Berichte
Mittelalter mit KI und XR
Eine Live XR-Oper im Bonner Kunstmuseum
„Speculum maius – großer Spiegel“, so nannte der Mönch Vinzenz de Beauvais die erste Enzyklopädie der Weltgeschichte, die er am Hofe des französischen Königs um 1244 gesammelt hat – um die Welt im Sinne eines Spiegels, der die Welt reflektiert, zu verstehen und zu erklären.
Maria Stamenkovic Herranz (Mönchsgestalt). Foto: Thilo Beu
Naturgemäß ist seitdem eine Menge an Wissen hinzugekommen, ein Transfer aus dem Mittelalter in unsere Gegenwart ist dennoch nicht uninteressant: Der Mönch hält uns so den Spiegel vor. In Bonn wurde genau das versucht; die mittelalterliche Enzyklopädie wurde, in Kooperation mit dem Theater Bonn, mit zeitgemäßer Technologie auf die Bühne gebracht. Aber was kam dabei heraus? Wenn man den vollmundigen Ankündigungen glauben durfte, eine „interaktive Live XR-Oper“, also nicht etwa nur szenisches Musiktheater, sondern auch noch live und in Extended Reality. Dazu erhielt das Publikum im Amphitheater des Bonner Kunstmuseums iPads, auf denen zeitweise interaktive Inhalte eingeblendet wurden. Hierdurch sollte man das musikalische Geschehen beeinflussen, doch das, soviel sei direkt verraten, funktionierte nur bedingt.
Mit Künstlicher Intelligenz wurde in der Bonner Inszenierung die Enzyklopädie in neu kreierte Objekte übertragen. Neue Welten dank altem Wissen, der Augmented Reality sei Dank. Insgesamt drei Handbücher schrieb der Mönch Vinzenz ab 1244, auf die nun die Komponistin Wen Liu und der Regisseur Martin Butler zurückgriffen. Für eine szenisch-dramaturgische Handlung taugt so ein Lehrbuch natürlich nur bedingt, denn eine Handlung im eigentlichen Sinne gibt es nicht. Als dramaturgischen Kniff gab es deshalb eine Mönchsgestalt (Maria Stamenkovic Herranz), die vor der Kulisse einer Bibliothek Texte aus dem Speculum rezitierte und dabei im Zeitlupentempo eine szenische Performance ausführte.
Die Instrumente (zwei Geigen, zwei Celli) waren einander gegenüber links und rechts am oberen Rand des Amphitheaters positioniert, die vier Sänger saßen im Rücken des Publikums. Musikalisch zusammengehalten wurde der Abend von Pauli Jämsä, der das musikalische Geschehen mit seinem Dirigat koordinierte. Wen Liu hat eine komplexe Musik geschrieben, die sich stilistisch am Puls der Zeit bewegt und ihre Mittel ebenso konzentriert wie konsistent nutzt. Sie verlangt den Musikerinnen und Musikern jedenfalls einiges in punkto Spieltechnik und Präzision ab. Das lösten sie freilich nicht minder konzentriert ein, ebenso wie die vier Sänger aus dem Ensemble der Oper Bonn (Ingrid Bartz, Ava Gesell, Johannes Mertes und Mark Morouse), die ihre aus oft recht kryptischen Text- und Notenschnipseln bestehenden Partien mit in jeder Hinsicht großer professioneller Akkuratesse absolvierten. Leider war die Textverständlichkeit an vielen Stellen verbesserungswürdig.
Kann man das Stück nun überhaupt als Oper bezeichnen? Es gibt keine Handlung, keine dramaturgische Entwicklung, sondern nur einen Text, der – mit einem bedeutungsschwangeren Setting versehen – musikalisiert und inszeniert wird. Letztendlich träfe „szenisch-musikalische Performance“ vermutlich besser. Live ist das Ganze natürlich, aber auch hinter das „interaktiv“ und die erweiterte Realität muss man ein dickes Fragezeichen setzen. Denn das, was das Publikum auf den Tablets machen konnte, erschöpfte sich im Arrangieren von Symbolen (Pflanzen und Tieren) sowie dem Bewegen eines Protagonisten durch eine geheimnisvolle Schattenwelt. Inwieweit das nun konkrete Auswirkungen auf das musikalische Geschehen gehabt haben könnte, war schlichtweg nicht nachvollziehbar, wie intensiv man das Tablet auch bearbeitete.
Und so bleibt Speculum maius ein zweifelsohne spannendes und mit nicht unerheblichem technischem Aufwand realisiertes musikalisch-szenisches Experiment. Aber es ist weder eine Oper noch dürfte es nachhaltige Auswirkungen auf deren zeitgenössische Entwicklung haben. Das spiegelt im Übrigen auch die Umfrage, die auf der Instagram-Seite des Projektes zunächst zu finden, später aber wieder verschwunden war. Hier kam insbesondere das musikalisch-akustische Gesamterlebnis gut weg, während die interaktive Gestaltung von null Prozent der Befragten für gut befunden wurde.
Guido Krawinkel
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