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Großes Finale im Zorn
Anthony Pilavachi inszeniert „La Damnation de Faust“ in Lübeck
Es ist schon ein starkes Zeichen, wenn ein Regisseur den grandiosen Premierenbeifall, bei dem auch seine Leistung auffallend kräftig gewürdigt wird, unterbricht und ruhig, ja lächelnd verkündet, er werde an diesem Hause nicht mehr inszenieren. So geschah es in Lübeck am 16. Januar. Zuvor hatte Anthony Pilavachi Hector Berlioz‘ „La Damnation de Faust“ fulminant abgeliefert, seine 18. Inszenierung in dem Jugendstil-Haus, umso verwirrender seine sehr allgemein artikulierte Unzufriedenheit, überraschend für das Publikum, möglicherweise auch für viele Mitarbeiter des Theaters. Zumindest brachte die Leitung des Theaters weder spontan, noch bei der Premierenfeier eine Antwort zustande. Nachfragen bestätigten nur, dass es wie häufiger schon Spannungen gegeben haben soll, die wohl keine Ausnahme im Probenprozess der immer komplexen Opernarbeit sind. Über das, was wirklich vorgefallen war, schwieg man.
Aus langer Zusammenarbeit müssten beide Seiten, der Regisseur und das Theater, einander gut kennen, sich auch schätzen. So hatte Pilavachi mit der preisgekrönten Lübecker „Ring“-Produktion, dirigiert von dem damaligen GMD Roman Brogli-Sacher, überregional Aufsehen erregt. Auch sein „Tristan“ und der „Wildschütz“ waren in der letzten Saison umjubelt – und nun dies. Gründe kann es viele geben, aber Pilavachi müsste wissen, dass er an keinem hoch subventionierten Staatstheater arbeitet, das alle Ideen realisieren kann, und das Lübecker Theater müsste wissen, dass es einen sensiblen, schöpferisch eigenwilligen und intelligenten Regisseur beschäftigte. Er ist ein Interpret, der sich als Künstler versteht, wie er sich 2012 der LVZ-Online offenbarte, der „Diskussionen auslösen“ möchte. Nun wurde er selbst zum Thema. „Ich beherrsche mein Handwerk. Und das besteht darin, zu erkennen, was der Komponist will, seinem Rhythmus zu folgen. Es steht ja alles in den Noten.“ Genau folgt er dem, auch hier bei „seinem“ Berlioz, erwartet wohl auch, dass man ihm folgt. Und das könnte einem angsterfüllten Haus zusetzen, das sich ständig neuen Sparzwängen ausgesetzt sieht, das in seinem kaufmännischen Direktor einen Rotstiftartisten hat, der wie Schäuble von der „Schwarzen Null“ fasziniert ist. Dass in solcher Atmosphäre Spannungen auftreten, müssten alle wissen. Umso bedauerlicher ist, dass kein Konsens gefunden werden konnte, der den vielschichtigen Prozess erträglich enden ließ.
Diskussionen will Pilavachi also auslösen, die „Zuschauer sollen überrascht werden, bewegt, auch berauscht.“ Dieser Berlioz tut es, auch wenn auf vieles in dem kleineren Haus an der Trave verzichtet werden muss. Das Orchester hat selbstredend nicht annähernd die geforderte Größe, das Sylphenballett tanzen lediglich vier Elevinnen und ein älterer Pantomime (David Winer-Mozes, auch als Teufel und Sensenmann), und der Theaterchor ist zwar fast aufs Doppelte aufgestockt, lässt aber die Knabenstimmen aus, die vor allem in der Schlussapotheose klanglich Ätherisches hätten evozieren können. Dass dennoch alles nicht als Mangel empfunden wurde, dass dennoch eine erregende Inszenierung entstand, ist neben der musikalischen Qualität der szenischen Deutung zu danken. Sie zeigt, wie bereits bei Berlioz angelegt, einen ausgebrannten, kraftlosen Gelehrten. Nur noch in Träumen oder im Selbstbetrug agiert er. Die nicht immer stringente Handlung in Berlioz‘ Lesart, die sich nur entfernt an Goethe anlehnt und fragen lässt, ob diese Légende-dramatique überhaupt als Oper aufführbar ist, wird jedoch als imaginierte Traumwelt nachvollziehbar, macht Handlungssprünge und Ortswechsel schlüssig. Nachhaltig wirkende Bilder entstehen, wie etwa das zum berühmten Rákòczy-Marsch, bei der albtraumartig eine Hochzeit in eine brutale Massenvergewaltigung ausartet. Auch Marguerites Auftritt in einer zerbrechlichen Seifenblase gehört dazu oder das Schlussbild, in dem sie, von der Menge der Höllengeister zum Star glorifiziert, in einem eng anliegenden blauen Glitzerkleid Méphistophélès in die Arme fällt.
Einen großartigen Rahmen für Pilavachis Deutung schafft der Bühnenbildner Stefan Heinrichs. Projektionen und Filme (Franziska Funke) charakterisieren sie optisch prächtig und beeindruckend. Den Raum vor den Projektionen belebt zumeist der Chor. Er hat in dieser Partitur bekanntermaßen gesanglich eine riesige Aufgabe, ist hier dazu noch ständig in Bewegung und in vielen Rollen eingebunden, ob als Bürgergesellschaft, als derbe Soldateska oder Studentenpulk, als Flammengeister oder sakral Huldigende. Eine bewundernswerte Leistung erbringen sie, die Mitglieder von Chor und Extrachor (Einstudierung: Joseph Feigl)!
GMD Ryusuke Numajiri leitete den Abend, konnte sich auf seine Musiker verlassen, hielt auch zumeist alles in geordnetem Miteinander zusammen. Er selbst aber konnte offensichtlich seine Nervosität im ersten Teil nicht bändigen. Zwar zugkräftig und taktsicher, aber laut und undifferenziert kam es aus dem Orchestergraben. Erst nach der Pause fand er Ruhe und lieferte ein abgestuftes Klangbild.
Pilavachi hat mit dieser Inszenierung eindrucksvoll das zwischen Oratorium und Musiktheater schwankende Werk als modernes Bühnenwerk gestaltet und für Lübeck wieder eine bemerkenswerte Inszenierung geschaffen, vielleicht seine beste. Es wäre ein wirklicher Verlust, sollte es zu keiner weiteren Zusammenarbeit mit ihm in Lübeck kommen. Das künstlerische Potenzial in dem Haus, das zeigt sich immer wieder, ist trotz geringer Mittel herausragend.
Arndt Voss |