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Der Elefant
im Raum
Chordirigenten-Werkstatt mit dem Chor der Deutschen Oper Berlin
Es ist kalt im Foyer der Deutschen Oper Berlin, aber der Chorsaal ist wegen des Dröhnens der Bauarbeiten auf der Bühne nicht zu gebrauchen: Die Obermaschinerie wird erneuert, eine dicke Staubschicht bedeckt den Zuschauerraum. Womöglich ein Glücksfall, denn wer weiß, ob sich ohne die baubedingte Zwangspause im Spielbetrieb des Hauses an der Bismarckstraße überhaupt eine Lücke im engen Terminplan des Opernchors gefunden hätte. Die Chor-Damen, die sich an diesem Vormittag zur Probe versammelt haben, ziehen Tücher über die Schultern oder hüllen sich in ihre Jacken. Und den jungen Dirigenten wird ohnehin rasch warm.
Hsin-Chien Chiu und William Spaulding bei der Dirigentenwerkstatt mit dem Chor der Deutschen Oper Berlin. Foto: Marcus Lieberenz
„Wenn man mit dem Klang eines Rundfunkchors oder eines kleinen Kammerchors im Ohr zum ersten Mal vor einem Opernchor steht, denkt man: Was ist das? Es ist eine ganz andere Welt“, sagt Hsin-Chien Chiu. Sie studiert Chordirigieren an der Hochschule für Musik „Franz Liszt“ in Weimar und ist eine von vier Stipendiaten, die am ersten Opernchor-Work-shop des „Dirigentenforum – Chor“ des Deutschen Musikrats teilnehmen. Alle vier sind fortgeschrittene Studenten, leiten eigene Laien-Ensembles oder arbeiten als Assistenten mit professionellen Chören und haben ihre Begabung im anspruchsvollen Auswahlverfahren des Dirigentenforums unter Beweis gestellt. Mit Opernchören hatten sie bislang aber wenig Erfahrung. Wie anders deren Welt tatsächlich ist, davon vermittelt ihnen Chordirektor William Spaulding in seiner Einführung einen Eindruck.
Es beginnt schon mit den Stimmen: „Eigentlich kann ein Opernchor jede Art Chormusik singen“, erklärt Spaulding, „aber grundsätzlich haben wir es in der Oper mit größeren Stimmen zu tun. So verschieden die Sänger auch sind, sie sind auf die große Linie, auf die große Wirkung der Opernbühne spezialisiert.“ Womit auch gleich ein zweiter Punkt angesprochen ist: Die Chormitglieder agieren auf der Bühne, sie sind Teil eines dramatischen Geschehens, oft in Bewegung, „und das bestimmt die Tongebung“. Und damit verbunden ist der Aspekt, den William Spaul-ding in Übersetzung einer englischen Redewendung als den „Elefanten im Raum“ bezeichnet, der Umstand, neben dem alles andere verblasst: Ein Opernchor muss auswendig singen. Das erscheint im ersten Moment banal, prägt aber den gesamten Arbeitsprozess. Es gelte, erklärt der Chordirektor, dafür beste Bedingungen zu schaffen. Eine angenehme Arbeitsatmosphäre gehört dazu, denn „man nimmt alle Erlebnisse, Eindrücke und Gefühle aus dem Chorsaal mit auf die Bühne“. Ebenso wichtig: die lebendige Vermittlung. „Mit einem Orchester bedient man sich eher der musikalischen Terminologie, um einen bestimmten Ausdruck zu erreichen“, sagt Spaulding; „Für den Chor ist es wichtig, die psychologische Situation zu erzeugen, aus der ein Ausdruck entsteht.“ Gerne zitiert er den Dirigenten Fritz Busch, der einmal formuliert hat, er spreche die Orchestersprache: Ein Chordirigent muss die Sprache des Chores beherrschen.
