|
Mehr Perspektiven als Probleme
Die deutsche Orchesterkonferenz 2012 · Von Amrei Flechsig
„Frisch gestrichen“: Mit dieser Parole demonstrierten Orches-termusiker in Hannover am 21. Mai, dem UNESCO-Welttag zur kulturellen Vielfalt, gegen den Orchesterabbau und brachten mit dem Choral „Aus tiefer Not schrei ich zu Dir“ die Not der von Sparmaßnahmen bedrohten Orchesterlandschaft zu Gehör: Auftakt zur diesjährigen Deutschen Orches-terkonferenz der Deutschen Orchestervereinigung (DOV). Der aktuellen Situation verpflichtet, stellte die DOV die Leitfrage „Neue Wege, neue Medien, neue Modelle?“. Anknüpfend an die Aktion am Vortag bedauerte Geschäftsführer Gerald Mertens in seiner Begrüßung, dass der Sinn für den Wert der Kultur verloren gegangen sei.
Protestaktion in Hannover: „Orchester frisch gestrichen“. Foto: DOV
Mögliche Strategien zur Existenzsicherung entwarf Peter Gartiser von der METRUM Unternehmensberatung München in seinem Impulsreferat. Die drei Aspekte Markt, Marke und Struktur stellte er in den Vordergrund. In punkto Markt seien unter anderem eine Kundenbindung und ein Bewusstsein für die Vorteile einer Stammkundschaft wichtig. Als ein hochkomplexes System erweise sich die Markenbildung, so Gartiser; Markenleistung bestehe dabei nicht nur in Werbemitteln, sondern auch in Kommunikation, Service bis zum eigentlichen „Produkt“, dem Klangkörper. Dabei müsse die Markenfindung (als „Selbstfindungsprozess“) immer nach der Relevanz fragen. Den innerbetrieblichen Konfliktherden – gemeinsame Zielfindung,
Planungsunsicherheit, hohe Arbeitsbelastung – begegnete Gartiser mit Vorschlägen für Umstrukturierungen, vor allem sollten eine Geschäftsordnung und die Zuständigkeiten festgelegt werden. Innovationen können letztendlich von „allen“ ausgehen, es kommt dabei auf die nötige Kommunikation und Aufmerksamkeit für die Stimmung innerhalb und außerhalb des Betriebs an. Gartiser betonte schließlich, dass auch die Politiker lernen müssten, worum es bei der Kulturarbeit geht, und zwar am besten hautnah.
Fragen öffentlicher Förderung und der Unterstützung innovativer Maßnahmen standen in einer Podiumsdiskussion zur Debatte. Detlef Lehmbruck vom Ministerium für Wissenschaft und Kultur Niedersachsen beschrieb die derzeitigen niedersächsischen Maßnahmenpläne zur Intensivierung der Arbeit mit Jugendlichen und einem Publikum mit Migrationshintergrund und das vorrangige Interesse an der Bewältigung des demographischen Wandels. Frank Lefers, Intendant des Staatsorchesters Rheinische Philharmonie Koblenz, setzte dem einen Wunsch nach mehr Verständnis auf allen Ebenen der Politik und Kulturarbeit entgegen: für mehr Vermittlung und Förderung, den kulturellen Bildungsauftrag, mehr Personalbedarf und die aktuelle Situation. Einig waren sich Lefers und Lehmbruck darin, dass bei der Frage nach einer Finanzierung neuer Impulse Evaluationen und Zahlen Gewicht haben, es sei „alles eine Frage der seriösen Argumentation“. Nach Rückfragen aus dem Publikum betonten beide, dass Innovationen nur funktionieren können, wenn das Orchester selbst auch wirklich einbezogen wird.
Social Media für Orchester
Letztes großes Thema des Tages waren die Möglichkeiten des Web 2.0 für die Orches-terarbeit. Als einen großformatigen Sonderfall stellte Tobias Möller das Projekt der Digital Concert Hall der Berliner Philharmoniker vor: Das Projekt bildet einen Ausgangspunkt für die Nutzung von Social Media, da Filmausschnitte als „Appetithappen“ über YouTube, Facebook und Twitter laufen – auch ein Weg, das spezielle Publikum der Digital Concert Hall besser kennenzulernen. Noch zurückhaltend gegenüber der Nutzung von Social Media war Matthias Ilkenhans von der NDR Radiophilharmonie Hannover, die online bisher unter anderem Konzerttagebücher und Begleitmaterialien veröffentlicht hat, – der Einstieg in Social Media könne nur mit ausreichend Planung und Qualität erfolgen. Für Praxisorientierung sorgte der Wiener Kulturberater Christian Henner-Fehr. Er skizzierte eine gestufte Zielstellung für die Arbeit mit Social Media: Erhöhung des Bekanntheitsgrades, Neugierde wecken, Kundenservice anbieten und Community unterstützen. Entscheidend sei, immer im Dialog zu bleiben, neue Formate zu entwickeln und vor allem „Geschichten“ zu erzählen, um Interesse zu wecken. Er betonte, dass die Web-Vernetzung mit der Reaktion in Echtzeit die schnellste Form des Informationsaustauschs sei. In der offenen Fragerunde herrschte Konsens darüber, dass Möglichkeiten auch für kleinere Orchester bestehen, besonders Videos seien ideal.
Angesichts der derzeitigen Situation überraschte die positiv aufgeschlossene Stimmung. Insgesamt zeichnete sich die Konferenz dadurch aus, dass mehr Perspektiven entworfen als Probleme gewälzt wurden – durchaus angemessen für eine Gegenwart, die ein neues Handeln erfordert, nicht nur der Politiker und Förderer, sondern auch der Orchester selbst. Nur im ständigen Dialog können neue Strukturen und Wege gefunden werden, aber es gibt durchaus viele Möglichkeiten – so der Tenor der Orchesterkonferenz.
Amrei Flechsig
|