Kulturpolitik
Auf ein Wort mit Klaus Zehelein
Im Gespräch mit Barbara Haack, Tobias Könemann und Gerrit Wedel
Klaus Zehelein, langjähriger Dramaturg, Operndirektor und Intendant, wurde in diesem Jahr mit dem FAUST für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Zehelein war Dramaturg an den Bühnen der Landeshauptstadt Kiel, Chefdramaturg am Staatstheater Oldenburg, Chefdramaturg an den Städtischen Bühnen Frankfurt am Main, später dort auch koordinierter Operndirektor, freier Schauspiel- und Operndramaturg in Berlin, Frankfurt, Brüssel und Wien, Künstlerischer Direktor des Hamburger Thalia Theaters und – von 1991 bis 2006 – Intendant der Staatsoper Stuttgart. Von 2003 bis 2015 war er Präsident des Deutschen Bühnenvereins, von 2006 bis 2014 Präsident der Bayerischen Theaterakademie August Everding in München. Im Gespräch mit „Oper & Tanz“ ging es um seine Erfahrungen und Einschätzungen zum Theaterbetrieb.
Oper & Tanz: Als Dramaturg und Intendant machen, erleben und beobachten Sie Theater seit vielen Jahrzehnten. Wie sehen Sie die Entwicklung insbesondere des Musiktheaters der letzten 40 Jahre? Wie sehen Sie Relevanz und Akzeptanz des Theaters in einer durchaus nicht unkomplizierten Zeit?
Klaus Zehelein.
Foto: = oggi e adesso
Klaus Zehelein: Wenn ich die letzten 50 Jahre überblicke, hat sich in einigen Punkten nicht sehr viel geändert. Es gab immer wieder Zeiten, die derjenigen ähneln, in der wir uns jetzt befinden: dass nämlich gespart werden soll. Wenn Sie an die 60 Milliarden denken, die fehlen: Da wird schlussendlich die Kunst gegen das Soziale ausgespielt oder das Soziale gegen die Kunst. Wir kennen das. Ich kann sagen, dass es nur wenige Kulturpolitiker gibt wie Hilmar Hoffmann seinerzeit in Frankfurt, von dieser Stärke und von diesem enormen Überzeugtsein von dem, was er machte. Sie sind alle vorsichtiger geworden. Wir hatten das Glück, William Forsythe als Ballettchef zu engagieren. Das war am Anfang ganz schwierig. Das Publikum ist nicht gekommen. Hoffmann war aber ein Kulturpolitiker, der einen langen Atem hatte und von Forsythe überzeugt war: „Wir müssen durchhalten.“ Er musste im Magistrat verteidigen, dass bei einem Haus von 1.400 Plätzen vielleicht nur 300 oder 400 besetzt waren. Und er hat ausgehalten. Nach einem Jahr hatte sich das erledigt. Es wurde deutlich, dass Forsythe ein Weltstar ist. Das haben die Frankfurter dann auch bemerkt. Heute erleben wir eher die Tendenz, schnell zu urteilen: „Das geht nicht gut.“ Das ist dann wie beim Fußball: Der Trainer muss so bald als möglich gehen. Das gab es zwar früher auch – aber es gab eben auch das andere.
Wir hätten in Frankfurt ohne Hilmar Hoffmann die ersten Jahre nicht überdauert, wenn da ein Kulturpolitiker gewesen wäre, wie ich sie heute vielfach kenne, die eben nicht dieses Durchhaltevermögen haben. Hilmar Hoffmann brachte auch ein eigenes Programm mit: „Kultur für alle.“ Er war jemand, der wusste, was er tut. Ich habe heute vielfach das Gefühl, dass die Kulturpolitik bestimmt wird durch andere Faktoren und nicht durch das, wodurch sie eigentlich bestimmt werden müsste, nämlich durch Kenntnis der Künste und das Engagement für diese Künste.
O&T: Wenn die Person Hilmar Hoffmann jetzt noch einmal neu geboren würde, meinen Sie, dass er noch einmal denselben Erfolg hätte?
Zehelein: Das weiß ich nicht. Aber er würde sich genauso verhalten, das weiß ich.
O&T: Würden Sie sagen, dass er mit seinem Prinzip „Kultur für alle“ erfolgreich war?
