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Berner Wunder in Hamburg

Neues Musical-Glück an der Elbe

„Der Broadway und das Westend staunt, was sich in Deutschland sowohl von der Qualität der Musicals als auch von deren Laufzeiten und den erzielten Durchschnittspreisen entwickelt – und alle Lizenzgeber wollen mit ihren Shows zu uns kommen und sehr gern in Hamburg Premiere feiern.“ In den Worten von Uschi Neuss schwingt schon ein wenig Stolz, wenn die Geschäftsführerin der Stage Entertainment Deutschland (SE) von den Reaktionen der Branchenkollegen in New York und London auf den hiesigen Musical-Markt erzählt. Hatte dieser doch über Jahre allenfalls stagniert, von einem Ende des Musical-Booms war gar die Rede gewesen. Und nun konnte Neuss jüngst nicht allein ein Umsatzwachstum des deutschen Marktführers von zehn Prozent auf 333 Millionen Euro im abgelaufenen Geschäftsjahr verkünden, sondern prognostizierte einen ebensolchen Anstieg auch für 2014/2015. Das Wunder von Hamburg?

Das neue Musicaltheater der SE. Foto: Morris Mac Matzen.

Das neue Musicaltheater der SE. Foto: Morris Mac Matzen.

Nein, schlichte Kalkulation: Denn mit dem 50 Millionen Euro teuren Neubau des Stage-Theaters an der Elbe mit seinen 1.850 Plätzen hat die SE nicht nur ihre vierte Spielstätte in der Hansestadt eröffnet, sondern mit dem neuen Musical „Das Wunder von Bern“ auch die Basis für bis zu 650.000 zusätzliche Besucher pro Jahr gelegt. Zudem erspart die 15 Millionen Euro teure Eigenproduktion die für bekannte internationale Shows fälligen Lizenzgebühren von bis zu 15 Prozent auf den Umsatz – was sich bei entsprechenden Besucherzahlen vor allem in der Rendite bemerkbar macht. Die Produktionskosten könnten denn auch bereits am Ende des aktuellen Geschäftsjahres fast wieder eingespielt sein. Und mag sich die Wochenzeitung „Die Zeit“ angesichts der bizarr-grotesken Theater-Architektonik auch an einen platt gedrückten Wehrmachtshelm erinnert fühlen, das Publikum dürfte nicht allein ob des Musicals in Scharen in den mit 7.500 Edelstahlschindeln bedeckten Bau strömen.

„Das Wunder von Bern“ begeistert. Foto: Brinkhoff/Moegenburg

„Das Wunder von Bern“ begeistert. Foto: Brinkhoff/Moegenburg

Bietet sich doch aus der bis zu zwölf Meter hohen Glasfassade des zweigeschossigen Foyers am Abend ein imposanter Blick über die Elbe auf den Hafen und die Skyline der Stadt samt der benachbarten Elbphilharmonie. Im Haus selbst indes beeindrucken wie immer bei den Produktionen des Musical-Riesen die Bühnenbilder mit rauchenden Ruhrpott-Schloten und Schweizer Bilderbuch-Panoramen; dazu gibt es schmissig-witzige Choreografien mit der Herberger-Elf und Trickfußballern, rasche Szenenwechsel sowie geschickte Übergänge zwischen schwarz-weißen Originalbildern und knallig-bunten Petticoats. Und Gänsehaut pur, wenn just im Moment des dramaturgisch-sportlichen Musical-Höhepunkts zur historischen Live-Reportage des legendären Radioreporters Herbert Zimmermann – „Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen – Rahn schießt … Toooor! Tooor! Tooor! Tooor!“ – Regisseur Gil Mehmert und sein Team für unvergessliche Eindrücke sorgen. Eingespannt in von der Decke hängende Gurte spielen die Darsteller der Kicker, scheinbar auf der zum Fußballfeld umgewandelten LED-Rückwand der Bühne laufend, die entscheidenden Szenen in der Vertikale im freien (Luft-)Raum nach. Und während das Publikum so aus der Vogelperspektive staunend auf das Geschehen blickt, zeigen überdimensionale Kreidestriche die Laufwege und Positionen der deutschen WM-Helden um Fritz Walter und Helmut Rahn sowie ihrer ungarischen Gegner an.

