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Abseits von Weihnachten
»Hänsel und Gretel« in Augsburg, Frankfurt und Nürnberg
Von Wolf-Dieter Peter
Reichen Lebkuchen im Werk aus, um Engelbert Humperdincks „Hänsel und Gretel“ zur Weihnachts-Oper schlechthin zu machen? Trug das Datum der gefeierten Uraufführung am 23. Dezember 1893 zur Einstufung bei? Oder die eindeutig christliche, alle Armutsproblematik hinweg-beschönigende Grundierung mit dem mehrfach zitierten Luther-Choral „Wenn die Not auf Höchste steigt, Gott der Herr die Hand uns reicht“? Das galt letztlich zu keiner Zeit. Doch alle Spielplan-Statistiken zwischen Karlsruhe und Berlin zeigen: zu Weihnachten „Hänsel und Gretel“! Gleichsam stichproben-artig seien die drei Neuinszenierungen in Augsburg, Nürnberg und Frankfurt herausgegriffen.
Alejandro Marco-Buhrmester (Vater), Katharina Magiera (Hänsel) und Heidi Melton (Mutter), im Hintergrund Kinderchor der Oper Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus
Regisseur Aron Stiehl zeigte in Augsburg wiederholt einen Hauch von „Mehr als Bühnenmärchen“: eine fesche alte Dame, die im Publikum Bonbons verteilte, entpuppte sich später als Hexe; Hänsel und Gretel bettelten auf ihrem Weg in den Wald erst das Publikum an und ließen dann den schlank und sängerfreundlich dirigierenden Lancelot Fuhry nicht in Ruhe, bis er ein paar Münzen ins Beerenkörbchen spendiert hatte. Auf der Bühne ansonsten: reine Märchenerzählung mit einem Festmahl statt Abendsegen-Engeln. Leider wurde im Umfeld der Hexe mit Süßigkeiten rumgespielt, geworfen, gemanscht – und damit alle gerade heute und hierzulande angebrachte Ehrfurcht vor „Essen“ unterlaufen. So blieb einzig die Freude am musikalischen Niveau fast ungetrübt: sehr gute Solisten, und der Kinderchor Augustana war ganz ernst beim „großen Auftritt“ dabei.
Nürnbergs Bühnenteam um Regisseur Andreas Baesler hatte die Handlung in einen großbürgerlichen Salon verlegt, in dem ein Gerichtsvollzieher eben die gepfändeten Bilder von Wagner und Cosima abtransportieren ließ. Der fesche und alkoholfreudige Vater hatte sich wohl als Besenfabrikant inmitten der Hochindustrialisierung der Uraufführungsjahre 1893 ff. verspekuliert – und da zuvor „Reiche“ ja schnell über „Verarmung“ klagen, passte, dass das Gitterstockbett von Hänsel und Gretel eben nun in den Salon geschoben wurde. Doch folgte viel Inkonsequentes: übers ungepfändete Klavier, edle Polstermöbel hinaus blieb auch die giftig strenge Gouvernante in Diensten – die sich sehr vorhersehbar später in eine Hexe verwandelte. Neu: auch hier keine Engel, sondern vierzehn weiß kostümierte, leider unidentifizierbare Figuren – wo doch nicht alle Märchenfiguren schützende oder gar rettende „Nothelfer“ sind. So bombastisch Guido Johannes Rumstadt leider Humperdinck
in Richtung Wagner rückte: auch in Nürnberg glänzende erste Solisten und der Jugendchor des Nürnberger Lehrergesangsvereins wirkte klangschön mit.
Lediglich dem Team um Regisseur Keith Warner gelang an der Oper Frankfurt Erstaunliches. In unserer Zeit, in der Kinder nicht getauft werden, keinen (oder schlechten) Religionsunterricht besuchen, selbst kirchliche Kindereinrichtungen eine Horrorgeschichte haben und materielle Güter beziehungsweise Erfolg der einzige Maßstab sind, eliminierte Warner alle kirchlichen Bezüge im Werk.
Samantha Gaul als Taumännchen. Foto: A.T. Schaefer
Zum Vorspiel nehmen Kinder vor einem knallbunten Marionettentheaterchen Platz und bekommen von einem gefährlich aussehenden Glatzkopf in schwarzem Outfit den Waldweg der Kinder und die Heimkehr vorgespielt – alles mit der Zielrichtung „So sollte es sein!“. Dann weitet sich die kleine Szene von Jason Southgates Bühne erstmals fabelhaft imaginativ: in die Dachmansarde eines Waisenhauses, in dem sechs Kinder auf ihren einfachen Metallbetten häusliche Arbeiten verrichten. Hänsel und Gretel steht der Sinn eher nach Singen und Tanzen. Die übergewichtige „Mutter-Gouvernante“ sperrt sie gegen den Widerspruch eines „Therapeuten-Vaters“ zur Strafe ins kleine Theaterkabuff – und durch das in guter Bild- und Lichtregie (John Bishop) bühnengroß verwandelte Schlüsselloch sehen die Geschwister einen ganzen Reigen märchenhafter Gestalten: Zauberer, Rotkäppchen, die Automatenpuppe Olympia, Hase und Jäger, Richard Wagner, seine vier Kinder als Siegfried und Walküren – und wieder den gefährlichen schwarzen Mann. In einem Wald, dessen Bäume mit Buchstaben aus all diesen Geschichten bedeckt sind, schlafen sie zur schönsten Erfindung der Neuinszenierung ein.
Bis dahin erfreute der oftmals feine, an Höhepunkten wie dem Jubelgesang des Kinderchores der Oper reiche, satt spätromantische Klang unter GMD Sebastian Weigle. Der Gretel-Sopran des neuen Ensemblemitglieds Louise Alder strahlte, Katherina Magieras Hänsel konstrastierte prächtig. Nach der Pause betrat das Taumännchen im Kostüm einer neuen, adretten Heimleiterin die sauber hergerichtete Dachmansarde, und zu ihrem Gesang begann die Uhr im Hintergrund rasant zu kreisen: Jahre flogen vorüber, Hänsel und Gretel betraten in Kostüm und Maske junger Erwachsener den Raum ihrer Kindheit, legten sich noch einmal amüsiert in ihre Betten – und träumten wieder verjüngt den Alptraum von der Hexe – von Peter Marsh geheimnisvoll gespielt und mit gewollt scharf-hellem Tenor gesungen. Doch auch hier bot Regisseur Warner einen schönen Schluss: Der Therapeut hat im rückverwandelten Wohnzimmer des erwachsenen Geschwisterpaares erst mal den Fernseher ausgeschaltet, und aus dem jetzt kleinen Hexenhäuschen überreichte Hänsel jedem Kind: ein Buch – Literatur als der choralhaft besungene „Nothelfer“.
Zuvor aber, als Finale im Wald, war Warner und seinem Bühnenteam Anrührendes gelungen: zum Gesang eines bebarteten, viel „Wissen“ aus einer Mappe verstreuenden Sandmännchens fuhr eine Treppe herein – statt Engeln stiegen Johann Heinrich Pestalozzi, Bruno Bettelheim, Sigmund Freud, Ellen Key, Gustave Ador, Astrid Lindgren, Janusz Korczak, Erich Kästner, Albert Schweitzer, die Brüder Grimm, Melanie Klein und Charles Dickens herab – vierzehn „Nothelfer aller Kinder“, die man sich gerade in unseren Kriegstagen allenthalben als traumhaft mächtige Helfer wünschen würde – unvergesslich! Humperdincks „Märchenspiel“ also nicht nur für „kleine“, sondern auch für erwachsene Besucher.
Wolf-Dieter Peter |