Zehelein: Wieso soll das nicht erfolgreich sein, wenn dieser Titel „Kultur für alle“ so offen ist für so vieles?
O&T: Es geht ja bei „Kultur für alle“ auch um das Thema Vermittlung, Lust zu machen, Menschen zu berühren, die man bisher nicht berührt hat.
Zehelein: Da sehe ich heute einen Fortschritt. Als ich im Theater anfing, gab es so etwas wie Vermittlung nicht. Und als sich allmählich das Bewusstsein der Theatermacher änderte, dass da etwas geschehen musste, bezog sich die Vermittlung doch in erster Linie auf die Institution und nicht auf das, was diese Institution ermöglicht, nämlich auf die Kunst. Es war am Anfang mehr eine institutionelle Vermittlung als eine Kunstvermittlung als begleitete Eröffnung eines Raumes möglicher Erfahrungen. Und das hat sich geändert. Es muss um das gehen, was auf der Bühne oder im Konzertsaal geschieht. Ich denke, dass diese Frage der Vermittlung immer wichtiger geworden ist – auch übrigens für mich.
Als ich am Theater anfing, habe ich immer gesagt: „Da gibt es nichts zu erklären, das Theater ist selbsterklärend.“ Doch dann haben wir festgestellt: Es geht gar nicht um Erklärungen, sondern um die Möglichkeit, jemandem ein Feld zu eröffnen, es für sich zu entdecken als etwas, das schön ist. Vielfach ist leider die Schule daran schuld, dass Vermittlung „Stoffvermittlung“ bedeutet und nicht, die Kunst selbst als ein Angebot für jedes einzelne Kind und Jugendlichen zu begreifen, als etwas, das unser Leben reicher macht. Es geht also um die Vermittlung von Erfahrungen und nicht um sterile Kenntnisse. Und das ist heute weitaus klarer formuliert als vor 40 oder 50 Jahren. Manchmal habe ich allerdings den Eindruck, dass Theaterleitungen zwar wissen, dass diese Arbeit zentral ist, aber ihre Ressourcen dafür sehr knapp halten. Oft gibt es keine eigenen Räume und keinen eigenen Etat. Es gibt viele Häuser, die sehr großen Wert auf Vermittlungsarbeit legen, aber nicht die Voraussetzungen dafür schaffen. Das ist etwas, das sich noch ändern muss.
O&T: Wie wird Musiktheater heute aus Ihrer Sicht inszeniert und gestaltet? Es gibt zum Beispiel Entwicklungen technischer Art, etwa Videoprojektionen, Augmented oder Virtual Reality. Wie sehen Sie diese Entwicklung als Dramaturg?
Zehelein: In den 1960er-Jahren gab es eigentlich keine Operndramaturgie. Die gab es bei Felsenstein in der Komischen Oper, die ich als Student kennenlernte, aber sonst nirgendwo. In den 1970er-Jahren bewunderte ich die Arbeit der Berliner Schaubühne, die zeigte, was künstlerische Arbeit braucht, nämlich die absolute Seriosität der Vorarbeit und die Möglichkeit, nicht nur einen klugen Text zu verfassen, sondern auch die Produktion zu begleiten. Die regelmäßige Anwesenheit der Dramaturgie auf den Proben halte ich für ganz zentral, weil sie sozusagen die erste Zuschauerin und gleichzeitig auch eine Mitproduzentin ist.
O&T: Es gibt im Musiktheater den guten alten Spruch „Prima la musica, poi le parole“. In der Entwicklung der Dramaturgie der letzten Jahrzehnte gibt es doch einen Trend weg davon, die Musik alleine für sich wirken zu lassen. Die Figuren werden sehr viel stärker gezeichnet, die Story tritt sehr viel mehr in den Vordergrund, wird unterschiedlich ausgelegt und es wird auch darstellerisch von den Sängerinnen und Sängern viel mehr verlangt. Sehen Sie darin einen vielleicht sogar notwendigen Schritt, um das Musiktheater up to date zu halten?
Zehelein: Sie sprechen wohl damit den Begriff des Regietheaters an. Ich würde den nicht so akzeptieren. Wenn ich zum Beispiel an die historischen Antipoden denke, Wieland Wagner und Walter Felsenstein, zeigt sich doch eine große Breite von Gestaltung des Musiktheaters insgesamt. Das wird heute zu wenig gesehen. Es wird so getan, als ob das so genannte Regietheater ein großer Sprung vorwärts sei. Es ist eine Verbreiterung, würde ich sagen, kein qualitativer Vorgang, sondern ein quantitativer.
