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Kulturpolitik

Was der Krieg verändert hat

Beobachtungen zu Künstlerinnen, Künstlern und Kunst aus der Ukraine in Deutschland

Die Idee zu diesem Beitrag reicht weit zurück. Bereits im Dezember 2022 begann die Recherche: Es ging um die Beschreibung der Situation ukrainischer Künstler*innen, die seit Beginn des Angriffskriegs Russlands im Februar 2022 nach Deutschland geflohen waren und sich hier um Aufenthalt und Arbeit bemühten; um neue Kolleg*innen, auch solche, die nur kurz blieben oder gastierten.

An der Hamburgischen Staatsoper zum Beispiel wurde Ende 2022 der Geisterchor in „Der fliegende Holländer“ von einem extra dafür engagierten Herrenchor aus Kiew gesungen, der ein beeindruckendes Konzert gegeben hatte. Einen Tag nach der letzten Vorstellung in Hamburg kehrten die ukrainischen Kollegen zurück und berichteten aus Kiew über Bombenangriffe auf ihre Stadt. Alle deutschen Theater und Orchester veranstalteten seit Kriegsbeginn Benefizkonzerte und spendeten für Notleidende in der Ukraine. Dimitar W. Dimitrow von der ZAV-Künstlervermittlung in Leipzig berichtete von einem vorbildlichen Fall: Noch im Februar 2022 bewarb sich die Ukrainerin Anna Bychkova um einen Vorsingtermin in der ZAV, erhielt aber bereits vor diesem ein Festengagement als Altistin im Opernchor des Staats-
theaters Nürnberg.

Auch in anderen Sparten und Konstellationen ergaben sich spontane Beschäftigungen und Projekte. Im Winter 2023 wurde die ukrainische Schauspielerin Olena Spyrydonova am Theater Erlangen Mitwirkende in „Kanal. Ein Stück aus Erlangen am Europakanal, der nach ca. 2510 km ins Schwarze Meer fließt“ von Anastasija Bräuniger und Linus Lutz. Bei der Sing-Akademie zu Berlin wurde die Ukrainerin Olga Prykhodko als Assistentin des Chorleiters Kai-Uwe Jirka engagiert, erhielt allerdings von einem Teil des Chorensembles Kritik aufgrund ihrer als zu stark empfundenen Ausrichtung auf Repertoire aus ihrem Heimatland. Das Staatstheater Meiningen präsentierte wenige Wochen nach Putins Angriff auf die Ukraine ein einmaliges Gastspiel der Oper Kiew mit Beethovens Freiheitsoper „Fidelio“, das nur durch eine Kette abenteuerlicher Fügungen bei Organisation, Transport und Reise zustande kommen konnte. Eineinhalb Jahre später – im Herbst 2023 – ist der Umgang mit dem Krieg und seinen personellen wie inhaltlichen Auswirkungen auf die europäischen Theater äußerst unterschiedlich. Deshalb können hier nur einzelne Tendenzen und Beobachtungen erfasst, aber nicht verallgemeinert werden.

Gastspiel der Oper Kiew in Meiningen mit „Fidelio“. Foto: Christina Iberl

Gastspiel der Oper Kiew in Meiningen mit „Fidelio“. Foto: Christina Iberl

In den letzten Monaten hat sich die Situation in der Ukraine nicht verbessert, selbst wenn dort an Theatern trotz äußerst riskanter Lebens- und Arbeitsbedingungen der Spielbetrieb wieder aufgenommen wurde. Solidaritätsbekundungen aus den Kulturszenen in Deutschland zeigen inzwischen zunehmend einen eher appellativen als empathischen Gestus: Mit hartnäckig artikulierten Forderungen geben Kulturschaffende ihrer Sehnsucht nach Frieden Ausdruck – gegen die militärischen Positionen Russlands in der Ukraine und deren Widerstand. In Deutschland werden personelle Konstellationen bei Besetzungen nach Nation und Perspektiven intensiv reflektiert – unter scharfer Beobachtung durch die Medien.

