Berichte
Stimmen- und Bilderfluten
Eindrücke von den Salzburger Festspielen
Was wäre ein Festival ohne ein Skandälchen? Die Salzburger Festspiele hatten ihres bei der zweiten Vorstellung von Franceso Cileas „Adriana Lecouvreur“: Hatte es doch Ihre Hoheit Anna Netrebko gewagt, erkältungshalber abzusagen. Die Empörung schlug Wellen, die Einspringerin Hui He machte ihre Sache dem Vernehmen nach hervorragend, zur dritten Vorstellung war Netrebko wieder zur Stelle.
Nun hat die veristisch geprägte Oper auch ohne eine Diva assoluta in der Titelrolle einiges zu bieten. Stringent und in Klangfarben wie Affekten stets nah am Geschehen, erzählt sie von einem Eifersuchtsdrama mit tödlichem Ausgang, das sich 1730 so oder so ähnlich um die Schauspielerin Adrienne Lecouvreur zugetragen haben soll. Die Zuschauer erleben die Handlung dabei gewissermaßen backstage, aus der Sicht des Spielleiters Michonnet. Der liebt Adriana heimlich, unerfüllt und zutiefst redlich. Im Großen Festspielhaus verkörperte der Bariton Nicola Alaimo Michonnets Seelenqualen nuanciert und mit Sinn für die komischen Seiten der Figur.

„Médée” mit Elena Stikhina in der Titelrolle, Pavel Cernoch als Jason und Ensemblemitgliedern. Foto: SF/Thomas Aurin
Die Oper wurde offiziell konzertant gegeben, aber das Mozarteumorchester unter Marco Armiliato spielte so aufmerksam und detailfreudig, dass die Sänger auf natürliche Weise szenisch agieren konnten. Cilea hat Figuren in Lebensgröße geschaffen, mit Widersprüchen und charakterlichen Untiefen. Netrebkos Gatte Yusif Eyvazov krähte sich durch die Tenorpartie des Weichlings Maurizio, um den Adriana und seine vormalige Geliebte, die Fürstin Bouillon, mit allen Mitteln kämpfen. Großartig der Showdown zwischen Netrebko und der Mezzosopranistin Anita Rachvelishvili. Netrebko verströmte wieder einmal das Rotgold ihres Timbres in allen Abstufungen. Ihre Tiefe war phänomenal, in der Höhe modulierte und phrasierte sie, als hätte der menschliche Atem keine Grenzen. Rachvelishvilis Mezzo-Röhre wiederum würde jeder Rockgruppe Ehre machen; klangliche Feinheit ersetzte sie durch Intensität und Volumen.
Einen Rivalinnenmord begeht auch Médée in der gleichnamigen Oper von Cherubini, bevor sie ihre eigenen Kinder umbringt. Simon Stone hatte die spätklassische Lesart des Mythos in die Gegenwart geholt, Smartphone und Computerspiele eingeschlossen. Da mutierte Médée zur Migrantin, die ihre Tiraden vom fernen Tiflis aus telefonisch auf der Mailbox des treulosen Jason platzierte. Die Vorgeschichte des einstigen Paares Jason und Médée erzählt ein schwarzweiß gefilmtes Video.
Ob der zeitlose Stoff es nötig hat, derart in die Konkretion gezwungen zu werden, darüber kann man streiten. Jedenfalls hatte Stone sein Konzept überfrachtet. Einige von Bob Cousins’ Bühnenbildern schienen einem horror vacui vor der Bühne im Großen Festspielhaus geschuldet. Was etwa sollte Créon beim table dance? Wer die Bilderflut begreifen wollte, konnte nicht voll konzentriert darauf hören, was Thomas Hengelbrock und die Wiener Philharmoniker im Graben alles an Kontrasten und Rauigkeiten in die Partitur legten. Leider wackelte die Koordination im Orchester, zwischen Graben und Bühne und auch beim Wiener Staatsopernchor. Elena Stikhina gab mit ihrem leuchtenden Sopran eine eher depressive Médée; erst im letzten Bild nahm man ihr die Wut der Figur wirklich ab. Pavel Cernoch brachte für die mörderisch hoch gelegene Partie des Jason die passende Tenorstimme mit, dabei beließ er es aber auch. Gestalterisch beschränkte er sich auf den Konflikt zwischen einem Mann und seinem Testosteronhaushalt. Eine solche Banalisierung hat die Figur nicht verdient.