Klaus Zehelein mit Laudator Kirill Serebrennikow. Foto: Krafft Angerer/Deutscher Bühnenverein
In den 1960er-Jahren war die gängige Opernpraxis, Figuren zu arrangieren, die Szene als Arrange-ment. Es gibt eine schöne Geschichte, die Peter Stein mir erzählt hat: Er inszenierte „Das Rheingold“ in Paris; dann kam der Dirigent zu den Endproben und sagte: „Und jetzt mal alle nach vorne.“ Das war so das Prinzip – prima la musica. Das hat sich heute erledigt. Die Musik ist das Zentrum, aber sie wird und kann nicht alles bestimmen.
Die Vielfalt unterschiedlicher Narrationen durch die Arbeit mit den neuen Medien kann eine richtige Entscheidung sein. Auf der anderen Seite ist sie aber auch gefährlich, weil mit der Postmoderne ein Einbruch erfolgt ist, das „anything goes“, eine Beliebigkeit von Behauptungen, jenseits einer mehrperspektivischen Öffnung der Narration.
O&T: Wann haben Sie zuletzt eine Musiktheater-Aufführung gesehen, die Sie richtig bewegt oder beeindruckt hat?
Zehelein: Das letzte, was ich gesehen habe, war die szenische Realisierung von Henzes „Floß der Medusa“ am Flughafen Tempelhof in Berlin. Das war eine technische Geschichte, die fasziniert, aber eindimensional ist gegenüber der Komplexität der gesellschaftspolitischen Herausforderung des Stückes. Es war eine Art von versuchter Bebilderung, nicht Erweiterung, nicht Verdichtung.
O&T: Sie haben sich selbst immer eingesetzt für Avantgarde und Neue Musik. Hat so eine Aufführung, effektvoll und mit besonderer Kulisse, vielleicht auch etwas Vermittelndes für Menschen, die an diese Art der Musik herangeführt werden?
Zehelein: Ich bin kein Purist, aber ich glaube nicht, dass man über solche imposanten Erzählungen Wesentliches erfährt, was Musik-theater ausmachen kann
O&T: Heißt das, dass für Sie die Frage „Guckkastenbühne – ja oder nein“ keine Rolle spielt? Dass es eher darauf ankommt, was mit der Präsentationsform rübergebracht werden soll und dass etwas rübergebracht wird?
Zehelein: Es kann auch Sinn machen, im Olympiastadion eine Aufführung zu machen. Das kann aber ebenso gut oberflächlich und dumm sein. Der Ort ist nicht das Entscheidende, kann es aber in seiner spezifischen Gestaltung sein.
Ich möchte es an einem Werk und dessen Geschichte beschreiben: „Prometeo“ von Luigi Nono. „Prometeo“ wurde in einer Kirche mit einem Mittel-Altar, gleichzeitig Ort der Klangregie, aufgeführt. Renzo Piano hatte eine „Arca“, eine Art Schiffskörper aus Holz um die Besucher gebaut. Es fanden dann später mehrere Aufführungen an anderen Orten statt. Da zeigte sich, dass die Komposition und die Arbeit, die Nono und Piano gemacht hatten, doch sehr aufeinander bezogen gewesen war. In Frankfurt, im großen Saal der Alten Oper, fand zum Beispiel eine Aufführung ohne die „Arca“ statt, ohne die Fokussierung der Akustik und Optik: ein großer Verlust für die Wahrnehmung des Werkes.
O&T: In Stuttgart haben Sie ein anderes sehr wichtiges Projekt realisiert, nämlich „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“. Erzählen Sie uns, wie das war, gerade auch in Bezug auf die Inszenierung und die Raumfrage?