Zwei Ereignisse zeigen exemplarisch empathische beziehungsweise diplomatische Positionierungen. Am Maxim Gorki Theater in Berlin gastierte Anfang November das am 29. September 2023 im Teatr Powszechny Warschau uraufgeführte Stück „Mothers – A Song für Wartime“ von Marta Górnicka. In diesem erzählt ein Chor von mehr als 24 Frauen und ihren Kindern aus der Ukraine, Belarus und Polen von Kriegsritualen gegen Frauen und von deren Sehnsüchten. Es geht um die Darstellung von Leid, Betroffenheit und Hoffnung. Das andere Beispiel steht für ambivalente und nicht nur synergetische Verflechtungen: Die Staatskapelle Weimar gastierte am 22. Oktober im Müpa Budapest. Der Ukrainer Kirill Karabits, früherer Generalmusikdirektor der Staatskapelle Weimar, dirigierte Franz Liszts Dante-Sinfonie und dessen bereits 2018 auf CD eingespieltes Opernfragment „Sardanapalo“. Zur Besetzung gehörte der ukrainische Bariton Oleksandr Pushniak. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban hatte sich wenige Tage vor dem Konzert in Peking mit Wladimir Putin getroffen. Ein Beispiel also dafür, dass ein internationales Projekt unter den gegenwärtigen Bedingungen aus mehreren Gründen polarisieren könnte. Auftritte der russischen Sopranistin Anna Netrebko, deren Präsenz auf Bühnen der Weststaaten seit Kriegsbeginn sehr streitbar und kontrovers diskutiert wird, evozierten an der Berliner Staatsoper Unter den Linden im September gleichermaßen Begeisterung für die künstlerische Leistung wie Kritik an Netrebkos unentschiedener Positionierung zwischen Putin-Nähe und Verurteilung des russischen Angriffskriegs. Fast alle sich in Deutschland aufhaltenden Ukrainer*innen und viele Deutsche reagierten mit tadelndem Missverständnis und demonstrativem Widerstand, obwohl Staatsopernintendant Matthias Schulz erklärt hatte, dass sein Haus unmissverständlich auf der Seite der Ukraine stehe.

Ähnliche Tendenzen von Veranstaltungen und Kritik werden mit hoher Wahrscheinlichkeit die Haltung von Kultureinrichtungen bis zum noch ungewissen Ende des Kriegs bestimmen – also empathische Solidarität, komplizierte Konstellationen und ambivalente Entscheidungen mit versuchter Objektivität. Viele ukrainische Künstler*innen, die seit Februar 2022 nach Deutschland kamen, wollen wieder in die Ukraine zurück und dort in ihrem vertrauten Umfeld wirken, auch unter erschwerten Bedingungen. Jens Neundorff von Enzberg, Intendant des Staatstheaters Meiningen, stellt fest, dass die Zahl ukrainischer Bewerbungen an seinem Haus sich nach Kriegsbeginn nicht vergrößert hat. Für Ukrainer*innen, die bereits vor dem Krieg in Mitteleuropa ein Festengagement erhalten hatten, veränderte sich durch den Krieg in ihren Arbeitsverhältnissen nichts. Doch bekannte zum Beispiel die ukrainische Sopranistin Tetiana Miyus in einem Gespräch zur Neuproduktion von Nino Rotas „Der Florentiner Strohhut“ an der Oper Graz eine starke, durch die Kriegsauswirkungen bedingte menschliche Anspannung, welche zwangsläufig auf die Arbeit einwirkt. Die westeuropäische Karriere des ukrainischen Countertenors Yuriy Mynenko nahm bereits vor Beginn des Kriegs Fahrt auf und hat mit seiner Herkunft aus der Ukraine, in der sein Fach noch ungewöhnlich war, nichts zu tun. Wohl aber seine Situation: Für die Probenzeit und Vorstellungsserie in der Titelpartie von Händels „Ottone“ am Badischen Staatstheater Karlsruhe erhielt er für sich, seine Frau und seine Tochter eine Ausreisegenehmigung. Mynenkos 23-jähriger Sohn musste in der Ukraine bleiben und wurde zum Militär eingezogen. Neben solchen emotionalen und solidarischen Zerreißproben, welche Engagements ukrainischer Künstler*innen im Ausland für diese nach sich ziehen, bringen behördliche Bestimmungen für Sänger*innen und Tänzer*innen, weniger für Instrumentalsolist*innen, weitere Schwierigkeiten mit sich. Denn meistens sind die Produktionszeiten und Vorstellungsserien im deutschen Sprachraum von längerer Dauer als die Gültigkeit der Ausreisegenehmigungen.

