, aber wenn man sie zusammensieht, führt das zu einer tollen künstlerischen Bilanz. Unsere Auslastungszahlen waren sehr gut, sie sind auf vorpandemisches Niveau zurückgekehrt. Das hätte ich erst für die zweite oder dritte Spielzeit erwartet. Bei einem so großen Wechsel – Intendantenwechsel, Wechsel im Musiktheater, Schauspiel und Ballett – gibt es immer Inszenierungen, die weniger gut funktionieren, als man es sich gewünscht hat. Aber am Schluss der Spielzeit ist die Bilanz sehr gut.

O&T: Stellen Sie sich als Intendant bei der Programmgestaltung auf ein für diese Stadt spezifisches Publikum ein? Oder gibt es das gar nicht?

Chavaz: Ein Vierspartenhaus zu leiten in einer mittelgroßen Stadt wie Magdeburg bedeutet, dass man sich auf ein sehr breites Publikum einstellt. Da kann man keine abgefahrene tanztheatralische Spielstätte etablieren oder nur Musical machen. Das Schöne ist, dass man mehrere Sparten hat. Normalerweise prägt die Schauspielsparte in einem solchen Haus immer ein bisschen mehr die Avantgarde als die anderen Sparten. Das ist auch in Magdeburg so. Wir dachten, im Ballett könnte es mit einer neuen Ausrichtung schwierig werden. Aber der größte Publikumswechsel findet im Schauspiel statt. Im Musiktheater konnte ich das Publikum sehr gut mitnehmen, auch mit neuen Titeln, neuem Repertoire und vermutlich auch einer jüngeren Sicht auf die Inszenierungen. Trotzdem ist das Publikum weiterhin dabei, das freut mich sehr. 

O&T: Sie waren immer auch künstlerisch tätig und sind als Regisseur sehr breit aufgestellt. Sie haben sehr viel im zeitgenössischen Bereich gearbeitet, befassen sich aber auch mit der Operette oder klassischen Opernwerken. Darüber hinaus sind Sie auch als Bühnenbildner tätig. Geht das alles neben den Aufgaben des Intendanten?

Theater Magdeburg. Foto: Andreas Lander

Theater Magdeburg. Foto: Andreas Lander

Chavaz: Ich denke, das deutsche System ist das perfekte System für Künstler-Intendanten. Für mich ist das Modell des nicht-künstlerischen Intendanten nicht besser oder schlechter als das des Künstler-Intendanten. Beides hat Vor- und Nachteile. Das deutsche Repertoire-System gibt einem Künstler-Intendanten aber bessere Karten als zum Beispiel das französische Stagione-System. Ich habe in kleinen Häusern angefangen, in einem sehr familiären Theaterumfeld, nicht in einer großen Institution. Die Nähe zu den Mitarbeiter*innen pflegt man als regietätiger Intendant noch besser. Ich bin auf der Bühne, ich bin in den Werkstätten, ich begegne allen diesen Menschen. Einige meiner Kolleg*innen wissen nicht einmal, wo die Menschen arbeiten oder was sie machen. Was ich ein bisschen schade finde, ist, dass die Künstler-Intendant*innen fast immer von der Gattung Oper kommen, dass man noch viel zu selten den Mut hatte, einem/einer Ballettdirektor*in oder einem/einer Schauspieldirektor*in die Gesamtintendanz zu übergeben.

O&T: Und Sie finden neben der künstlerischen Tätigkeit genug Zeit für alles, was mit dem Intendanten-Job zu tun hat, der Verwaltung, den Finanzen, dem Politischen…?

Chavaz: Ich arbeite non-stop. Ich fühle mich voller Energie und wäre traurig, wenn ich die Bühne nicht mehr betreten könnte. Das hat sich, denke ich, Magdeburg auch gewünscht. Die Findungskommission hat das bestätigt. In meiner Funktion finde ich, dass es sehr gut funktioniert – dank eines tollen Teams. 

O&T: Es ist derzeit durchaus virulent, was bei uns politisch passiert, in ganz Deutschland, aber gerade auch in Sachsen-Anhalt. Wenn wir über den Spielplan, über die künstlerische Ausrichtung dieses Theaters sprechen: Reagieren Sie darauf als Theater?

