Berichte
Historische Oper
Meyerbeers „Le Prophète“ an der Deutschen Oper Berlin
Bereits beim ersten Blick auf die offene Bühne mit diversen Plattenbauten-Prospekten wird klar, dass die Handlung von Meyerbeers Grand Opéra, um 1530 in den Niederlanden und im westfälischen Münster spielend, in der Berliner Neuinszenierung an die Gegenwart herangerückt und hier auch verortet wird. Die Premiere in der hier erstmals erklingenden revidierten Fassung der historisch-kritischen Edition wurde an der Deutschen Oper Berlin musikalisch zu einem vollen Erfolg für den Chor, das Orchester und Solisten, sowie für den Gastdirigenten Enrique Mazzola, wohingegen die szenische Umsetzung sich als großenteils belanglos erwies.
Gregory Kunde als Jean de Leyde und der Chor der Deutschen Oper Berlin. Foto: Bettina Stöß
Graf Oberthal, der von den Aufständischen aufgrund seiner Willkür angefeindete Herr, lässt seine Leute ein Wahlplakat seiner selbst auf seiner Schlosswand (der linken Bühnenwand) ankleben. Während er sich unter einem Schirm Kaffee reichen lässt, bedrängen seine Handlanger die junge Berthe, und als diese bei Oberthal den Antrag stellt, den Gastwirt Jean ehelichen zu dürfen, vergewaltigt er sie brutal auf der Rückbank und der Kühlerhaube seines Fahrzeugs. In der Stadt gibt es rauchende Schlote, die Landleute sind hier städtische Fabrikarbeiter, und man denkt an Albert Lortzings „Regina“, wenn diese Formation, an der Rampe aufgereiht, von der dritten Macht im Staate kündet. Im „Bar-Restaurant“ von Jean feiern sie dann in farbig glitzernden Spitzhütchen mit Luftschlangen. Als Jean den drei schwarz gewandeten Wiedertäufern Zacharie, Jonas und Mathisen seinen Traum erzählt, greift Regisseur Olivier Py zu einer Praxis, die man insbesondere aus den Inszenierungen von Hans Neuenfels kennt: Tänzer bebildern stumm Jeans Bericht, indem sie hinter ihm ein rotes Tuch aufspannen und über seinem Haupt eine Krone vorspiegeln.
Eine Gegenlichtsrampe blendet das Publikum – um so die Verblendung des Jean zu verdeutlichen: Der schließt sich den Wiedertäufern an.
Als Bild der Terrorherrschaft der Wiedertäufer in Deutschland werden zunächst drei Särge gefüllt, anschließend eine Unmenge federleichter Särge auf den erhobenen Händen des Chores von bühnenlinks nach bühnenrechts weitergereicht. Die schwarze Limousine des Graf Oberthal brennt dann, auf dem Dach liegend, und das länger, als jemals zuvor ein Auto gebrannt hat.
Das obligatorische, für die Mitglieder des Pariser Jockey-Clubs seinerzeit jeweils im Mittelakt der Aufführungen an der Grand Opéra platzierte Ballett wurde in Meyerbeers „Le Prophète“ nach der Uraufführung ein berühmter Tanz, ist es doch – angesichts der historischen verorteten Zwischeneiszeit – ein Tanz der Schlittschuhläufer auf dem Eis. Das hat, wie zumeist die Ballette in dieser Kunstform, wenig bis gar nichts mit der Handlung zu tun. Die Berliner Neuproduktion verzichtet auf Schlitt- oder Rollschuhe, statt dessen balgen sich die 16 Tänzerinnen und Tänzer, kühlen sich zwischenzeitlich in einem Wassereimer ab und beginnen, mit wenigen Varianten, in der vierteiligen Ballettmusik mit ihrem Tanztheater-Aktionismus wieder von vorne. So wird von Walzer über Redowa und Schlittschuhtanz bis Galopp die Nähe zu Jacques Offenbach nicht nur in der musikalischen, sondern auch in der tanztheatralischen Umsetzung deutlich.
