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... Laurent Hilaire, Ballettdirektor des Bayerischen Staatsballetts
Im Gespräch mit Barbara Haack

Seit Mai 2022 ist Laurent Hilaire Direktor des Bayerischen Staatsballetts. Nach Abschluss seiner Ausbildung an der Ballettschule der Pariser Oper im Jahr 1979 wurde er Mitglied des Ballet de l’Opéra de Paris. Im Jahr 1985 ernannte ihn Rudolf Nurejew zum „danseur étoile“. Er gastierte als Solist beim Royal Ballet in London, an der Mailänder Scala, beim American Ballet Theatre, dem Australian Ballet und beim Staatsballett Berlin. Ab 2005 war er Ballettmeister an der Pariser Oper. Im Jahr 2011 wurde er in den Rang des „Maître de ballet associé à la direction de la danse“ erhoben. Als Ballettmeister arbeitete er auch mit dem National Ballet of Canada, dem Teatro dell’Opera di Roma, dem Royal Swedish Ballet, der Scala di Milano, der Shanghai Ballet Company und anderen Ensembles zusammen. Von 2017 bis 2022 war Laurent Hilaire künstlerischer Direktor des Stanislawski-Balletts. Unter seiner Leitung nahm das Stanislawski-Theater eine Reihe von Ballett-Choreografien in sein Repertoire auf, unter anderem von Alexander Ekman, Serge Lifar, William Forsythe, George Balanchine, Paul Taylor, Jacques Garnier, Marco Goecke, Ohad Naharin, Johan Inger, Trisha Brown, Angelin Preljocaj, Sharon Eyal, Andrey Kaidanovskiy, Max Sevaguin und Hofesh Schechter. Das Stanislawski-Ballett wurde 2018 für das beste klassische und 2019 für das beste zeitgenössische Ballett des Jahres in Russland mit der „Goldenen Maske“ ausgezeichnet. Im Februar 2022 trat Laurent Hilaire als künstlerischer Direktor des Ensembles zurück und übernahm im Mai 2022 die Leitung der Münchner Compagnie. Barbara Haack sprach mit ihm über seine Entscheidung, Russland zu verlassen und seinen Start in München. Das Gespräch wurde auf Französisch geführt.

Oper & Tanz: Drei Tage nach Ausbruch des russischen Kriegs gegen die Ukraine haben Sie in Moskau gekündigt. Wie ging es Ihnen mit dieser Entscheidung?

Foto: Julian Baumann

Foto: Julian Baumann

Laurent Hilaire: Diese militärische Operation, die tatsächlich eine Kriegserklärung war, hat mich schockiert. Ich kam morgens ins Theater, und die Kurse, die Proben liefen ganz normal, obwohl die Situation überhaupt nicht normal war. Moskau war weit weg, der Konflikt hatte gerade erst begonnen, es gab für die Menschen dort also keinen Grund, gleich alles abzubrechen. Für mich war es aber erschreckend, dass gerade ein Krieg begann und auf der anderen Seite alles ganz normal weiterlief. Da stimmte etwas nicht.

Ich liebe mein Land, ich schätze vor allem die Kultur der Redefreiheit. Zu wissen, dass man in Russland das Wort „Krieg“ unter Androhung einer Haftstrafe von bis zu 15 Jahren nicht mehr sagen durfte, war für mich völlig inakzeptabel. Als Staatsbürger, als „citoyen“, konnte ich nicht mehr in einem Land leben, in dem die Redefreiheit in diesem Ausmaß nicht mehr respektiert wurde.