Chavaz: Ja und nein. Ein Theater ist schlussendlich immer politischer, als man es konzipiert. Auch, wenn man einen Abend nicht politisch konzipiert, wenn man denkt, man macht reine Kunst: Theater ist eine Kunst des Jetzt. Ich schaue eine Inszenierung an, zwei Stunden, nachdem ich die Zeitung gelesen und drei Stunden, nachdem ich Radio gehört habe, also weiß, was in der Welt passiert. Alle Inszenierungen beinhalten daher eine Auseinandersetzung mit politischen Fragen, besonders in der Schauspielsparte. Es gibt viele Inszenierungen, die politisch geladen sind, entweder in ihrem Grundtext – die „Jagdszenen“ von Martin Sperr hatten gerade Premiere, das ist in seinem Grundtext ein politisches Stück – oder „harmlose“ Stoffe, die vom Regisseur, von der Regisseurin doch eine gewisse Farbe bekommen. Das heißt nicht, dass man den pädagogischen Zeigefinger hebt.

Ein Beispiel: „Die Blume von Hawaii“ kann und möchte man heute nicht mehr eins zu eins spielen. Gewisse Witze sind heute einfach nicht mehr lustig. Was macht man also mit diesem Stoff? Man versucht, gewisse Elemente auszulassen, gewisse Elemente zu bewahren, eine neue Perspektive zu bringen. Ob man möchte oder nicht: Theater hat immer – das ist auch das Schöne daran – eine Funktion des intensiven Dialogs mit der Gesellschaft.

O&T: Die inhaltlich-politische Auseinandersetzung auf der Bühne ist das eine. Interessant ist aber auch die Frage des kulturpolitischen Herangehens an die Theaterlandschaft in Sachsen-Anhalt. Wir haben zum Beispiel eine schwierige Diskussion um Halberstadt. Und wir haben überall steigende Kosten. Wie ist Ihr Bezug zur Landespolitik und der Theaterfinanzierung insgesamt? Gibt es in Magdeburg die Bereitschaft, andere Häuser im Land zu unterstützen?

Chavaz: Es liegt nicht im Interesse eines Theaters, dass es einem anderen schlecht geht. Wir haben Solidarität gezeigt: auf institutioneller Ebene, aber auch einzelne Mitglieder der Belegschaft, die an Demonstrationen teilgenommen haben. Das ist das eine.

Eine neue Perspektive auf „Die Blume von Hawaii“ mit Carmen Steinert, Rosha Fitzhowle und dem Chor des Theaters Magdeburg. Foto: Andreas Lander

Eine neue Perspektive auf „Die Blume von Hawaii“ mit Carmen Steinert, Rosha Fitzhowle und dem Chor des Theaters Magdeburg. Foto: Andreas Lander

Das andere ist, dass wir mit großer Energie und Überzeugung Lobbyarbeit gegenüber dem Land betreiben. Die Sachkosten sind stark angestiegen, und wir haben große Tarifsteigerungen; im Theater Magdeburg macht das fast vier Millionen Euro aus, also fast zehn Prozent. Wir setzen uns dafür ein, dass das Land seinen Beitrag proportional dazugibt, damit die Städte nicht allein gelassen werden. Das ist unsere politische Solidarität. Daneben ist es auch unsere Verantwortung, die Kosten seriös zu betrachten. Wir haben auch eine Spielplanverantwortung. Das bedeutet zum Beispiel, dass wir auch ein Programm für den Domplatz machen. Dort spielen wir große Musicals, eine ganz andere Kunstform als beispielsweise eine zeitgenössische Oper. Wir machen das, weil es so viele Menschen anspricht und weil es zeigt: Es gibt unterschiedliche Publika, die wir alle erreichen wollen.

Ich habe zur Findungskommission gesagt: Ich kann dieses Haus in drei Jahren kaputt machen und dann weggehen. Das werde ich aber nicht tun. Das heißt nicht, dass ich keine mutigen Entscheidungen für den Spielplan treffe. Es ist wichtig, dass die Politik uns unterstützt, aber wir müssen jetzt auch die Politik unterstützen, indem wir unseren Spielplan für ein breites Publikum konzipieren.

O&T: In Sachsen-Anhalt gibt es kein einziges Staatstheater. Magdeburg hat eine überregionale Ausstrahlungskraft. Es wäre doch eine Chance, dass das Land hier in die Finanzierung geht und Magdeburg zum Staatstheater macht. Damit gäbe es ein wenig mehr Flexibilität für die anderen Theater. Ist das ein Thema?

Chavaz: Es ist grundsätzlich ein Thema, nicht brisant, aber eine Frage, die immer wieder hochkommt, sei es in drei oder in dreißig Jahren. Wie bei jedem großen politischen Projekt braucht es hier mutige Fragestellungen.

O&T: Ab 2025 ist in Magdeburg der Intel-Bau geplant, mit voraussichtlich mindestens 3.000 neuen Arbeitsplätzen. Was macht das mit dem Theater?