Zehelein: Wir sollten die Salzburger Festspiele 2001 damit eröffnen. Ein Jahr davor bekamen wir eine Absage aus „politischen und finanziellen Gründen“. Da die gesamten Endproben dieser Produktion in Salzburg hätten stattfinden sollen, mussten wir neu disponieren, da wir vor der Stuttgarter Premiere Vorstellungen des „Mädchens“ in der Pariser Opéra Garnier zur Eröffnung des Festival d’Automne zugesagt hatten. Wir entschlossen uns, das Stuttgarter Haus über eine Woche zu schließen, die geplanten Vorstellungen abzusagen, um ausschließlich am „Mädchen“ zu arbeiten: Von morgens bis abends war die Konzentration aller auf Lachenmanns Oper fokussiert. Man ging nachts um elf oder zwölf Uhr beglückt nach Hause und wusste: So muss Theater sein. Salzburg war vergessen! Nach der zweiten Instanz wurde die Staatsoper Stuttgart für diese wunderbare Erfahrung mit 400.000 Euro belohnt.
O&T: Wie ist es angekommen beim Publikum in Stuttgart und Paris? Auch als etwas ganz Besonderes?
Zehelein: Zur Wiederaufnahme als Eröffnung der folgenden Spielzeit haben wir in Stuttgart sechsmal hintereinander das „Mädchen“ gespielt. Natürlich haben wir uns gefragt, ob das gut geht. Es war sechsmal fast ausverkauft! Als Eröffnung, wo man normalerweise dann lieber „Aida“ oder „Il trovatore“ spielt, irgendetwas, was angeblich „Kasse“ macht. Da sieht man einmal, wie falsch man liegt, wenn man meint, klüger zu sein als das Publikum. Es waren sehr, sehr gute Vorstellungen.
Abschlussfoto der FAUST-Verleihung im Thalia Theater Hamburg. Foto: Krafft Angerer/Deutscher Bühnenverein
Ein anderes Erlebnis hatte ich mit demselben Werk an der Deutschen Oper Berlin. Dort wurde während der Sanierung des Hauses das Orchester vor dem Eisernen Vorhang im Raum platziert. Dadurch gab es einen sehr differenzierten Raumklang. Und ob mir jetzt die Aufführung gefallen hat oder nicht: Vom Klangerlebnis war das die beste Aufführung, die ich gehört hatte.
O&T: Muss man einfach ein gutes avantgardistisches Stück auswählen, damit das Publikum kommt? Oder, um noch einmal auf den Vermittlungsaspekt zurückzukommen: Braucht es doch etwas, um so ein Werk zu erklären oder zu vermitteln?
Zehelein: Überraschend war, dass der Orchestervorstand vorschlug, das Staatsorchester würde gerne vor jeder Vorstellung den interessierten Besuchern demonstrieren, wie sie die Klänge realisieren. Das ist ja bei Lachenmann etwas ganz Spezifisches. Dem schloss sich der Chor an. Professor Herrmann, eine Kollege Lachenmanns, übernahm die Leitung. Gegenüber dem Opernhaus liegt das Kammertheater. Dort wurde jeweils eine Stunde vor den Vorstellungen die instrumentale Hinführung zum „Mädchen“ gemacht. Das bedeutete für Orchester und Chor eine Wanderung dorthin, dann wieder zurück ins Opernhaus. Das war für alle kein Problem, man spürte die Lust an der Vermittlungsarbeit. Diese teilte sich mit. Die neue, die zeitgenössische Oper ist nicht weniger attraktiv als die traditionelle Oper. Einzig die Intensität der Arbeit ist das Entscheidende, es kann dort schiefgehen, und es kann da schiefgehen. Es gibt Musiker, die meinen: Wenn ich bei der Neuen Musik mal falsch spiele, merken die Zuschauer das sowieso nicht. Das ist eine Haltung, die ich nicht respektiere, mit der ich überhaupt nichts anfangen kann. Ein Publikum merkt nämlich, ob eine Aufführung insgesamt überzeugend gelingt. Ich glaube, wir unterschätzen die Energie, die von einer Produktion ausgehen kann.
O&T: Diese Energie ist doch eigentlich das Wesentliche an Theater und Musik. Sie ist genau das, was man nicht mit Worten ausdrücken kann.