Ich hatte dort fünf Jahre lang gearbeitet und hatte immer die Freiheit, zu tun, was ich wollte. Es gab nie irgendeinen Zwang. Ich wusste, dass es nicht das demokratischste Land war, aber es gab einen Kulturaustausch zwischen Russland und Frankreich, zwischen Künstlern, zwischen der Zivilgesellschaft, zwischen Präsident Macron und Präsident Putin. Und plötzlich gab es dieses Verbot, bestimmte Dinge zu sagen. Ich wartete noch 24 Stunden, dann bin ich zum Direktor gegangen, um ihm meine Kündigung mitzuteilen. Darüber gab es keine Diskussion. Ich wollte noch einen Tag bleiben, um mit den Tänzerinnen und Tänzern zu sprechen. Immerhin hatte ich fünf Jahre lang mit ihnen gearbeitet. Ich habe ihnen den Grund für meine Kündigung genannt, habe mit ihnen über den Krieg gesprochen. Dann habe ich Russland verlassen. Ich hätte nicht gedacht, dass ich eines Tages gezwungen sein würde, so zu handeln.

O&T: Wie haben die Tänzer*innen der Compagnie reagiert?

Hilaire: Die Jahre der Zusammenarbeit waren eine wunderbare Erfahrung. Tänzer*innen, wo auch immer sie sind, haben die gleichen Bedürfnisse, ob in Moskau, hier in München, in Paris oder auch in Berlin oder New York. Das ist eine große Familie, eine künstlerische Gemeinschaft. Das Repertoire, die Zahl der Auftritte: Das ist für sie das Wichtigste. Das war auch in dieser Compagnie so. Und an dem Tag, an dem ich ging, wurde das gesamte künstlerische Programm, die Öffnung hin zu zeitgenössischen Choreografen, die ich nach Moskau eingeladen hatte, abgesagt. Sie haben plötzlich verstanden, dass dies das Ende von etwas war. Wir hatten im Monat Februar noch ein schönes Programm vor uns: Im Juni sollte es ein Werk von Hofesh Shechter geben, wir wollten William Forsythe machen und eine Choreografie von Sharon Eyal. Das wurde alles annulliert.
Ich ging weg, und die Arbeit mit diesen Choreografen fand nicht mehr statt. Eine solche Zusammenarbeit, etwas gemeinsam zu entwickeln, ist immer eine Frage einer engen menschlichen Beziehung, des Vertrauens und des Respekts. Und es kostet Zeit.

Aber es gab einige Fragen. Einige Mitglieder der Compagnie, nicht unbedingt die Tänzer, dachten, dass politische Kräfte oder die französische Botschaft mich aufgefordert hätten zu kündigen. Aber das ist nicht wahr. Ich habe das allein entschieden – in meiner Eigenschaft als Staatsbürger, als „citoyen“. Einige konnten das nicht verstehen, weil es aus ihrer Sicht so nicht funktioniert. In deren Sicht ist es der Staat, der entscheidet, oder ein Minister stellt Forderungen. Und es ist dann keine Frage, dass man diese befolgt.

O&T: Wie war es für Sie, von einem auf den anderen Tag Moskau zu verlassen, eine Stadt, in der Sie immerhin fünf Jahre gelebt hatten?

Hilaire: Es ging alles so schnell, dass ich gar keine Zeit hatte, darüber nachzudenken. Ich habe Freunde in Russland, die ich jetzt nicht mehr sehe und die ich vermisse. Ich weiß, dass viele von ihnen unter der aktuellen Situation leiden. Für die Compagnie ist es künstlerisch ein Schritt zurück. Und das wird noch länger andauern. Wann wird es für sie wieder möglich sein, mit Choreografen aus der ganzen Welt zu arbeiten? Mit Choreografen, die wieder Lust haben, nach Russland zu kommen und dort Neues zu erarbeiten?

Was mir in meiner Zeit dort gelungen ist und worüber ich sehr glücklich bin: Viele russische Festivals haben begonnen, Compagnien aus der ganzen Welt einzuladen. Neu war auch, dass eine russische Compagnie mit Hofesh Shechter, mit William Forsythe oder Sharon Eyal oder auch Ohad Naharin arbeitet. Das hatte es vorher nicht gegeben. Mit Eyal hat es so gut funktioniert, dass sie zugesagt hat, eine eigene Kreation für diese Compagnie zu machen. Das war etwas ganz Besonderes. Und diese Tänzer*innen haben es verdient – sie waren offen dafür. Aber das Leben geht weiter...