Chavaz: Es spornt uns an. Ich denke, es wird diese Stadt verändern. Wie sich die Stadt verändert, weiß weder die Oberbürgermeisterin noch ich noch die Menschen, die seit 60 Jahren hier leben. Man kann die Zukunft gestalten, aber man kann nicht alles vorhersagen. Internationalität ist wichtig. Ich sage immer: Wir sind einer der größten internationalen Arbeitgeber in dieser Stadt, werden das vielleicht nicht mehr sein, wenn Intel kommt. Wir sind eher die Vorreiter mit unseren fast 50 Nationen am Haus.

Alle reden vom Infrastrukturmangel. Es gibt allerdings noch Potenzial in dieser Stadt, zum Beispiel die Sprachkompetenz zu verbessern. Unsere jungen Balletttänzer*innen, die versuchen, einen Arzttermin zu bekommen oder eine Karte bei der Deutschen Bahn zu kaufen, werden manchmal angeschnauzt, weil sie nicht deutsch sprechen. Wenn diese Stadt die Wende schaffen möchte, ist es nötig, dass man an der Öffnung noch ein wenig weiterarbeitet. Dafür ist das Theater ein guter Motor.

O&T: Wenn das Theater 440 Mitarbeiter*innen hat und jetzt 3.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden, dann wird das sicher einen Anstoß geben und der internationalen Aufgeschlossenheit hier zuträglich werden.

Chavaz: Ja, es werden viel mehr Menschen kommen, auch mit Familien. Das wird eine große Wirkung auf die Stadt haben. Wenn ich in ein Land käme, das ich nicht kenne, würde ich, wenn ich eine Familie hätte, auf die Familienstruktur achten. Dann würde ich schauen, welche Möglichkeiten ich habe, mich sportlich zu entwickeln und welche kulturellen Angebote es gibt. Intel wird vom Theater profitieren, und wir werden bestimmt von diesen Menschen profitieren.

O&T: Vielleicht wird sich Intel auch bei der Förderung von Projekten einbringen.

Chavaz: Das wünsche ich mir natürlich.

O&T: Daraus ergibt sich dann möglicherweise die Frage, inwieweit man aus der privaten Wirtschaft einen potenziellen Einfluss befürchtet.

Chavaz: Würde es einen solchen Einfluss verlangen, würde ich das Projekt nicht durchführen. Aber ansonsten gäbe es, wenn so ein Unternehmen eine kulturelle Einrichtung fördern möchte, keinen Grund, auf dieses Geld zu verzichten.

O&T: Ich würde gerne noch einmal auf die politische Positionierung des Theaters zurückkommen. Gibt es die Intention sich abzusetzen von allem, was äußerst rechts oder rechtsradikal ist? Das ist ja auch in diesem Bundesland ein Thema.

Chavaz: Es ist immer eine Gratwanderung, wenn das Theater Politik macht. Wir können die Welt nicht ignorieren. Wir sind eine Stimme der Gesellschaft. Wir haben 440 Stimmen in diesem Theater, und diese Stimmen nicht zum Ausdruck kommen zu lassen, wäre nicht der richtige Weg. Auf der anderen Seite habe ich nie etwas von Aktionismus gehalten. Theater und Kunst bieten die Möglichkeit und die Chance für die Menschen, sich mit aktuellen Themen zu konfrontieren. Wenn ich über Rassismus oder Feindlichkeit gegenüber LGBTQA+ in der Zeitung lese, dann bilde ich mir eine Meinung. Wenn ich mich mit diesen oder anderen Themen aber während eines Abends im Theater befasse, dann kriege ich eine andere, eine reichere Perspektive. Nur durch die Bereicherung ihrer Perspektiven differenzieren die Menschen ihre Meinungen in Bezug auf Positionen, die gesellschaftsfeindlich sind. Ich möchte keine pädagogische, sondern eine gesellschaftsrelevante Rolle von Theater hervorheben.
Wir sind stärker, wenn wir über eine bestimmte Thematik einen tollen Abend spielen, beispielsweise beinhaltet die Inszenierung von „Im Menschen muss alles herrlich sein“ Themen wie Migration und Generationentrauma, aber auch Homosexualität. Das zeigt manchmal mehr auf, als wenn wir eine Pressemitteilung gegen rechts veröffentlichen. Das eine schließt das andere nicht aus, aber man sollte diese spezielle Rolle und Wirkung des Theaters nicht unterschätzen.

