Berichte
Zahnlose Groteske
Dmitri Schostakowitschs „Lady Macbeth von Mzesnk“ in Hamburg
Auf diese Idee muss man erst einmal kommen. Zwischen dem dritten und finalen vierten Akt wird ein Film eingeblendet: eine große Wiese mit Bäumen im Hintergrund, im Vordergrund ein kleiner Dorffriedhof. Es gewittert, blitzt und stürmt. Der Pope hält auf Russisch eine Grabesrede auf die beiden Toten, Boris Ismailow und seinen Sohn Sinowi. Sie wurden bekanntlich von Katerina Ismailowa und ihrem Liebhaber Sergei getötet. Offenbar hat Angelina Nikonova ein großes Problem damit.
Tigran Martirossian als Pope, Dmitry Golovnin als Sergei, Camilla Nylund als Katerina Ismailova und der Chor der Hamburgischen Staatsoper. Foto: Monika Rittershaus
Mit dieser Filmsequenz gelingt es jedenfalls der 1976 geborenen Filmregisseurin aus Russland binnen Sekunden, die gesamte Dramaturgie dieser Oper in Musik und Handlung auf den Kopf zu stellen. Immerhin bekommen in Dmitri Schostakowitschs Oper „Lady Macbeth von Mzensk“ sämtliche Protagonisten ihr Fett weg, eben auch der Pope, der herrische Schwiegervater Boris oder der schwächliche Sinowi. Nur die tragische Titelheldin Katerina wird in Musik und Wort ernst genommen.
Im Grunde bringt die Filmsequenz generell das große Dilemma dieser Neuproduktion an der Hamburger Staatsoper in der Urfassung dieses Werks auf den Punkt. Der Oper wurde jedweder Humor genauso ausgetrieben wie die bitterböse, scharfe Groteske und klare Positionierung. Offenbar mag Nikonova keine drastischen Darstellungen von roher Gewalt und Sex. Nur so ist es zu verstehen, dass die Köchin Axinia (Carole Wilson) hier in ein Fass gesteckt und misshandelt wird: Eins-zu-Eins-Regie nach Reclamheft. Dabei zeichnet die Musik Schostakowitschs ganz klar eine Massenvergewaltigung.
Geradezu viktorianisch-prüde inszeniert Nikonova die legendäre Beischlaf-Musik zwischen Katerina (eindrücklich: Camilla Nylund) und Sergei (Dmitry Golovnin): Während sich die Liebenden in der Musik hörbar vergnügen, samt frivolen Posaunenglissandi zur Darstellung des Geschlechtsakts mit Ejakulation, fällt ein Vorhang. Was dahinter passiert, muss man sich selber denken: Kopfkino wie in der moralinsauren Adenauer-Zeit der 1950er-Jahre, passend historisierend und plüschig zudem die Bühne und Kostüme von Varvara Timofeeva.
Auch die Szene, in der Katerinas Schwiegervater Boris (sehr präsent: Alexander Roslavets) den Schürzenjäger Sergei fast totprügeln lässt, wird in der Drastik deutlich abgemildert. In Zeiten von „MeToo“-Debatten und abgründigem Ukraine-Krieg inszenierte Nikonova diese Oper, wie Kent Nagano sie mit dem Philharmonischen Staatsorchester Hamburg musikalisch interpretierte: mit angezogener Handbremse.
Schon die Hamburger Premiere von Schostakowitschs Erstlingsoper „Die Nase“ wirkte 2019 unter Nagano recht brav und zahm. Das hat sich nun verstärkt. Ob die faktische Massenvergewaltigung, die Beischlafmusik, die Prügelszene oder der jähe Zusammenbruch der Katerina im finalen Akt: Dieser Musik wurden sämtliche Zähne gezogen. Zwar waren alle Solisten wie auch der Staatsopern-Chor gesanglich um schärfende Charakterisierungen bemüht, allerdings konnten sie sich darstellerisch in dieser brav-faden Regie und musikalischen Darbietung im Orchester kaum entfalten.
Man muss nicht miterlebt haben, wie Mstislaw Rostropowitsch dieses Werk im Jahr 2000 im Münchner Prinzregententheater mustergültig verlebendigte. Man muss auch nicht in Amsterdam gewesen sein, wo Mariss Jansons und Martin Kušej 2006 eine packende Deutung gelang. Schon am nahen Lübecker Stadttheater hatte in der Saison 2015/2016 eine in Orchester und Regie eindrückliche „Lady Macbeth von Mzensk“ Premiere.
Was in Hamburg bleibt, ist Ernüchterung. Wenn Josef Stalin diese zahnlos-harmlose Produktion erlebt hätte, wäre es womöglich nicht zum folgenschweren Hetzartikel „Chaos statt Musik“ in der „Prawda“ gekommen, mit der er dem Erfolgszug der Oper in Russland zunächst ein Ende setzte.
Marco Frei
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