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Ein phänomenaler Chor
Meyerbeers „Die Hugenotten“ als Grossprojekt von Genf und Mannheim

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Ein phänomenaler Chor

Meyerbeers „Die Hugenotten“ als Grossprojekt von Genf und Mannheim

Bei dieser Produktion stimmte einfach alles. Das gründliche Nachdenken über die von ihnen inszenierten Stücke ist beim Regie- und Dramaturgie-Duo Jossi Wieler und Sergio Morabito selbstverständlich. Im Winter kam ihre Inszenierung von „Les Huguenots“ als Koproduktion aus dem Grand Théâtre der Calvin-Stadt Genf in den Pfalzbau Ludwigshafen, die Ersatzspielstätte des Nationaltheaters Mannheim – wie in Genf mit Legitimierung durch die regionale Geschichte. Die Residenzstadt am Rhein nahm mehrfach religiös motivierte Flüchtende auf.

Was für eine Konstellation! Die 1836 in Paris uraufgeführten „Hugenotten“ sind das Werk eines jüdischen Komponisten preußischer Herkunft: eine fast vierstündige Grand opéra über die Ereignisse bis zur Bartholomäus-Nacht am 24. August 1572, in der über 5.000 Hugenotten auf Befehl der königlichen Familie hingerichtet wurden. Die populärste Oper des 19. Jahrhunderts wurde zum nur selten auf gleicher Höhe erreichten Paradigma der Gattung. Die Muster historischer Filmsujets haben bereits hier ihren Ursprung.

Ensemble des Mannheimer Nationaltheaters. Foto: Christian Kleiner

Ensemble des Mannheimer Nationaltheaters. Foto: Christian Kleiner

Analogien zum Genre des historischen Romans bestehen seit Alexandre Dumas’ „La reine Margot“ inhaltlich und strukturell. Das alles findet man in dieser ausladenden wie penibel auf den Punkt gebrachten Produktion. Anna Viebrock setzte Architektur-Zitate des Genfer Doms zwischen hohe Betonmauern mit Lüftungsschlitzen. Beziehungsreich und intelligent durchdringen sich Filmaufnahmen, „fertige“ Filmszenen und „reale“ Begebenheiten zu burleskem Geplänkel und rabiater Drastik. „Wir wollen, dass sich die Oper in all ihrem überbordenden, auch verwirrenden Reichtum artikulieren kann“, sagte Sergio Morabito. Das ist gelungen: Das wunderbare Mannheimer Ensemble wie der phänomenale Chor, das ideal schmetternde wie schwelgende Nationaltheater-Orchester und der sportiv-trickreiche Kapellmeister Jānis Liepiņš leisten in der letzten Vorstellung der Serie am 5. Februar Außerordentliches. Musikalische Souveränität befeuert die szenische Dramatik und umgekehrt. Bewundernswert und noch einen Kick Meyerbeer-affiner als die anderen agiert Estelle Kruger in der haarsträubend schwierigen und koloraturenreichen Partie der Marguerite de Valois. Die Königin ist hier eine Filmproduzentin in Hollywoods Glanzzeit. Charismatisch zieht sie mit zirzensischen Tönen an den menschlichen und politischen Strippen – frivol, aber herzlich. Sängerische und szenische Gestik sind auch bei allen anderen in perfektem Einklang.

Bei den großen Tableaus verzahnt die Personenregie kleine Solopartien, Chor, Extrachor und Statisterie derart, dass man die Gruppen aus dem Zuschauerraum meistens nur noch mit ganz scharfem Blick voneinander unterscheiden kann. Ein dialektisches Musterstück ist schon der erste Akt. Zu Meyerbeers Arrangement des Chorals „Ein feste Burg ist unser Gott“ irren blutbefleckte Lemuren durch die Kirche, nehmen den grausamen Schluss vorweg. Gleichzeitig kommen die Spitzen der katholischen Gesellschaft vom Tennis. Wunden haben fast alle aus den kleineren religiös begründeten Scharmützeln, dem das eine große gräuliche Blutvergießen folgen muss. Im Chor und bei den Solisten sitzt jede Geste und jede Silbe wie beim lyrisch gefassten, noblen Nevers von Nikola Diskić. Sein Schwiegervater in spe St. Bris (Stefan Sevenich) ist Boxer und Machtstratege. Anrührend und mit beeindruckend lyrischer Bass-Substanz gerät Sung Ha die komplexe Figur des Marcel zwischen Naivität, Gewaltbereitschaft und Anhänglichkeit an Raoul bis zur Selbstaufgabe. Gleich zwei Charlie-Chaplin Doubles gibt es. Zum einen den Protestanten Raoul de Nangis, den die Königin zum Zeichen des Religionsfriedens mit der Katholikin Valentine verheiraten will. Anton Rositskiy gibt erst einen feingliedrigen Softie. Der geschliffenen Souveränität der Katholiken setzt er nichts entgegen als einen gegen Ende immer schöneren Tenor, mit dem er die gefährlichen Höhenlagen im Liebesduett ohne Fehl und Tadel nimmt. Aus dem Pagen Urbain wird eine androgyne Referenzposition. Hyemi Jung spielt alle Flirt- und Frechheitskapriolen dieser Partie aus, behält zum Glück das oft gestrichene Solo im zweiten Aufzug. Frédérique Friess hatte ihr Partiendebüt als in der zweiten Hälfte dominierende Frauenfigur Valentine. Eine betörend lyrisch-kräftige Sopranstimme setzt sie ein – das Duett mit Marcel und das Schlussterzett werden zu Höhepunkten.

Ana Durlovski als Marguerite de Valois. Foto: Christian Kleiner. (Die Rolle war doppelt besetzt.)

Ana Durlovski als Marguerite de Valois. Foto: Christian Kleiner. (Die Rolle war doppelt besetzt.)

Großartig gerät im dritten Akt die von Altea Garrido plausibel choreografierte Chor- und Tanzszene. Eine Massenstudie über den sich viral ausbreitenden Hass der Katholiken gegen ihre Religionsgegner bis zur manischen Besessenheit. Wieler und Morabito zeigen, wie emotionale Kettenreaktionen bei Bagatellanlässen explodieren und sich zum Vernichtungsorkan aufblähen. Penibel ausgefeilt entwickelt der Chor auf der Bühne ein subtil gesteigertes Crescendo der Gewalt. Anna Viebrocks Bilder und Kostüme setzen Zeichen auf drei Ebenen: religiöser Hintergrund, Filmstudio und direkte Handlung. Das alles steckt in Meyerbeers genialer, noch immer aktueller Oper. Der Chor aber ist hier der dynamische und dramaturgische Kitt, ohne den dieses beklemmende Panorama auf Höhe dieser faszinierenden Eindringlichkeit nicht möglich gewesen wäre. Dass Dani Juris seine Gruppe überdies noch toll einstudiert hatte, trug zum brutalen ästhetischen Vergnügen dieser sagenhaften Aufführung wesentlich bei.

Roland H. Dippel

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