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Berichte
Von Rittern und Narren
Die Bregenzer Festspiele 2019
In der Vielfalt von 32 Festspieltagen, zwischen Sprechtheater-Konzert, zeitgenössischer Musik-Performance, nahezu allen Spielarten des Theatralischen, waren doch ein paar Linien zu erkennen. Zum Beispiel: Narrheit. Verdi lässt 1883 seinen letzten traurigen Ritter Falstaff von der allumfassenden Narrheit des Menschen singen und hatte schon 1851 den Narren Rigoletto zur bewegend blinden Vaterfigur geformt. Regisseur Philipp Stölzl ließ auf der Seebühne unter Mitwirkung von Heike Vollmer einen großen Clowns-Kopf, links eine bewegliche Holz-Hand (die sich zur umständlich bespielbaren Behausung Gildas öffnen und schließen kann), über der rechten Hand einen großen Fesselballon aus dem Wasser ragen: Wirkung gut, als Spiellandschaft unbefriedigend. Der Kopf ist durch ein hinten störend hinausragendes, tonnenschweres Gegengewicht dreh- und schwenkbar, klappt mit den Glupschaugen, und im aufgerissenen Mund singt der Herzog die Frauen an. Die breite Halskrause und die Manschetten der Hände bilden weitere Spielflächen für eine turbulent-quirlige, bunt kostümierte Zirkustruppe: die dramaturgisch grundlegend falsche Entscheidung der ganzen Inszenierung. Natürlich ginge Rigoletto als Clown – nur sind Herzog und Höflinge als Zirkusdirektor und Akrobaten damit grundlegend eingeebnet. Dass dazu vier – aus Doris Dörries Münchner Affen-„Rigoletto“ an den See geflüchtete? – livrierte Orang-Utans als Bodyguards den Herzog umtanzen, Gilda entführen, Renn- und Turn-Gaudi treiben? Völlig untergeht „La Maledizione“, der das Werk prägende Fluch des anderen Vaters Monterone, der totgeschlagen, in den See gekippt wird, aber später wieder singt. Spektakulär, dass Gilda zu ihrem „Caro nome“ im Fesselballon in den Abendhimmel steigt, ihr sterbendes Double am Ende gar an die 40 Meter. Insgesamt aber: vom einleitenden „Cabaret“-entlehnten Conferencier über Sex-Puppen-Gezappel zu „La Donna e mobile“ zu viel „Anything goes“ mit Wimmelbildern und Stills. Wirklicher Höhepunkt des Licht- und Sound-Systems: der Gewittersturm zu Gildas Tod.

Bühnenspektakel beim „Rigoletto“. Foto: Bregenzer Festspiele / Karl Forster
Davor hatte das teuer erweiterte Soundsystem noch nicht überzeugt. Dennoch setzte die durchweg gute Premierenbesetzung mit Vladimir Stoyanov (Rigoletto), dem virilen Stephen Costello (Herzog) und der staunenswert Koloratur-Girlanden zaubernden Melissa Petit (Gilda) unter Enrique Mazzolas Leitung vokale Glanzlichter.
Da beeindruckte die Opernstudio-Produktion „Eugen Onegin“ in ihrer Beschränkung tiefer: lauter junge Künstler, muttersprachlich russisch. Nur zwei Dekorationen, die vorher in Perm vom dortigen Chor aufgenommenen Lieder und Gesänge, von der alten Amme auf Schallplatten vorgespielt, und diese Amme zur Spiegelung Tatjanas aufgewertet – all das von Jan Eßinger in expressive Personenregie gefasst: Ilya Kutyukhin mit Onegins jungmännlicher Macho-Narrheit, glaubhaft Shira Patchorniks mädchenhafter Liebestaumel Tatjanas hin zur gereiften Ehefrau, herzbewegend Alexey Neklyudovs Lenski mit erst strahlendem, dann todesverschattetem Tenor. Nur Valentin Uryupins Dirigat mit dem Vorarlberger Symphonieorchester war zu vordergründig laut.