An vier Vormittagen können sich die Stipendiaten mit der besonderen Sprache eines Opernchors vertraut machen. Im Viertelstundentakt wechseln sie sich auf dem Dirigentenpodest ab. Auf den Pulten liegen Repertoire-Stücke, Ausschnitte aus „Lohengrin“, „Tannhäuser“ und „Turandot“, die im Abschlusskonzert im Foyer der Deutschen Oper präsentiert werden; außerdem die Noten von Giacomo Puccinis selten gespielter Oper „La Rondine“, deren Premiere an der Bismarckstraße im März ansteht. Die Proben werden auf Video aufgezeichnet, im Anschluss analysiert William Spaulding mit den jungen Dirigenten, wie ihr Auftreten wirkt – „Sie brauchen sich nicht dafür zu entschuldigen, dass Sie da sind!“ –, erklärt, was besonders gut gelungen ist und woran es liegt, wenn etwas nicht funktioniert.
Manuel Pujol, Preisträger des 1. Deutschen Chordirigentenpreises, dirigiert den RIAS Kammerchor im Finalkonzert. Foto: Kai Bienert
„Ich habe gemerkt, dass ich mehr Kontakt mit den Sängern aufnehmen sollte“, erzählt Hsin-Chien Chiu. „Wir sind daran gewöhnt, oft in die Noten zu schauen und dann etwas anzusagen, aber wenn ich noch in die Noten schauen muss und alle Sänger haben die Partie längst im Kopf, dann habe ich ein ganz schlechtes Gewissen.“ Möglichst viel selber auswendig zu können ist einer der Tipps, die William Spaulding den Nachwuchsdirigenten mit auf den Weg gibt, ein anderer: vorsingen statt wortreich zu erklären. Und: klare, eindeutige Ansagen. Nur selten greift er unmittelbar in die Proben ein. Etwa als sich Hsin-Chien Chiu im „Chor der jüngeren Pilger“ aus dem „Tannhäuser“ zu Beginn ein verinnerlichtes Mezzopiano wünscht: „Wenn dies eine reguläre Probe für unsere Inszenierung wäre, bekämen Sie von den Damen sicher zu hören: Wir stehen an dieser Stelle ganz hinten auf der Bühne, wir sind froh, wenn wir überhaupt zu hören und halbwegs zusammen sind, wir sehen nichts und so weiter. Das sollte Ihnen zumindest bewusst sein.“
Von so mancher interpretatorischen Feinheit, das merken die jungen Dirigenten rasch, müssen sie sich angesichts des Bühnenalltags verabschieden. Ratschläge kommen auch von den Chorsängern. So fordern sie die Stipendiaten auf, sich in ihre Reihen zu mischen, während die Kollegen dirigieren. Eine ganz neue Perspektive: „Wenn man in der Gruppe sitzt, merkt man erst, wie aktiv die Sänger sind, man spürt, wie sie sich fühlen, ob etwas anstrengend zu singen ist, was sie gut finden. So kann man auch von den anderen Stipendiaten lernen“, sagt Hsin-Chien Chiu.
Ein Intensivkurs in praktischer Chorarbeit – und eine unschätzbare Erfahrung für die angehenden Chorleiter. Denn im Studium müssen sie meistens mit zwei Klavieren vorlieb nehmen. Schlagtechnik lässt sich auf diese Weise erlernen, aber weder die Arbeit an Intonation und Aussprache noch der Umgang mit den vielen unterschiedlichen Individuen in einem Chor. „Jede Persönlichkeit ist anders, man muss zuerst in Kontakt kommen und herausfinden, was funktioniert und was nicht, wie man in einer Situation reagieren sollte“ resümiert Yuval Weinberg, der an der Berliner Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ Chorleitung studiert.
