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Literarische Vorlagen für den Tanz
Neue Ballett-DVDs bei Arthaus und C Major · Von Malve Gradinger
John Neumeier „Death in Venice“, Arthaus Musik
Hochästhetisch, choreografisch bis in die kleinste Geste durchdacht und dabei großartig erzählt: John Neumeiers „Tod in Venedig“ (2003), ein Klassiker seiner späten Schaffensphase. Aschenbach, in Thomas Manns Novelle ein alternder Schriftsteller, ist hier ein in eine künstlerische Schaffenskrise stürzender Choreograf. Erschöpft von den Proben zu seinem Ballett über Friedrich den Großen, flieht Aschenbach – hochsensibel von Lloyd Riggins interpretiert – nach Venedig, wo er durch den Jüngling Tadzio seine Gefühlswelt und sich selbst ganz neu erfährt. In einer letzten Begegnung mit Tadzio, angelehnt an dessen jugendlichen Körper, sinkt er tot zu Boden. Manche „Aschenbach-Stationen“ sind etwas langatmig. Aber die für das „Friedrich“-Ballett kantig militärisch zugeschliffene Neoklassik zu Musiken von Bach – Zeitgenosse des Preußenkönigs –, und Neumeiers so typisch mit freien Bewegungen dramatisch aufgeladene Neoklassik für Aschenbachs Drama und seine Erlösung im „Liebestod“ zu Wagner-Musiken machen diese DVD unbedingt sehenswert.
John Neumeier „Die kleine
Meerjungfrau“, C Major
Hamburgs Ballettintendant John Neumeier ist einer der wenigen großen Tanzerzähler, die es noch gibt. Und er findet immer einen Weg, literarische Vorlagen auf eine etwas andere, dennoch Sinn machende Weise zu erzählen. In seinem Ballett „Die kleine Meerjungfrau“ – 2005 zum 200. Geburtstag von Hans Christian Andersen (1805-1875) für das Königlich Dänische Ballett kreiert, gefilmt jedoch mit dem San Francisco Ballet – gehört Andersen mit zu den agierenden Figuren. Der Dichter, so Neumeier auf der Bonus-DVD, habe in diesem Märchen höchstwahrscheinlich eine eigene unglückliche Liebe zu einem befreundeten, aber bald verheirateten Mann verarbeitet. Und so ist hier (als Gast) Neumeiers langjähriger, in darstellerischen Rollen führender Solist Lloyd Riggins im schwarzen Habit des 19. Jahrhunderts durchgehend der schattenhaft lenkende, beobachtende und mitleidende Dichter: wenn das sonderbare Meerwesen den Prinzen aus den Fluten rettet; wenn es, aus Liebe zu ihm unter Schmerzen zum Menschen gewandelt, schließlich doch zugrunde geht. Die grazile San-Francisco-Ballett-Solistin Yuan Yuan Tan ist eine starke Darstellerin für Neumeiers psychologisch vertieft in freie Bewegung übersetztes Drama einer unerwiderten Liebe. Hier bilden Choreografie und Lera Auerbachs eigens komponierte zeitgenössische Klangwelt eine künstlerische Einheit. Was weniger der Fall ist bei den in veraltet klassischer Manier entworfenen Tänzen für Unterwassergeschöpfe, Matrosen, Nonnen und Hochzeitsgesellschaft. Im Ensemble des San Francisco Ballet fehlt es zudem an einer europäischen Kultur des Tanzes und des Ausdrucks, was durch Lloyd Riggins‘ subtile dramatische Gestaltungskraft umso auffälliger wird.
Auf der beiliegenden zweiten DVD dokumentieren Probenausschnitte und Interviews mit Neumeier und den Solisten sehr ausführlich den Entstehungsprozess des Balletts.
Jean-Christophe Maillot
„Le Songe“, Arthaus Musik
„Ein Sommernachtstraum“ gehört, neben „Romeo und Julia“, zu den meist vertanzten Shakespeare-Stücken. Mit „Le Songe“ („Der Traum“) hat Jean-Christophe Maillot, von 1977 bis 1993 Solist in Neumeiers Hamburg Ballett und seit 1993 erfolgreicher Choreograf-Intendant der Ballets de Monte Carlo eine Version geschaffen, die in ihrer zeitgemäßen Dynamik und ihrer schlanken modernen Ballett- und Bühnen-Ästhetik ein breites Publikum ansprechen müsste. Ein paar Säulen deuten Theseus’ Athener Palast an, ein hoch oben schwebendes Nordlicht-ähnliches Gebilde den Zauberwald (Szenographie: Ernest
Pignon-Ernest), wo ein quirliger Puck auf einer riesigen rollenden Blüte als Schabernack-Inszenator kurzzeitig Herzensneigungen und erotische Anziehungen neu mischt: zwischen Hermia/Lysander, Helena/Demetrius und dem Feen-Herrscherpaar Oberon/Titania. Trotz sich komplex überlagernder Aktionen von Hauptakteuren, Elfen, Kobolden und – dies ein Abstrich – schrill-derb inszenierten Handwerkern, wird die Geschichte zu Mendelssohn Bartholdys Bühnenmusik und zeitgenössischen (Traum-)Klängen und Geräusch-Effekten vom Duo Daniel Terrugi/Bertrand Maillot klar und komödiantisch unterhaltsam erzählt. Und das Monte-Carlo-Ensemble flitzt nur so in hohem Tempo durch Jean- Christophe Maillots akrobatisch-neoklassische Schrittdichte.
Malve Gradinger
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