Zehelein: Ein anderes Beispiel: „Intolleranza 1960“ von Luigi Nono haben wir 29-mal gespielt. Das ging, weil der Chor eine solche Präsenz hatte. Dieses Stück wurde bis dahin vom Chor eingespielt und vierkanälig wiedergegeben. Es gibt da einige Nummern, die auch wirklich vierkanälig komponiert sind, die man nicht live machen kann. Aber abgesehen davon kann man das natürlich live singen und gestalten. Der Chor ist die Hauptfigur im Stück, das Zentrum. Und wenn der Chor agiert und singt, nimmt es einem den Atem, das ist überwältigend. Das merkt ein Publikum. Es wurde damals eine CD gemacht, und die Einnahmen mussten verteilt werden. Ich habe also Chor- und Orchestervorstand zusammen eingeladen und gesagt: „Jetzt mache ich Ihnen einen Vorschlag. Der Chor bekommt genauso viel wie das Orchester.“ Da war was los im Orchestervorstand. Normalerweise bekam das Orchester zwei Drittel, der Chor ein Drittel. Wir haben uns dann auf meinen Vorschlag geeinigt. Aber erst einmal war das Erstaunen über einen solchen Vorschlag sehr groß. Das ist typisch Institution: Sie meint, alles müsse nach ihr funktionieren.
Bei der Vorarbeit zu „Intolleranza 1960“ erlebte ich im Gespräch mit Chordirektor und Chorvorstand eine große Überraschung. Als ich sagte, wir würden das gerne live machen, erwiderten beide unisono: „Das ist ja unendlich schwer, wie stellen Sie sich das vor?“ Beide kannten das Stück! Beide hatten vor Jahren bei einer konzertanten Aufführung unter Abbado mitgewirkt, der eine als Sänger, der andere als Stellvertretender Chordirektor.
Wir haben dann das gemacht, was das Stück verlangte, wir haben immer wieder geprobt, eine ganze Spielzeit hindurch, zwischen allen fünf Premieren anderer Werke. Es war schwierig für den Chor: nach Mozart „Intolleranza“, nach Verdi „Intolleranza“, nach Wagner „Intolleranza“, immer wieder „Intolleranza“. Aber es war die einzige Möglichkeit, dieses Stück auswendig in Präsenz zu zeigen. Man muss sich nach den Anforderungen eines Kunstwerks richten und nicht nach den Vorgaben einer Institution.
Die Institution behauptet eisern die Tradition; nichts ist veränderbar. Wenn wir etwas verändern, ist es immer ein Risiko, weil das institutionelle Denken auf Sicherheit aus ist, auf Überschaubarkeit, Rationalität, Logik. Künstlerische Arbeit weiß davon, aber sie konfrontiert diese im Aussetzen der Verfügbarkeit mit der Erfahrung des Assoziativen, des Unbewussten, des Rätselhaften und Unerlösten, im Zulassen des noch nicht Ausdefinierten, Ambiguen und der Notwendigkeit der Verausgabung.
O&T: In Ihrem Beispiel geht aber Quantität über Qualität. Die Anforderungen an die Anzahl der Inszenierungen von Neuproduktionen, die rausgehauen werden müssen, kann man ja zumindest in Frage stellen.
Zehelein: Genau das wollte ich gerade tun. Ein Beispiel: Ein ehemaliger Opern-Intendant in Zürich hat immer behauptet, er müsse so und so viele Premieren machen, sonst kämen die Züricher nicht. Sein Nachfolger hat zwei Premieren gestrichen – und das Haus ist weiterhin gut besucht. Daran sieht man, wie eine Ungewissheit zu von Ängstlichkeit getragenen Entscheidungen führt. Wir haben in Stuttgart regelmäßige Gespräche mit der Kasse, dem Abowesen und dem Vorderhauspersonal eingeführt. Das sind die Menschen, die in direktem Kontakt mit unserem Publikum stehen. Wir müssen auf das reagieren, was sie uns sagen. Und wir müssen ihnen auch erklären können, was wir tun und warum wir es tun.
O&T: Sie waren von 2003 bis 2015 Präsident des Deutschen Bühnenvereins. Wie haben Sie die Zusammenarbeit oder Auseinandersetzung mit den Gewerkschaften erlebt und wie erleben Sie es heute?
Zehelein: Es wird ja immer gesagt, das Hauptproblem sei die Orchestervereinigung für ein Opernhaus. Da ich aber vorher auch schon im Tarifausschuss des Bühnenvereins saß, kannten wir uns bereits. Ich bin ein großer Verfechter der Gewerkschaften. Sie sind für eine offene Gesellschaft unabdingbar.