Der Herrenchor als Soldaten in Tarnuniformierung und mit Einheitskrücken droht nach einem ohne die Führung des Propheten vorgenommenen, vergeblichen Angriff gegen die Stadt Münster abtrünnig zu werden. Doch werden sie durch den zum Gottes Sohn erklärten Propheten, der im gesungenen Text wiederholt mit Jeanne d’Arc verglichen wird, erneut auf die Ziele der Wiedertäufer eingeschworen. Acht Jahre vor „Le Prophète“ hatte Richard Wagner in seinem „Rienzi“ mit dem Abfall der Getreuen des Volkstribunen und dessen charismatischer neuer Beschwörung eine ähnliche Szene komponiert. Der somit naheliegende Vergleich zeigt in Wagners Partitur eine ungleich stärkere musikalische Überzeugungskraft als in der seines in Paris residierenden Kollegen.
Bewundernswert die sängerischen Leistungen des von Jeremy Bines einstudierten Chores.
Für den Krönungsmarsch nimmt die Bühnenmusik in der Höhe der beiden Proszeniumstürme Aufstellung, wie man das an diesem Haus bereits in „Lohengrin“ erlebt hat. Der nun zum Einsatz kommende Kinderchor (Einstudierung: Christian Lindhorst) bestreut Jean mit Konfetti.
Immer wieder dreht sich die Bühne als aussageleerer Aktionismus, schwanken drei im Innenraum aufgehängte Lampen heftig gegeneinander, wenn dem Regisseur offenbar sonst nichts zur Bebilderung eingefallen ist. Olivier Py, Festivalleiter in Avignon, scheint als Choreograf mehr in seinem Element, überzeugt choreografisch allerdings auch erst im Schlussbild. Nach Jeans letzter Aufforderung zur Lebenslust öffnet sich fürs Bacchanale im Hintergrund die erste Etage in Rot-Licht-Beleuchtung: die nun völlig nackten, überdurchschnittlich gut proportionierten Tänzerinnen und Tänzer demonstrieren wechselnde Liebesspiel-Positionen, dazu flattert Gold-Lametta.
Noel Bouley als Mathisen, Andrew Dickinson als Jonas, Seth Carico als Graf Oberthal und Derek Welton als Zacharie. Foto: Bettina Stöß
Als Jean de Leyde überzeugt der Tenor Gregory Kunde mit heldischer Strahlkraft und Farbigkeit bei mühelos bewältigten Koloraturketten. Nur mit Abstrichen kann da die Leistung seiner Partnerinnen heranreichen. Clémentine Margaine als die von ihrem Sohn verleugnete Mutter Fides hat in der immens umfangreichen Partie, beinahe im Dauer-Forte, immer wieder mit Intonationsproblemen zu kämpfen. Ebenfalls mit der Intonation auf Kriegsfuß steht die in der Darstellung besonders wendige und von Oberthal mühelos geschulterte Elena Tsallagova als Berthe. Eindrucksstark Seth Carico als Graf Oberthal und plastisch in den lateinischen Terzetten und im individuellen Einsatz Derek Welton, Andrew Dickinson und Noel Bouley als Anführer der Wiedertäufer. Bewundernswert die sängerischen Leistungen des von Jeremy Bines einstudierten Chores.
Zum Durchhalten der viereinviertelstündigen Aufführung brachte das Premierenpublikum genügend Sitzfleisch mit. Fast schon hysterische Bravos empfingen den Dirigenten bereits nach der ersten Pause. Graben und Bühne sind dank Mazzolas deutlichem Dirigat und der statischen Anordnung auf der Bühne fast immer zusammen, Tempowechsel erfolgen präzise, und das Orchester der Deutschen Oper klingt sauber und einnehmend.
Peter P. Pachl |