Weltweit geachteter Kulturschatz
Der Carus-Verlag und sein großes Liederprojekt
Seit 40 Jahren gibt es den Carus-Verlag in Stuttgart. Besondere Aufmerksamkeit erregte der Verlag, dessen Programmschwerpunkt im Bereich der Vokalmusik liegt, letzthin mit seinem umfangreichen Liederprojekt, das Wiegen-, Kinder-, Volks- und Weihnachtslieder präsentiert und CDs, Liederbücher sowie weitere Materialien beinhaltet. Mit dem Geschäftsführer und Mitinhaber, Johannes Graulich, sprach Barbara Haack für „Oper & Tanz“ über das umfangreiche Projekt.
Oper&Tanz: Der Carus-Verlag feiert in diesem Jahr seinen 40. Geburtstag. Wie hat sich das Unternehmen in diesen 40 Jahren entwickelt?
CD
Johannes Graulich: Mein Vater war Schul- und Kirchenmusiker und hatte einen Oratorienchor in Stuttgart. Er war schon immer auf der Suche nach guten Notenausgaben für diesen Chor – und gründete aus diesem Interesse heraus den Carus-Verlag. Das ist die Konstante bis heute: Wir suchen immer nach Literatur, die entweder gar nicht, nicht mehr oder nicht in guten Ausgaben vorhanden ist. Heute haben wir über 23.000 Ausgaben, 6.000 Komponisten sind bei uns in irgendeiner Form verlegt. Der größte Teil des Programms dreht sich um das Thema Vokalmusik, meistens Chormusik. In vielen Ländern gibt es Chorleiter, die gerne nach unseren Ausgaben musizieren, und so hat sich der Verlag zu einem mittelständischen Unternehmen entwickelt.
O&T: Die Reihe Ihres Liederprojektes hat mit Wiegenliedern begonnen, es folgten Kinderlieder und Volkslieder, Weihnachtslieder sind in Planung. Ein groß angelegtes Projekt mit CDs, Liederbüchern, Notenbänden, Playback-CDs, das der Carus-Verlag gemeinsam mit dem SWR realisiert. Wie ist es dazu gekommen?
Viele Lieder sind unbekannt
Graulich: Der Opern- und Konzertsänger Cornelius Hauptmann hat die Idee an uns heran getragen. Er hat die Erfahrung gemacht, dass die Wiegenlieder, die er als Kind kennen und lieben gelernt hat, heute größtenteils unbekannt sind. Er bat seine Sängerkollegen, etwas dazu beizutragen, dass Wiegenlieder wieder eine größere Bedeutung bekommen. Alle führenden deutschen Sängerinnen und Sänger sollten dazu ihr Lieblings-Wiegenlied für CD einspielen. Das ist natürlich zunächst einmal ein Albtraum: 50 Liedwünsche, 50 Studio-Termine, 50 Begleiter, 50 Klavierstimmer… Wir fanden die Idee kühn, waren aber gleichzeitig begeistert. Und es war uns sofort klar, dass wir das allein nicht bewältigen können. Das Projekt mit dem SWR zu realisieren, der sich mehr um die Aufnahmen kümmert, während wir für die Begleitpublikationen verantwortlich waren, war schließlich genau die richtige Entscheidung.
O&T: Sind Sie damit auf den SWR zugegangen?
CD
Graulich: Ja, auf die Musikredaktion von SWR 2, die das Liederprojekt bis heute begleitet. Es ist dort eng ins Programm eingebunden; der SWR hat es außerdem an andere ARD-Kulturradios vermittelt, so dass das Liederprojekt inzwischen beispielsweise auch in Sachsen und Bayern wöchentlich im Radio zu hören ist. Auch Tageszeitungen beteiligen sich und stellen – wie auch „ZEIT ONLINE“ – jede Woche ein Lied vor. Zum Singen und Musizieren sind Liederbücher und Klavierbegleitbände entstanden, zu den Kinderliedern gibt es zahlreiche Arrangements. Diese Arrangements dienen auch dem Zweck, alte Lieder in eine Form zu bringen, dass sie auch heute noch gerne gehört und gesungen werden.
Größere Baustelle
O&T: War, als Sie mit den Wiegenliedern begonnen haben, die Dimension des Gesamtprojektes schon abzusehen?
Graulich: Nein, die Redakteurin beim SWR war allerdings gleich so klug zu erkennen, dass daraus eine größere Baustelle werden könnte. Wenn also zum Beispiel Christoph Prégardien schon mal im Studio war, wurde er gebeten, noch zwei weitere Lieder zu singen. Damit konnten wir die Sänger gleich für die Folgeprojekte begeistern.
O&T: Wie haben Sie die Sänger dazu gebracht mitzumachen?
CD
Graulich: Die Sänger waren begeistert von der Idee, etwas für das Singen in den Familien zu tun. Auch solche, die sonst eine fünfstellige Abendgage haben, sind umsonst ins Studio gekommen und haben ihr Lied gesungen. Wir als Label haben uns wiederum verpflichtet, von jeder verkauften CD zwei Euro an Projekte für das Singen mit Kindern zu spenden. Mittlerweile sind über 300.000 Euro zusammen gekommen. Zudem wurden alle Inhalte des Liederprojekts kostenfrei ins Netz gestellt.
O&T: Welches war und ist das inhaltliche Ziel dieses Mammutprojekts?
