|
Unvergleichbare Regisseurin
Regie: Ruth Berghaus. Geschichten aus der Produktion. Herausgegeben
von Irene Bazinger, Rotbuch Verlag, 2010, 271 Seiten, € 22,95
Als Person erscheint sie im Rückblick durchaus disparat:
hart fordernd und zugleich tolerant, beharrlich ordnend, diszipliniert,
stur, standhaft, verletzlich. „Gnadenlos in ihrer Kompromisslosigkeit“ – so
Anja Silja – sei die Regisseurin gewesen, und wie viele bezeugen:
vor allem sich selbst gegenüber. Mit einfachen, aber elementaren
Fragen, erinnert Hans Dieter Schaal, habe sie im Team komplexes
Denken gefordert und initiiert. Ganz gleich, ob es darum ging,
Figur oder Werk im Kern zu erfassen, Konzeptionen für das
Gefüge von Musik, Text, Bühne, Licht und Kostüm
zu entwickeln oder eine szenisch-praktische Lösung zu finden – die
Berghaus, notiert Sebastian Baumgarten, habe stets „ein extrem
hochfrequent arbeitendes Umfeld“ benötigt und sich auch
organisiert.
Dreißig einstige Arbeitspartner – Sänger, Dramaturgen,
Ausstatter, Dirigenten, Komponisten, Regiekollegen und andere – resümieren
sowohl die Intensität, die Präzision und das Miteinander
im Arbeitsprozess. Aus verschiedener Perspektive persönlich
Erinnertes ergibt im Zug der Lektüre das Mosaik einer singulären
Theaterbiographie. Ruth Berghaus (1927-1996) inszenierte Tanz,
Oper und Schauspiel und trieb Theaterarbeit in neue Dimensionen.
Ihre Karriere indes entwickelte sich im Wechsel in den kontrovers
ineinander verzahnten zwei deutschen Staaten. Nach ihrem kulturpolitischen
Sturz 1977 als Intendantin am Berliner Ensemble ermöglichte
ihr Michael Gielen an der Oper Frankfurt ein kreatives Arbeitsjahrzehnt.
Die neu eröffnende Dresdner Semperoper holte sie 1985 in die
DDR zurück – die Berliner Lindenoper, an der ihre „Barbier“-Inszenierung
von 1968 heute immer noch läuft, hatte nach 1990 keine Verwendung
für sie. Ruth Berghaus, Stasi-Opfer und Kommunistin, war kulturpolitisch
schwer instrumentalisierbar. Ihr Ansatz, Musiktheater als sinnlich-intellektuell
brisante Kunstform zu realisieren, bediente keinen Erwartungshorizont.
Sie brachte alle fünf Opern ihres Mannes Paul Dessau heraus,
zuletzt inszenierte sie an verschiedenen Häusern Opern Verdis
und frühe Stücke von Brecht.
Alle Zeugen, die in den Bann ihrer Arbeit gerieten, haben Vergleichbares
im Theater später nicht mehr erlebt. Sebastian Baumgarten
begründet dies mit einem grundsätzlichen Wandel
in der Erwartung daran. Das Außergewöhnliche – in
der Handschrift der Berghaus singulär, substanziell – sei
heute in Schauspiel- wie Opernbetrieb Grundanforderung und verliere
somit an Bedeutung. Die Frage nach relevanten Weiterentwicklungen
in der Theaterregie ist kein Thema der Publikation. Die Herausgeberin
Irene Bazinger (sie ist selbst Dramaturgin und Journalistin), beabsichtigt
mit der Form des Erinnerns eine Rekonstruktion. Eine plausible,
streckenweise faszinierende, freilich fragmentarische Form gedruckter
Theaterdokumentation. Frank Kämpfer |