„Alcina“ mit Alastair Miles als Melisso, Philippe Jaroussky als Ruggiero und Kristina Hammarström als Bradamante.
Foto: SF/Matthias Horn
Banalität kann man Peter Sellars für seinen „Idomeneo“ nicht vorwerfen. Er und der Dirigent Teodor Currentzis hatten das Stück unbekümmert um dessen ursprüngliche Aussage auf ihr esoterisches und zugleich hochpolitisches Anliegen umgeknetet und eingedampft. Da wurde das Seeungeheuer zum menschengemachten Klimawandel, der das Meer entfesselt, und Sellars schrieb Mozart auch noch buddhistische Weisheiten zu. Abseits solcher Eigenmächtigkeiten war es ein zutiefst ergreifender Abend. George Tsypin hatte die Bühne der Felsenreitschule mit Meeres- und Fabelwesen aus durchsichtigem Kunststoff bevölkert, sonst lenkte kaum etwas von den Sängern ab. Nicht von der Sopranistin Ying Fang, die der Figur der Ilia ein feingezeichnetes Rollenportrait angedeihen ließ. Nicht von Nicole Chevaliers Elettra, die noch die feinste Wendung zwischen Furie und beseelt Liebender hörbar machte. Nicht von der Mezzosopranistin Paula Murrihy, die den Seelenkonflikten des Idamante mit hoher Sensibilität und Energie nachspürte. Im Vergleich zu den Frauenstimmen wirkte der Tenor Russell Thomas als Idomeneo etwas blass. Der heimliche Star des Abends war wieder einmal Currentzis’ musicAeterna Choir of Perm Opera: präsent, schlafwandlerisch präzise, hochmusikalisch.
Sellars führte sie alle mit virtuoser Bewegungsregie durch das Stück, das kein „Idomeneo“ mehr war. Nicht hoch genug zu preisen ist die Zusammenarbeit zwischen Currentzis und dem Freiburger Barockorchester. Perfektion war dabei noch das Unwichtigste. Gemeinsam fanden sie den richtigen Atem, trugen die Sänger auf Händen und musizierten farbig, aber ohne die Mätzchen, die sich Currentzis gerne mal genehmigt. Da hörte man selbst dem angehängten Ballett noch hingerissen zu und bestaunte die polynesischen Tänze, die Sellars hinzugefügt hatte. Ein fast zu ästhetischer Gruß aus einer fernen, vom Klimawandel konkret bedrohten Region.
Der Regisseur Damiano Michieletto wiederum hatte darauf verzichtet, Händels „Alcina“ im Haus für Mozart zeitlich zu verorten. Zahlreiche rätselhafte Objekte auf der Bühne eröffneten viel Spielraum für Assoziationen, was Michielettos Kernaussage eher verunklarte. Die kraftvollste Idee war es, die Titelfigur mit dem eigenen Älterwerden zu konfrontieren. Durch eine drehbare, halbtransparente Scheibe, die das Bühnenbild von Paolo Fantin in der Mitte teilte, sah Alcina sich selbst als alte Frau – zutiefst erschrocken. Cecilia Bartoli fasste Alcinas Angst, Ruggieros Liebe zu verlieren, in Töne von einzigartiger Intimität. Was die Zauberin an Ruggiero finden mochte, das machte der Countertenor Philippe Jaroussky, stimmlich streckenweise hörbar angestrengt, allerdings nicht recht plausibel. Auch die Musiciens du Prince-Monaco unter Gianluca Capuano ließen es an Inspiration fehlen. Bei Alcinas Schmerzensarie „Ah, mio cor“ waren die Beteiligten dann auf Betriebstemperatur. Doch wer Bartoli und die Ihren vor zwei Jahren mit der sublimen Deutung von „Ariodante“ erlebt hatte, der verließ diesen sehr, sehr langen Opernabend erschöpft und leicht enttäuscht.
Verena Fischer-Zernin |