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Berichte

Psychogramm eines Scheiterns

„Bovary“ – Choreografie des neuen Berliner Staatsballett-Intendanten Christian Spuck

Der Verfall geht schleichend vor sich. Das Verhängnis sind die Männer. Langsam, dabei ohne je eine Alternative in Erwägung zu ziehen, verstrickt sich Christian Spucks Emma Bovary in ein Netz aus Tristesse, inneren Wunden und Schulden. Flauberts nur selten für die Ballettbühne adaptierten Stoff leuchtet der Choreograf in seiner ersten Kreation als neuer Intendant des Staatsballetts Berlin körperrhetorisch und musikalisch stringent recht vorlagengetreu aus. Dass in „Bovary“ zahlreiche Roman-Motive ausgeklammert bleiben, ist gut. Über zwei Akte hinweg wird vor allem Emmas Konflikt mit sich selbst inszeniert. Immer wieder aus dem Off von Marina Frenk gesprochene, sprachlich fesselnde Zitate aus Flauberts Buch verdeutlichen gerade dies.

Dominik White Slavkovsky, Wolf Hoeyberghs, Ross Martinson, Dominik Whitbrook, Weronika Frodyma als Emma Bovary und Matthew Knight. Foto: Serghei Gherciu

Dominik White Slavkovsky, Wolf Hoeyberghs, Ross Martinson, Dominik Whitbrook, Weronika Frodyma als Emma Bovary und Matthew Knight. Foto: Serghei Gherciu

Immer wieder quittiert Emma dem spinnenartigen Warenhändler (Dominik White Slavkovský) dessen mit spitzer Feder in ein Büchlein notierte Bestellungen beziehungsweise Ausgaben. Später wird die lebenshungrige, verschwenderisch dem vermeintlichen Glück nachjagende Landarztfrau regelrecht bedrängt vom Apotheker (Matthew Knight), Notar (Dominic Whitbrook), Bürgermeister (Wolf Hoeyberghs) und Gerichtsvollzieher (Ross Martinson). Das Quintett der in der Dorfgemeinschaft wichtigen Männer formiert sich zu einem tolldreisten Rattenschwanz, der sich – sehr witzig anzusehen – nicht mehr abschütteln lässt. Emotional wird Emmas Weg jedoch von drei anderen, völlig verschiedenen Männergestalten geprägt. Mit dem ersten feiert sie Hochzeit (Alexei Orlenco als Charles Bovary: ein Ausbund an Geduld wie liebender Ignoranz). Es ist ein Fest unter einer schnell herbeigetragenen Girlande nackter Glühbirnen. Im Hintergrund läuft dazu der Schwarz-Weiß-Film eines frisch getrauten Bauernpaars. Ihre Amouren mit dem Studenten Léon (Alexandre Cagnat) und Gutsbesitzer Rodolphe (David Soares) sind stets aufs Neue ins Leere führende kurze Kicks. Choreografisch so abwechslungsreich wie szenisch perfekt gebaute Leuchtfeuer in Pas-de-deux-Form. Mehr schlichte Verführung und ein bedenkenloses, sich zunehmend einseitig ungezügeltes Hingeben an den Partner denn echte Leidenschaft.

Als der Vorhang sich hebt, ist Emma Bovary bereits tot. Entlang der Wände reihen sich schwarz verschleierte Frauen wie Statuen auf ihren Stühlen auf. Links unter ihnen hat Charles Bovary Platz genommen. Seitlich hinter ihm steht gefasst die Dienerin seiner Frau. Im Hintergrund wartet – noch regungslos – eine sich bald neugierig Richtung Unglücksort verbiegende Gruppe in gedeckter, ländlicher Kleidung. Rechts tanzt ein zeitlos wirkendes Paar: Ihr langsamer Pas de deux spiegelt womöglich Erinnerungen oder verpasste Chancen wider.

Darüber hinaus weiß Spuck in seinem Ballett eine abstrahierende Doppelbödigkeit und fast krankhaft-gespenstische Parallelebene unglaublich stark in kluge Anwendung zu bringen. Regelmäßig schieben sich körperlich famos agierende Männer, Frauen und Paare in tänzerisch komplett zeitgenössischem Duktus ins Blickfeld. Vergleichbar inneren Visionen, Wünschen oder Gefühlen überlagern sie ein Personenarsenal, das ab und an wie vom Choreografen in einem Gemälde festgenagelt wirkt. Aus diesem überlagernden Energiefluss ergeben sich Verschränkungen, die dem momentanen Befindlichkeitszustand der eigentlichen Rollenträger zusätzlichen Ausdruck verleihen. Gleich einem raffinierten Räderwerk spielt sich auf weiter Bühne ein atmosphärisch transparentes, tief beklemmendes Persönlichkeitsdrama ab.

Besonders eindrucksvoll bleibt Emmas qualvoller Todeskampf nach Einnahme einer Überdosis Arsen in Erinnerung. Solistin Weronika Frodyma schaufelt sich das weiße Pulver imposant staubend aus einem riesigen Apothekerglas, das plötzlich im Raum steht, Hand für Hand in den Mund. Ihr Sterben löst einen finalen Pas de deux mit ihrem Mann aus – mit berührenden Höhepunkten. Nicht nur in dieser Szene leistet die herausragende Interpretin schier Unglaubliches. Fast permanent auf der Bühne präsent zeichnet sie höchst eindrucksvoll die Entwicklung einer Frau nach, die – getrieben vom Zwang, sich aus ihrer provinziellen Beengtheit befreien zu wollen – letztlich auf ganzer Linie scheitert. Der Schluss-vorhang fällt, noch ehe Emma tot vom Stuhl zu Boden kippt. Das Premierenpublikum ist – völlig zu Recht – begeistert.

Vesna Mlakar

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