Yuriy Mynenko als Ottone mit Raffaele Pe als Adelberto in „Ottone, Re di Germania“ am Badischen Staatstheater Karlsruhe. Foto: Felix Grünschloß

Yuriy Mynenko als Ottone mit Raffaele Pe als Adelberto in „Ottone, Re di Germania“ am Badischen Staatstheater Karlsruhe. Foto: Felix Grünschloß

Eine der am meisten vom Krieg und durch den erschwerten Austausch mit der Ukraine betroffenen Personen ist Matthias Georg Kendlinger. Die von ihm ohne Subventionen als freies Unternehmen geleiteten K&K Philharmoniker, Chor und Ballett sind komplett mit ukrainischen Musiker*innen besetzt. Seit 2002 hat Kendlinger zwischen seinem Wohnort in Tirol und der westukrainischen Großstadt Lviv ein engmaschiges Netzwerk für internationale Konzertreisen entwickelt. In Lviv gründete er auch das von 2017 bis 2019 und 2021 durchgeführte, dann durch die Pandemie unterbrochene Kendlinger Festival mit ausschließlich eigenen Kompositionen. Inzwischen finden die Tourneen der K&K Ensembles wieder in gleicher Häufigkeit wie vor der Pandemie statt. Für deren Orchesterdirektor Oleg Stankevych ist das Bemühen um die Ausreisegenehmigung inzwischen ein fast alltäglicher Vorgang. Vor allem für den Ernstfall, dass männliche Orchestermitglieder nicht ausreisen dürfen, hat das künstlerische Betriebsbüro der K&K Philharmoniker inzwischen Kontakt zu ukrainischen Substituten mit Wohnsitz in einem westeuropäischen Staat. Momentan betrachtet Kendlinger nicht die bürokratischen Vorgänge als die größte Schwierigkeit, sondern die sich aus den verschiedenen Lebensorten der Musiker in Ost und West ergebenden Besteuerungsvorschriften. Die meisten Orchestermitglieder sind inzwischen aus der von Russland besetzten Ostukraine in die Westukraine umgezogen. Aufgrund der im Krieg geltenden Bestimmungen wurde aus dem ständigen Orchester quasi ein Projektorchester mit begrenzten Probe- und Reisezeiten. Die Atmosphäre bei den Auftritten ist in den Gruppen von ständiger Angst und Sorge um die Angehörigen in der Heimat überschattet. Durch die sozialen Netzwerke bleiben die Katastrophen und Probleme in der Ukraine omnipräsent. Das schafft innerhalb der Ensembles einen starken empathischen Zusammenhalt. Obwohl Kendlinger derzeit nicht in die Ukraine reist, ist der Kontakt dorthin gut. Die von dort eintreffenden Bewerbungen zeigen nach Kendlingers Einschätzungsvermögen einen noch höheren Qualitätsstandard als vor dem Krieg. Durch die Verbundenheit mit dem künstlerischen Unternehmen fanden Musiker wie der ukrainische Dirigent und Klarinettist Taras Lenko in Tirol einen neuen Wohnort. Als Kapellmeister im Musikbund Schwaz bestreitet Lenko neben seinen Aufgaben bei den K&K Philharmonikern eine Position, in der sich der Familienvater wohl fühlt und zugleich regelmäßig mit dem Ersten Konzertmeister Ihor Muravyov bei koordinierten Hilfsaktionen für sein Heimatland aktiv sein kann.