Graulich: Die Grundidee ist, das Singen mit Kindern in der Familie zu stärken. Diese Idee kam zur richtigen Zeit, es gab zeitgleich viele andere tolle Initiativen in Deutschland von verschiedenen Verbänden und Interessensgruppen. Und noch eine zweite Idee steckt hinter dem Projekt: Uns ist oft gar nicht bewusst, dass diese deutschen Lieder weltweit bekannt und beliebt sind. Das bekannteste Wiegenlied ist „Guten Abend, gute Nacht“ von Johannes Brahms. Das gibt es in fast allen Sprachen. Das heißt: Unsere Lieder sind ein weltweit geachteter Kulturschatz – mit wunderschönen Melodien und berührenden Texten. Wir sind der Meinung, dass diese Lieder nicht vergessen werden sollten.
O&T: Sie haben eine Unterteilung in Wiegenlieder, Volkslieder, Kinder- und jetzt noch Weihnachtslieder vorgenommen. Lassen sich diese Sparten immer ganz genau trennen?
Graulich: Nein. Wir haben zum Beispiel zu den Wiegenliedern auch Schlaf- oder Abendlieder gestellt. Unter den Volksliedern finden sich Lieder, die vor allem mit Kindern sehr gut funktionieren. Wir haben bei den Kinderliedern Lieder, die Erwachsenen großen Spaß machen. Das ist nicht zu trennen, aber das ist auch nicht unser Ziel. Wir betreiben kein wissenschaftliches Projekt.
O&T: Inzwischen hat sich Ihr Projekt auch auf alte Menschen ausgeweitet.
Graulich: Wir haben viele Rückmeldungen von Menschen beispielsweise mit Demenzerkrankungen beziehungsweise von deren Angehörigen bekommen. Über das Hören und Singen von Wiegenliedern bekommen solche Menschen wieder Kontakt zu ihrer Umwelt. Mit Caritas und Diakonie haben wir gerade ein Projekt „Singen kennt kein Alter!“ begonnen und versuchen anhand von Kirchenliedern, das Singen im Bereich der stationären Pflege besser zu verankern und damit die Lebensqualität hochaltriger Menschen zu verbessern.
O&T: Muss man denn für alte Menschen etwas anders machen als für Kinder?
Graulich: Ja. Sehr wichtig ist die Tonhöhe. Und wir haben auch andere Lieder und andere Fassungen ausgesucht, also die Fassungen aus der Kindheit der heute 80-Jährigen. Spezialisten aus dem Bereich „Musik im Alter“ haben uns beraten, wenn es um Fragen ging wie: „Wie schwer darf die Klavierbegleitung sein? Wie groß muss das Druckbild sein? Wie schnell darf man die Lieder angehen?“. Das war auch für uns ein neues Gebiet.
O&T: Sie haben die Lieder größtenteils mit sehr bekannten Sängern mit großer Kunststimme aufgenommen. Sind Sie dabei auch der Kritik begegnet, dass das zur eher schlichten Art der Lieder oder auch zur Musikwelt der Kinder nicht passt?
Realität ist anders als Konzept
Graulich: Ja, das sind wir. Musik polarisiert. Dafür, dass wir Stars aus Oper und Konzert ausgewählt haben, wurden wir auch kritisiert. Ich persönlich war allerdings überrascht, wie sensibel und schlicht Opernstars ein Wiegenlied singen können. Bei den Kinderliedern haben wir aber fast ganz darauf verzichtet, die großen Stars singen zu lassen, sondern haben Kinder und Kinderchöre aus ganz Deutschland ins Studio geholt.
O&T: Zum Mitsingen eignen sich diese Lieder-CDs aber nicht besonders gut. Sie sind doch eher zum Anhören gedacht.
Graulich: Ja. Allerdings ist die Realität auch da anders als das Konzept. Wir dachten an CDs zum Anhören und haben deshalb eigens instrumentale Mitsing-CDs produziert, die dem Liederbuch beiliegen. Aber es gibt viele Familien, die mit den vokalen CDs singen.
O&T: Beim Hören zum Beispiel der Volkslieder stellt sich bei Erwachsenen sehr oft der Effekt des Wiedererkennens oder Erinnerns ein. Wie ist Ihre Erfahrung bei den Kindern?
Graulich: Das hängt sehr vom Hintergrund ab. Eine Erkenntnis für mich aus dem Projekt ist, dass die wichtigsten Musikvermittler für die Kinder nicht die Erzieher oder Grundschullehrer sind, sondern die Eltern. Wir haben bei den Kinderliedern auch neuere Lieder dazu genommen, die im Kindergarten bekannt sind. Insgesamt muss man aber sagen: Die Zeiten, in denen es einen Liederkanon für alle gibt, sind leider vorbei.
O&T: Frage an den Verleger: Wie sieht die wirtschaftliche Seite aus? Trägt sich dieses Projekt? Verdienen Sie damit Geld?
Graulich: Ich glaube, dass es für uns auf jeden Fall ein Gewinn war, vor allem auch hinsichtlich der Wahrnehmung des Carus-Verlags. Wer mit dem Bereich Chormusik nichts zu tun hatte, kannte uns bisher kaum. Das hat sich verändert. Das Projekt insgesamt hat einen sehr hohen Sympathie- und Aufmerksamkeits-Effekt. Normalerweise bewegen wir uns in einer Nische. Dies war ein Projekt, mit dem es uns gelungen ist, in eine breitere Öffentlichkeit zu kommen. Das ist für uns schön und wichtig.
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