O&T: Hat es Ihnen keine Angst gemacht, dass Sie plötzlich keinen Job mehr hatten?

Hilaire: Nein, ich hatte gar keine Zeit Angst zu haben. Und meine Motivation zu gehen war so stark, da war wirklich etwas Wesentliches meiner Persönlichkeit berührt. Deshalb habe ich mir die Frage gar nicht gestellt. Ich dachte: Man wird sehen. Und man muss dem Leben vertrauen.

O&T: Es hat ja funktioniert. Der Wechsel von Moskau nach München ging sehr schnell.

Hilaire: Ende Februar 2022 bin ich zurückgekehrt in mein Haus in Südfrankreich. Dort bin ich einen Monat geblieben. Dann begannen die Gespräche in München, und im darauffolgenden Mai war ich hier. Das ist wunderbar.

O&T: Wie sind Sie hier angekommen? München könnte man – im Vergleich mit Moskau oder Paris – fast schon als Provinz bezeichnen…

Hilaire: Das Gefühl habe ich gar nicht. Es gibt ein großartiges Theater, eine große Compagnie, einen Saal mit 2.000 Plätzen, es läuft sehr gut für das Ballett. Und es ist sehr angenehm, in München zu leben. Ich habe mich in Moskau sehr wohl gefühlt, aber ich bin auch glücklich, dass ich wieder in eine europäische Stadt zurückkehren konnte.

O&T: Hat die Compagnie Sie hier mit offenen Armen empfangen?

„Tschaikowsky-Ouvertüren“ am Bayerischen Staatsballett; Mitglieder der Compagnie. Foto: Nicholas MacKay

„Tschaikowsky-Ouvertüren“ am Bayerischen Staatsballett; Mitglieder der Compagnie. Foto: Nicholas MacKay

Hilaire: Als ich die Tänzer zum ersten Mal getroffen habe, habe ich ihnen gesagt: Ich werde mich auf euch einlassen, ich werde sehr viel Zeit mit euch verbringen, nicht nur im Büro, sondern auch im Studio. Darüber waren sie glücklich. Ich denke, eine Compagnie wünscht sich einen Direktor, der sie unterstützt, der dafür sorgt, dass sie arbeiten, sich entwickeln, vorwärtskommen kann. Das habe ich gespürt. Ich vertraue ihnen, und ich weiß, dass sie mir vertrauen. Für mich ist das die einzig mögliche Art der Arbeitsbeziehung. Wenn ich im Studio bin und mit ihnen arbeite, sind sie sehr aufnahmebereit. Sie sind froh, jemanden zu haben, der sich kümmert. Da bin ich natürlich nicht der Einzige. Es gibt ja auch die Ballettmeister*innen.

Ich komme mit meiner Geschichte, mit meinen Erfahrungen von all den Orten, an denen ich gearbeitet habe. Ich versuche, ihnen etwas vorzuschlagen, das sie weiterbringt. Das schafft eine gemeinsame Energie.

O&T: In der Spielzeitvorstellung haben wir gehört, dass die Compagnie in der nächsten Spielzeit 18 Vorstellungen mehr bestreiten wird.

Hilaire: Ganz genau, darüber sind wir sehr glücklich.

O&T: Das ist aber auch sehr viel Arbeit…

Hilaire: Ja, viel Arbeit, aber die Tänzer erwarten das. Tänzer*innen sind glücklich, wenn sie auf der Bühne stehen. Je mehr sie auf der Bühne stehen, desto mehr wachsen sie, desto mehr entwickeln sie sich weiter. Und sie wünschen sich das ebenso wie die Tournee, die wir planen. Ich habe ihnen das Programm vor dem Pressegespräch vorgestellt, und sie freuen sich darüber, dass sie mit guten Choreografen zusammenarbeiten können. Das ist ihr Leben: das Lernen, die Proben und die Aufführungen.