Der Krieg hat einen bemerkenswert förderlichen Einfluss auf die Verbreitung bisher weithin unbekannter ukrainischer Kulturschöpfungen in Westeuropa. Bereits vor der Pandemie setzten sich Persönlichkeiten wie Oksana Lyniv und Kirill Karabits für die Verbreitung der ukrainischen Kunstmusik in der Welt ein. Eine durch die Zeitläufte beschleunigte Blitzkarriere machte die bei München lebende ukrainische Musikwissenschaftlerin Adelina Yefimenko mit mehreren Lehraufträgen in München und Dresden sowie Radiosendungen über ukrainische Musik. Sie und andere ukrainische Musikschaffende schreiben es russischen Musikbotschaftern und Werbestrategien zu, dass die ukrainische Musik aufgrund einer über Generationen wirksamen „russischen Propaganda“ viel zu wenig internationale Wertschätzung erhält. Seit Beginn des Krieges erklingen in Deutschland ukrainische Werke so häufig wie noch nie – Lieder, Arien, Chöre, Kammermusik und Orchesterwerke, allerdings bislang kaum Musiktheater.

Von einer eindeutigen Favorisierung ukrainischer Musik gegenüber russischer Musik hält Jens Neundorff von Enzberg wie viele seiner Intendanzkolleg*innen wenig. Man ist gegenüber der Ukraine solidarisch. Trotzdem wird Neundorff von Enzberg auch weiterhin russische Sänger*innen engagieren. Ein wesentliches Kriterium für Engagements ist wie vor dem Krieg die Qualifizierung und das passende Qualitätsspektrum für die vorgesehenen Aufgaben. „Wir haben ukrainische Werke auf ihre Eignung für den Meininger Spielplan geprüft und unsere Absage begründet“, sagt Neundorff von Enzberg. „Man kann und darf seine Solidarität nicht auf ein Land konzentrieren. Auch dem Publikum helfen zur Meinungsbildung keine plakativen Botschaften, welche die Texte in eine konkrete Richtung beziehungsweise Tendenz interpretieren. Ein hoher Wert des Theaters generell ist seine Vieldeutigkeit.»

Das Gastspiel der Staatskapelle Weimar mit zwei ukrainischen Mitwirkenden in Ungarn, dessen Staatsoberhaupt mit dem russischen Angreifer Putin diplomatische Beziehungen fortsetzt und zugleich EU-Mitglied ist, gerät zu einem exemplarischen Beispiel für einen differenzierenden Umgang mit Konstellationen und Inhalten zwischen den ideologischen und ethischen Fronten. Denn in diesem Fall ging es nicht um Russland und die Ukraine, sondern um den ungarischen Komponisten Franz Liszt. Und dieser gehört wie bekannt zu Ungarn, zu Frankreich, zum Kirchenstaat, zu Italien und zum Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach.

Derzeit eskaliert ein weiterer sich zum weltweiten Krisenherd zuspitzender Konflikt zwischen Palästina und Israel. Anders als bei der Ukraine kann die klassische Musikszene nicht mit einem ähnlichen Zuwachs an Aufführungszahlen von Kompositionen israelitischer und jüdischer Komponist*innen reagieren wie im Fall ukrainischer Musik. Denn das Schaffen israelischer und jüdischer Provenienz wird bereits seit einigen Jahrzehnten in großem Umfang im Repertoire und bei Themenfestivals der deutschen Theater und Musikeinrichtungen erschlossen und gepflegt.

Roland H. Dippel

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