Spektakulär – und doch ist diese Idee am Ende nur ein weiterer, wenn auch gewichtiger Spielzug in einem stimmigen Gesamtkonzept. Zumal Mehmert an seiner Seite zwei Co-Trainer hat, die die bekannte Geschichte aus Sönke Wortmanns gleichnamigem Kinofilm in ein einzigartiges Musical-Erlebnis verwandeln: Frank Ramond, der sonst für Ina Müller, Annett Louisan und Roger Cicero schreibt, erzählt in seinen Songtexten nämlich nicht nur sehr emotional die Annäherung von Vater und Sohn Lubanski im Umfeld der WM ‘54, ihm gelingt es zudem, in seinen Zeilen ein Stück Zeitgeschichte erfahrbar zu machen, ohne dabei ins Platte oder Pathetische abzugleiten.

Und Martin Lingnau hat hierzu eine Musik komponiert, die sich verschiedenster Genres und Stile bedient, schlichte Balladen und temporeiche Beats klug verbindet, ohne auch nur eine Nummer lang das Gefühl „Tausendmal gehört“ aufkommen zu lassen. Wie stets bei den SE-Produktionen gilt die Devise: Die Show ist der Star – und anders als beim Schiffbruch mit der „Titanic“ oder dem „Schuh des Manitu“ könnte mit diesem Stück vertonter Zeitgeschichte die Rechnung für die Eigenproduktion diesmal aufgehen, sagt Jürgen Schmude, Professor für Wirtschaftsgeographie und Tourismusforschung. „Auf dem deutschen Markt funktionieren Themen, die wie hier Schicksale und Historie aufbereiten.“

Nachgestellt: Das Endspiel von 1954. Foto: Morris Mac Matzen

Nachgestellt: Das Endspiel von 1954. Foto: Morris Mac Matzen

Bürgermeister Olaf Scholz hatte denn auch schon beim ersten Spatenstich vor drei Jahren den Theater-Neubau als „eine Bereicherung für Hamburg“ gelobt und der Stage zuletzt bei der Eröffnung gar attestiert, der Konzern habe mit seinen Produktionen „einst den Tourismus in Hamburg wachgeküsst“: Für auswärtige Besucher sind die Großmusicals nämlich der kulturelle Hauptgrund für eine Städtereise an die Elbe und bringen der dortigen Wirtschaft neben einer Million Übernachtungen Einnahmen von einer halben Milliarde Euro im Jahr. Und aus wirtschaftlicher Sicht scheint ein Ende des Wachstums noch längst nicht erreicht: Bis 2030, so die Prognosen, könnten sich die Zahlen der Touristen und Übernachtungen in der Hansestadt glatt noch einmal verdoppeln. Ob davon aber die Entertainmentbranche in gleichem Maße profitieren wird, hält Jürgen Schmude für fraglich: „Hamburg ist und bleibt zwar die deutsche Musicalhauptstadt, doch hier wie auch deutschlandweit hat der Markt inzwischen eine Sättigungsgrenze erreicht.“

Eine Skepsis, die offenbar die Nummer Zwei der Branche teilt: Die „Mehr!Entertainment“-Gruppe plant in ihrer neuen Hamburger Spielstätte – Eröffnung ist für den März geplant – vorerst jedenfalls kein eigenes dauerhaftes Musical. Vielmehr soll das Multifunktionstheater vor allem vermietet werden – eine verlässlichere Einnahmequelle als das schwankende Produktionsgeschäft. Das Potenzial und nötige Einzugsgebiet für ein weiteres Großmusical sieht Schmude allenfalls noch in München. Eben dort, wo auch die SE schon seit langem nach einer geeigneten Spielstätte sucht für die Eigenproduktion eines Klassikers von Michael Ende, dessen Titel indes bislang offenbar eher ein schlechtes Omen gewesen ist: „Die unendliche Geschichte“.

Christoph Forsthoff

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