O&T: Wieviel Veränderung, wieviel Kontinuität planen Sie in Bezug auf das Programm? Wie wird das Verhältnis sein zwischen klassischem und modernem Tanz?

Hilaire: Ich liebe den klassischen Tanz, und ich liebe den modernen Tanz. Es geht darum, ein Gleichgewicht zu finden, auch abhängig von der Spielzeitplanung; mal wird es mehr klassischer Tanz sein, mal mehr moderner. Es hängt auch von den Möglichkeiten ab, von den Notwendigkeiten, auch von der Zahl der Produktionen insgesamt. Wir planen zum Beispiel einen Abend mit dem Titel „Blickwechsel“, mit einem klassischen und einem modernen Teil. Das liebe ich: auf der einen Seite die Eleganz des klassischen Tanzes, auf der anderen Seite das Moderne.
Als ich mit dem Bayerischen Kulturminister sprach, habe ich ihm gesagt, dass das meine Kultur ist. Ich denke, dass es auch zu diesem Theater gehört. Es ist ein Staatstheater mit einem Repertoire, mit einer Geschichte, mit einem Erbe. Es ist wichtig, sich das bewusst zu machen. Es ist sehr wichtig, dieses Erbe fortzusetzen.

O&T: Würden Sie sagen, dass es einen Unterschied gibt zwischen den Tanzstilen in Moskau, Paris und München?

Hilaire: Ja, es gibt zum Beispiel Unterschiede in der Art des Arbeitens. Als ich nach Moskau kam, gab es viel „Port de Bras“ und ein bestimmtes System der Beinarbeit, um die Qualität zu halten. Hier in München haben die Tänzer auch eine große Qualität und einen großen Enthusiasmus, aber ich werde sicher an der Präzision arbeiten. Beim Tanz ist es wie mit der Schrift: Man kann schreiben und man kann kalligraphieren. Man versteht auch die Schrift, aber diese Kalligraphie zu entwickeln, mit allem, was der Körper anbietet, den Armen, dem Rücken, den Beinen, dem Kopf, dem Blick, den Füßen, das ist wichtig. Je mehr es uns gelingt, dies alles sichtbar zu machen, desto besser werden die Werke interpretiert, desto besser versteht das Publikum, was passiert.

Es geht darum, dem Publikum seine Geschichte zu beschreiben durch das, was es selbst sieht. Das ist interessant beim Ballett: Man erzählt etwas, damit sich jeder etwas Eigenes vorstellen kann. Das ist es, was auch Jean Cocteau gesagt hat: Es sind nicht die Tänzer, die etwas erklären, es ist das Publikum, das das versteht, was es sich wünscht. Darin liegt die Magie.

O&T: In Deutschland wird derzeit viel diskutiert über den Stil von Führungspersonen im Theater, Intendant*innen, Ballettchefs und -chefinnen, Generalmusikdirektor*innen. Wie würden Sie Ihren Führungsstil beschreiben?

Gruppenfoto des Bayerischen Staatsballetts nach einer „Cinderella“-Vorstellung. Foto: K. Orlova

Gruppenfoto des Bayerischen Staatsballetts nach einer „Cinderella“-Vorstellung. Foto: K. Orlova

Hilaire: Ich habe den Tänzern von Anfang an gesagt: Wenn es etwas gibt, wenn ihr ein Problem habt: Mein Büro ist hier, meine Tür steht euch offen. Es ist normal, dass ein Direktor mit seinen Künstlern spricht. Das kann ein Problem mit dem Programm sein oder etwas, das sie nicht verstehen. Ich bin selbst Tänzer und kann erklären, warum bestimmte Dinge so sind, wie sie sind. Dann funktioniert es. Ich glaube, die wichtigsten Dinge in einer Compagnie sind Respekt, die Achtung vor der Arbeit jedes und jeder Einzelnen und die Kommunikation. Heute verlangen die Menschen nach Gerechtigkeit und nach Ehrlichkeit in den Beziehungen. Wenn ich einen Fehler mache, sage ich das: Es tut mir leid, ich habe mich geirrt. Ein anderes Mal werden sie selbst Fehler machen. Ich denke, wir brauchen eine Art Spiegeleffekt zwischen uns. Ich bin nicht gegen die Tänzer, ich bin mit ihnen. Wir haben hier derzeit, denke ich, keine Kommunikationsprobleme.