Liebesnarrheit gab es auch im Konzert der Osttiroler Musicbanda Franui. Auf leerer Bühne im Festspielhaus zauberten Regina Fritsch und Sven-Eric Bechtolf an zwei Pulten in zehn gekürzten Szenen den ganzen Liebeszirkus von Arthur Schnitzlers „Reigen“ hinreißend sprechtheatralisch – und Franui lieferte dazu als „Umspannwerk zwischen Klassik, Volksmusik, Jazz und zeitgenössischer Kammermusik“ einen mal abgründig eindeutigen, mal feinsinnig abstrahierten Klangkosmos zwischen Mozart und Erik Satie – ein Festspiel-Bonbon!
Was der sich innovatorisch gebende François Sarhan in seiner auf zwei Abende ausgelegten, je dreistündigen „WunderWandelWelt samt selbstgewählten Pausen“ in historisch fragwürdigem Video-Mischmasch, kritisch gemeinter Performance und Klangkuddelmuddel wollte, blieb dem Kritiker verschlossen, der nach 90 Minuten den lauen Abend am See wunderbar entlang wandelte…

Gábor Bretz als Don Quichotte, David Stout als Sancho Pansa. Foto: Bregenzer Festspiele / Karl Forster
Neben viel Jugendarbeit, Festspielfrühstücken im Seefoyer, „Musik & Poesie“ im Seestudio und großen Konzerten dann noch einmal Liebesnarrheit in der anderen großen Opernproduktion im Festspielhaus, in Jules Massenets „Don Quichotte“, einer Orchidee des Repertoires. Regisseurin Mariame Clément, ihre Ausstatterin Julia Hansen und das gesamte Bühnenteam lieferten eine szenisch frappierende, von Akt zu Akt zeitlich springende Inszenierung: vom zeitgenössischen „Code-of-Conduct“-Werbefilmchen, das Werte zu PR-Süßstoff degradiert, im Zeitsprung zurück über ein plüschig historisierendes, an die Uraufführung von 1910 erinnerndes Bild samt Flamenco-Dulcinée, hin zu einem Hotelzimmer, dessen Ventilator zu Quichottes Windmühlen-Horror wurde – gelungen. Weiter mit Quichotte als heutigem Fantasy-Ritter, als Spiderman, der zwar körperlich kläglich an einer Jugend-Gang im sozialen Hinterhof-Off scheiterte, mit ungeschöntem Leid und ehrlicher Bitte aber doch den geraubten Schmuck Dulcinées zurückbekam – danach als heutiges, graues Büro-Faktotum von allen, auch der kess-kühlen Abteilungsleiterin Dulcinée verlacht zurückbleibt – und an einem absterbenden Baum im Bewusstsein des „Ersten, der Gutes säte,“ stirbt. Dramaturgisch reizvoll geglückt sind die „Zeit im Bild“-Sprünge. Daher gab es auch einhelligen Jubel für Gábor Bretz‘ Quichotte, den Sancho von David Stout, die Dulcinée von Anna Goryachova, den Prager Philharmonischen Chor und die Wiener Symphoniker – auch wenn Dirigent Daniel Cohen die Mischung aus feinsinnigem „Lyrisme français“ im Kontrast zu dramatischem Aplomb noch nicht perfekt gelang.
Doch schon zuvor hatte Sancho Pansas wütende Publikumsansprache an uns „gemeine Halunken, Schmeichler, Schlampen“ mit Sätzen wie „Lass uns kämpfen gegen Feigheit und Niedertracht, den Unglücklichen das Brot der Güte geben“ Massenets Plädoyer für humane Grundwerte vor Monte-Carlo-Publikum 1910 als erschreckend aktuell erwiesen! Da wurde – ohne moralinsauren Zeigefinger – ein zumeist unterschätztes Werk mit „Figuren von Einst“ zur bestürzend aktuellen, mehrfach leise eindringlichen und damit tief anrührenden Mahnung: In einer von Kreisch-Brüll-Medien wie raffinierten PR-Strategien durchzogenen Zeit dominieren gerade verbale Proll-Typen. Gegen all das sind zeitlos humane Werte zu verteidigen!
Wolf-Dieter Peter |