O&T: In Ihrem Programm haben Sie viele „Extras“: Sie laden prominente Schauspieler*innen ein, haben mehrere Vermittlungsprojekte, öffnen das Theater für die Menschen. Beispiele dafür sind die „Kerben“ für Menschen, die auf der Bühne Musik machen möchten, das Projekt „Sehnsucht“ mit aus der Ukraine Geflüchteten oder „Tresenchor“. Welche Idee steckt dahinter?

„Schneewittchen“, Ballett von Jörg Mannes mit Marco Marangio, Louise Curien, Ghabriel Gomes und Ensemblemitgliedern. Foto: Ida Zenna

„Schneewittchen“, Ballett von Jörg Mannes mit Marco Marangio, Louise Curien, Ghabriel Gomes und Ensemblemitgliedern. Foto: Ida Zenna

Chavaz: Ich bin an dieses Theater gekommen mit einem gewissermaßen konservativen Ansatz. Ich habe nicht einem Bereich Geld weggenommen, um es einem anderen zu geben. Es gibt aber einen Bereich, der gestärkt wurde, das ist die künstlerische Vermittlung. Wir haben vom alten Ansatz Theaterpädagogik zur künstlerischen Vermittlung gewechselt. Von der Stadt haben wir ein wenig zusätzliches Personal in diesem Bereich bekommen. Und die Vermittlung ist nicht nur für Kinder und Jugendliche gedacht, sondern auch für Gruppen, die zum Beispiel aus finanziellen Gründen, aus sprachlichen Gründen, aus Gründen des kulturellen Vermögens Hürden überwinden müssen, um ins Theater zu kommen..
Unser Ansatz: Wir sind nicht wie Fische in einem Aquarium und bitten das Publikum uns anzuschauen und zu bewerten. Die Bühne ist für alle geöffnet. Wir machen natürlich Inszenierungen. Aber unsere Bühnen gehören auch der Öffentlichkeit. Wer in unserer Stadt, in unserer Region, egal, mit welcher Sprachkompetenz, mit welchen Behinderungen ein Projekt mit diesem Theater machen möchte, hat die Möglichkeit. Wir denken nicht wirklich, dass das Theater am Schluss alle Menschen interessieren wird, aber wir denken, dass es unsere Verantwortung ist, diese Türen zu öffnen. Und es gelingt uns dank dieser großen Anzahl an Formaten. Es ist viel Arbeit und wir verdienen damit nichts. Aber wir verdienen ein treues Publikum und eine Offenheit in die Stadt, die durch unsere Vorstellungen im Theater so nicht möglich wäre.

O&T: Kommt das gut an?

Chavaz: Ja, es kommt sehr gut an. Wir haben jetzt mehr Clubs öffnen müssen aufgrund der Nachfrage. Wir entwickeln weitere Formate, wir öffnen den Tresenchor, auch den ukrainischen Frauenchor. Der wurde zwar nicht von uns gegründet, aber wir haben diesem Chor eine Bühne und Probenmöglichkeiten angeboten. Das sind Frauen, die nach dem Angriff auf die Ukraine zu uns geflüchtet sind und die auf nicht-professioneller Ebene in diesem Chor singen – mit einer professionellen Chorleiterin.

O&T: Sie haben einen neuen Ballettdirektor engagiert, Jörg Mannes. Welchen Stellenwert hat das Ballett hier im Haus? Wie wird es gestaltet, wie vom Publikum angenommen?

Chavaz: Als ich mich entschieden habe, die Ballettdirektion auszuwechseln, haben einige befürchtet, dass ich diese Sparte abspecken möchte. Das ist nicht der Fall – wir haben die gleiche Anzahl an Tänzer*innen, die Sparte hat das gleiche Budget. Was mich extrem erfreut, ist die sehr gute Auslastung. In den ersten sechs Monaten hat man wie bei jedem Intendanzwechsel ein bisschen skeptisch darauf geschaut, ein bisschen abgewartet. Jetzt merken wir, dass es sehr gut funktioniert. Ich würde das auf die Qualität des Inhalts zurückführen und auch auf die sehr ausgeprägte Fähigkeit von Jörg Mannes, mit dem Publikum in einen Dialog zu kommen. Er ist unschlagbar in seiner Fähigkeit, ein sehr sympathisches und positives Image zu erzeugen. Er macht tolle Veranstaltungen, um das Publikum kennenzulernen. Wir haben auch eine tolle energetische Compagnie, mit neuen Gesichtern. Das Ballett in Magdeburg lebt und hat eine schöne Zukunft vor sich.

O&T: Sie sagen, Sie sind mit den Auslastungszahlen wieder auf dem Stand von vor der Pandemie. Eine große Strategie für die Rückgewinnung des Publikums brauchen Sie also nicht?