O&T: Sie sind trotz allem der Chef.

Hilaire: Natürlich, das sage ich ihnen auch. Ich habe die Verantwortung, ich treffe bestimmte Entscheidungen. Aber es ist wichtig, diese Entscheidungen zu erklären; nicht zu rechtfertigen, aber zu erklären. Dann können sie verstehen und sie akzeptieren – oder auch nicht. Natürlich ist meine Sichtweise, meine Vision in gewisser Weise subjektiv, aber das wird von mir in meiner Arbeit auch verlangt: mit meiner Vision, meiner Erfahrung auszuwählen, Urteile zu finden über bestimmte Werke. Und wenn sie eine Erklärung brauchen, erkläre ich. Ich denke, bisher läuft das sehr gut.

O&T: Ein anderes virulentes Thema ist aktuell alles, was mit #MeToo zusammenhängt. Das betrifft auch den Tanzbereich. Spielt das hier eine Rolle für Sie?

Hilaire: Natürlich sind auf der ganzen Welt Dinge passiert, die absolut inakzeptabel sind. Da hat sich schon etwas getan, und das ist gut. Natürlich ist Respekt vor jeder Person wichtig, es gibt Wörter, die man nicht sagen kann und die ich im Übrigen auch nicht sagen will. Man kann Dinge sehr direkt sagen ohne jede Zweideutigkeit. Es ist wichtig, darauf zu achten.

O&T: Nehmen Sie solche Probleme in Ihrer Compagnie wahr?

Hilaire: Bisher habe ich darüber nichts gehört. Wenn es ein solches Problem gäbe, würde ich mit den Betroffenen sprechen. Ich habe aber derzeit nicht das Gefühl, dass es solche Probleme gibt. Es ist eine Gemeinschaft von Tänzern: Sie kennen sich untereinander gut, sie arbeiten den ganzen Tag zusammen. Natürlich kann es da ab und zu Spannungen geben, aber keine großen. In der täglichen Zusammenarbeit sind sie miteinander solidarisch. Was ich an diesem Haus liebe, ist der Geist der Equipe. Die Tänzer haben eine wirklich gute Beziehung untereinander. Sie denken nicht alle gleich, aber wenn es etwas Wichtiges gibt in Bezug auf die Bühne, auf die Vorstellung, gehen sie alle zusammen. Das ist eine große Qualität.

O&T: Gibt es gar keine Konkurrenz zwischen den Tänzern?

Hilaire: Natürlich gibt es die. Es wäre naiv zu glauben, dass es nicht so ist. Gleichzeitig ist das natürlich auch ein Ansporn. Ich nehme nicht wahr, dass sich das negativ auswirkt. Ich beobachte, wie sie miteinander umgehen, wie sie sich gegenseitig ermutigen, wie sie Premieren vorbereiten, und ich glaube nicht, dass es eine besondere Form von Neid gibt, keinen sichtbaren zumindest. Natürlich sehe ich das von meinem Platz als Direktor. Ich lebe mein Leben, sie leben ihr Leben. Ich bin nicht ihr Vater, nicht ihr Guru… Ich mache meine Arbeit und erwarte, dass sie ihre Arbeit machen – mit einer offenen Kommunikation.

O&T: Noch einmal zurück zum Krieg Russlands gegen die Ukraine. Viele Menschen sind der Meinung, man dürfe jetzt keine russischen Komponisten mehr spielen, keine russischen Künstler mehr einladen. Wie denken Sie darüber?