Die Kandidatin Viktoriia Vitrenko dirigiert den Chor der Deutschen Oper Berlin. Foto: Marcus Lieberenz
Nicht nur die Stipendiaten schätzen die neuen Eindrücke: „Ich fand es interessant, junge, sehr junge Dirigenten kennenzulernen – vielleicht kommt irgendwann einer von ihnen einmal zu uns“, meint Heiner Boßmeyer, seit 1995 erster Bass im Chor der Deutschen Oper, zudem VdO-Ortsdelegierter und Vorsitzender des Landesverbandes Berlin. „Und ich finde es auch gut und richtig, sich dafür einzusetzen, dass die jungen Dirigenten an den Beruf herangeführt werden. Es ist in unserem elementaren Interesse, unseren Nachwuchs heranzuziehen.“
In diesem Bereich besteht in Deutschland Nachholbedarf, da sind sich viele Experten einig. Nicht einmal die Hälfte der 24 deutschen Musikhochschulen bietet einen grundständigen Studiengang „Chordirigieren“ an, die Zahl der Meisterkurse hält sich in überschaubaren Grenzen. Das Dirigentenforum des Deutschen Musikrats hat den Bedarf erkannt und fördert daher seit 2008 auch Chordirigenten, organisiert Meisterkurse und vermittelt Assistenzen. Im vergangenen Jahr wurde analog zum Deutschen Dirigentenpreis erstmals der Deutsche Chordirigentenpreis verliehen, gestiftet von VdO und Deutscher Orchestervereinigung.
Bislang arbeitet das „Dirigentenforum – Chor“ aus praktischen Gründen hauptsächlich mit Rundfunkchören zusammen. Gerrit Wedel, der stellvertretende Geschäftsführer der VdO, stellt fest, dass es bei diesem Pilotprojekt noch erhebliche Anlaufschwierigkeiten insbesondere im Hinblick auf die Kommunikation mit dem Chor sowohl im Vorfeld wie auch während der Durchführung gegeben habe. Er hofft trotz der organisatorischen Schwierigkeiten durch Repertoirebetrieb und enge Zeitpläne, „auch die Opernchöre stärker in das Programm einbinden und die direkten Erfahrungen unserer Chormitglieder in die Ausbildungsphase der Chordirigenten einbringen“ zu können, wie er in einem Interview in „Oper und Tanz“ 1/2014 sagte. Dies scheint schon angesichts der Berufsperspektiven für junge Chordirigenten sinnvoll: Sieben Rundfunkchören stehen hierzulande nach Angaben des Deutschen Musikinformationszentrums 80 Opernchöre gegenüber.
Der erste Versuch einer Opernchor-Werkstatt war aus der Sicht der Projektleiterin des Dirigentenforums, Andrea Meyer-Borghardt, „sehr gelungen“. Auch Chordirektor William Spaulding könnte sich eine Wiederholung vorstellen. Dass bei einem Pilotprojekt nicht alles völlig reibungslos läuft, liegt in der Natur der Sache. Bei einem nächsten Mal, sagt William Spaulding, würde er stärkeres Gewicht darauf legen, den Stipendiaten die Kunstform Oper und ihre spezifische Ausdrucksweise nahezubringen, würde die großen Zusammenhänge über die Chorpartien hinaus in den Mittelpunkt rücken. Alles in allem ist er aber zufrieden. Er konnte nicht nur sein Wissen an die junge Generation weitergeben, sondern mit dem Kurs wurde auch, so meint er, „ein Riesenschritt getan, den Beruf des Opernchorsängers stärker ins Bewusstsein zu rücken und den Respekt für ihn und seine Leistungen zu steigern, damit er als Berufswahl sowohl für Chordirigenten als auch für junge Sänger attraktiver ist. Das bringt uns auch näher an das Publikum und ist gut für die Zukunft.“
Die Stipendiaten sind sich einig: Es hat sich gelohnt. Ob er sich vorstellen könnte, im Bereich Opernchor zu arbeiten, weiß der 23-jährige Stelios Chatziktoris noch nicht, aber sein Blick hat sich gewandelt: „Wenn ich künftig in die Oper gehe“, sagt er, „werde ich viel mehr auf die Chöre achten, nicht nur auf den ‚Pilgerchor‘ im Tannhäuser, – selbst kleine Choreinwürfe werde ich jetzt mit anderen Ohren hören.“
Eva Blaskewitz |