Chavaz: Ich glaube, dass unsere Zahlen, hätten wir kein Corona gehabt, noch besser wären. Wir beobachten im Konzertbereich einen Rückgang des Publikums. Gewisse Sparten funktionieren etwas besser als vorher, die Gesamtzahlen sind also gut. Im Konzertbereich hat das auch mit dem Alter des Publikums zu tun. Ein weiteres Problem, das es auch in anderen Städten gibt, ist das Abo-Publikum, das wir nicht in gleicher Zahl zurückgewinnen werden. Da haben sich die Konsumgewohnheiten geändert. Es ist o.k., dass es weniger Abonnent*innen gibt, solange wir die gleiche Anzahl Karten verkaufen.

O&T: Wo sehen Sie das Theater Magdeburg in zehn Jahren?

Chavaz: Das Theater wird immer noch eine glänzende Zukunft haben. Diese Stadt wird sich sehr entwickeln und sich auch in Zukunft mit diesem Theater identifizieren. Das Theater wird reagieren können, wenn sich die Bevölkerung international öffnet. Wir haben die Möglichkeit, dieses neue Publikum anzusprechen. Ich denke auch, dass sich das Theater im Allgemeinen digitalisiert. Alle Menschen sind ständig am Handy. Das Theater ist eine der letzten Möglichkeiten, die unsere Gesellschaft bietet, das Handy auszuschalten. Es ist diese kollektive Erfahrung zusammenzugehen, zusammenzutreffen. Diese kollektive Erfahrung im Theater existiert seit 4.000 Jahren und wird znicht durch neue Technologien sterben – auf keinen Fall!

Wir werden auch von einem neuen Orchesterprobensaal profitieren. Das ist ein Projekt, über das seit 15 Jahren gesprochen wird. Manche Projekte brauchen eine lange Überlegungszeit, und plötzlich funktioniert es. So ist es bei uns mit dem Orchesterprobenraum. Seit 15 Jahren ist das ein Thema, und jetzt gibt es mit neuen Beigeordneten und neuen Gesichtern die richtige Konstellation. Den Raum werden wir in zweieinhalb Jahren eröffnen können. Das wird unserer Philharmonie sehr zugutekommen.

O&T: Arbeiten Sie als Regisseur gerne mit dem Chor?

Chavaz: Ich fühle mich nie so lebendig wie vor einem Chor. Ich habe lange Jahre als Regieassistent gearbeitet, auch in großen Häusern, mit 60 oder 70 Menschen im Chor. Alles, was ich einem Chor gebe, spürt der Chor und gibt es zurück. Das ist immer eine sehr schöne Begegnung. Wir haben einen tollen Chor in Magdeburg, sehr lebendig auf der Bühne. Ich mag das sehr.

O&T: Haben Sie Wünsche und Anregungen an die Mitarbeiter*innen?

Chavaz: Die Feedback-Kultur mehr zu pflegen und zu entwickeln. Ich merke – das ist vielleicht ein Klischee –, dass wir in diesem Teil des Landes viele Jahre hierarchiegeprägte Strukturen hatten. Dem Chef einmal zu sagen: Deine Inszenierung finde ich nicht so gut. Oder dem Schauspieldirektor zu sagen: Das Marketingpotenzial haben wir noch nicht ausgeschöpft. Man kann nicht allen gefallen, aber man kann sicherstellen, dass die Leute ihre Meinung sagen. Die guten Sachen entstehen meistens im Austausch und durch kollektive Intelligenz.

„Die Blume von Hawaii“ zum Beispiel war eine Gratwanderung. Wie möchte man mit dieser Figur umgehen? Ist es sensibel, zu sensibel, zu moralisch? Alles das sind Fragen für jeden Regisseur, jede Regisseurin. Ich habe bei der Konzeption zu den mehr als 60 Mitwirkenden gesagt, dass der sanfte Dialog und die kollektive Intelligenz zum besten Ergebnis führen werden. Das hat toll funktioniert.

O&T: Haben Sie eine Frage erwartet, die wir nicht gestellt haben?

Chavaz: Vielleicht die wichtige Frage, ob ich glücklich bin. Und die Antwort ist, das haben Sie vermutlich gemerkt: Ja, zu 100 Prozent. Wenn man so einen Job antritt, hat man Angst, dass er vielleicht zu viele Aspekte im Bereich Management und Politik hat, dass man keine Zeit hat, die Perspektive zu behalten und Kunst zu machen. Diese Befürchtungen haben sich nicht realisiert. Ich fühle mich sehr wohl.

 

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