Hilaire: Ich bin damit nicht einverstanden. Ich frage mich, was Tschaikowski mit Putin zu tun hat. Es gibt große russische Komponisten, nicht nur Tschaikowski, auch Prokofjew und andere. Ich denke: Sobald Künstler offiziell Stellung genommen haben – für oder gegen Putin – müssen sie sich der Konsequenzen bewusst sein. Es gibt bestimmte Reaktionen, die ich für legitim halte.

Aber Künstler haben das Recht zu denken, was sie wollen. Oft haben sie auch Familien in Russ-land. Ich habe Russland verlassen, weil man mir verboten hat, bestimmte Dinge zu denken. Ich werde dies niemandem verbieten, selbst wenn er oder sie Putin unterstützt, es aber nicht sagt. Ich gestehe jedem Menschen das Recht zu, anders zu denken als ich. Wir leben in einer Demokratie.

Abgesehen davon: Ich arbeite in einem Studio, ich arbeite mit Künstlern an der Kunst. Russische Künstler zu stigmatisieren, nur weil sie Russen sind, hat überhaupt keinen Sinn. Es gibt russische Künstler in der Compagnie und russische Künstler in Russland, die nicht einverstanden sind.

Es ist ein bisschen brutal, ein bisschen beschränkt zu sagen: Jemand ist Russe, also… Ich verstehe, dass bestimmte Fragen gestellt werden müssen. Aber es ist wie mit den Büchern: Sollen bestimmte Autoren, weil sie bestimmte politische Meinungen haben, nicht mehr publiziert werden dürfen? Jeder hat das Recht ein Buch oder eine Platte zu kaufen – oder auch nicht; das Recht, eine Aufführung anzuschauen – oder auch nicht. Man hat immer die Wahl. Ich denke zum Beispiel an den französischen Autor Louis-Ferdinand Céline, der sich während des Krieges antisemitisch geäußert hat. Er hat Meisterwerke geschrieben, die überhaupt nicht antisemitisch sind. Ich lese diese Bücher, weil sie zur französischen Literatur gehören. Es gibt ähnliche Beispiele. Muss, darf man diese Bücher oder auch Platten verbieten oder gar verbrennen? Ich denke: Nein!

Bayerisches Staatsballett
Spielzeit 2023/2024

Den Auftakt der Spielzeit feiert das Bayerische Staatsballett im September mit „Blickwechsel“ (s. Interview): Der „Grand Pas Classique“ aus „Paquita“ wird einem zeitgenössischen Werk aus „Sphären.01|Goecke“ gegenübergestellt.

Premieren:

  • 25. November 2023: „Le Parc“
    Ein abendfüllendes Werk des französischen Choreografen Angelin Preljocaj zur Musik von Wolfgang Amadeus Mozart
  • 12. April 2024: „Duato/Skeels/Eyal“
    Eröffnung der Ballettfestwoche mit einem neuen modernen Dreiteiler, der Werke von Nacho Duato, Sharon Eyal sowie eine Neukreation des Kanadiers Andrew Skeels vereint

Im Rahmen der Ballettfestwoche:

  • „Tryptich: The missing door, The lost room and The hidden floor“; dreiteiliges Programm des belgischen Tanztheater-Ensembles Peeping Tom
  • 18. Juli 2024: „Sphären.02 | Preljocaj“ Angelin Preljocaj kuratiert die zweite Ausgabe von „Sphären“. Neben einem Werk von Preljocaj werden zwei zeitgenössische Ballette der jüngeren Generation zu sehen sein.

Wiederaufnahmen:

  • „Wie der Fisch zum Meer fand“ im Rahmen des Kind & Co-Programms
  • „Cinderella“ von Christopher Wheeldon als Gastspiel in Baden-Baden
  • „Alice im Wunderland“ von Christopher Wheeldon
  • „Onegin“ von John Cranko
  • „Tschaikowski“-Ouvertüren von Alexei Ratmansky
  • „La Bayadère“ in der Fassung von Patrice Bart (in München und auf einer Gastspielreise nach Madrid)
  • „Schmetterling“ von Paul Lightfoot und Sol León
  • „Romeo und Julia“ von John Cranko

 

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