O&T: Wir sind ja im Moment in einer sehr grundlegenden Tarifsituation mit dem Deutschen Bühnenverein. Wir wollen die Arbeitszeiten und damit natürlich auch die Arbeitsweisen der Häuser teilweise kräftig angehen. Wie positiv oder wie skeptisch sehen Sie das, was wir da im Moment aufs Tapet bringen?
Zehelein: Es gibt Überzeichnungen von Problemen und auch von Forderungen. Wir werden das Theater letztlich nicht organisieren können wie ein Finanzamt. Wir werden eingehen müssen auf die Notwendigkeiten, die uns die Kunstwerke stellen. Genauso wie die Institution muss das Subjekt, das am Theater arbeitet, sehr wohl mit den spezifischen Bedingungen, die uns das Kunstwerk abverlangt, umgehen, und das ist nicht einfach. Aber letztlich gibt es da keine komplette Vermittlung zwischen Privatheit und dem künstlerischen Arbeitsanspruch. Ich sehe das sehr gespalten, was da im Moment passiert. Natürlich darf ein Theater nicht familienfeindlich sein. Aber ich weiß, dass es in der Vergangenheit auch Möglichkeiten gab, die realisiert wurden. Ich täusche mich wohl nicht, wenn zum Beispiel die Münchner Kammerspiele unter Frank Baumbauer kaum Probleme damit hatten.
Ich frage mich, ob es denn für alles eine allgemeine Regel geben muss. Es muss nicht immer jede Regelung festgeschrieben sein. Die Frage nach der Ausbeutung ist berechtigt gestellt. Aber erst einmal ist Kunst zu ermöglichen, Kunst zu machen immer auch eine Art der Selbstausbeutung. Aber es geht nicht, dass ein Intendant diese Selbstausbeutung als gottgegeben totalisiert.
O&T: Heißt das vielleicht, dass man bei den Führungs- und Leitungsqualitäten der Intendant*innen ansetzen muss? Denn wir erleben ja durchaus Häuser, in denen es auch unter den jetzigen Regelungen sehr verträgliche Arbeitsbedingungen gibt. Aber es gibt eben auch Problemhäuser, in denen skandalöse Bedingungen herrschen. Die rufen uns dann auf den Plan – und dann müssen eben doch die allgemeinen Regelungen her. Wie sehen Sie die Möglichkeit für den Deutschen Bühnenverein, auf Führungsqualifikationen einzuwirken?
Zehelein: Es gibt kein festes Berufsbild des Intendanten oder des Direktors. Aber ich würde gerne noch einmal woanders ansetzen. Wir haben ja schon festgestellt, dass viel zu viel produziert wird. Es gibt keinen Grund für den unverhältnismäßigen Druck auf die Ensembles durch zu viele Premieren. Das betrifft auch eine ästhetische Haltung, eine ästhetische Entscheidung, Zeit zu haben für weniger arbeitsintensive, aufreibende Probenarbeit. Das gilt für das gesamte Haus bis in die Technik – sowohl für Schauspiel als auch für Oper.
Ob man es lernen und erfahren kann, das ist schwer zu beantworten. Ich denke, ja, es müsste zumindest einen Ort geben, an dem die Probleme klar artikuliert werden, von gewerkschaftlicher Seite und von Seiten der Arbeitgeber. Und es müsste gerade in der Ausbildung die Möglichkeit geben, über diese Problematik mehr zu erfahren.
Oper & Tanz: Sie sind soeben mit dem Theaterpreis DER FAUST für Ihr Lebenswerk geehrt worden. Es ist nicht der erste Preis, den Sie bekommen haben. Was bedeutet gerade dieser Preis für Sie?
Zehelein: Dass ich nicht alles im Leben falsch gemacht habe…
Als wir in Stuttgart zum fünften Mal Opernhaus des Jahres wurden, sagte ich: Das ist alles sehr schön, dieser Erfolg dient auch der Kommunikation mit den Politikern. Die Auszeichnung „Opernhaus des Jahres“ hat eine Verlängerung in die Gesellschaft hinein. Das gibt es bei diesem Preis nicht. Ich sehe es als eine Belobigung, über die ich mich freue, aber ich sehe keinen Impuls darin für andere. „Lebenswerk“, das klingt so abgeschlossen.
O&T: Wir erleben Sie allerdings gar nicht so, als hätten Sie schon „abgeschlossen“.
Zehelein: Ein Stückchen Lebenswerk will ich mir doch noch behalten! |