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Zeitgenössisches Balletttheater
Ballettchef Goyo Montero am Staatstheater Nürnberg · Von
Alexandra Karabelas
Seit der ersten Premiere am 13. Dezember 2008 liegt er oft nach
der Vorstellung in der Luft. Die letzten Töne sind verklungen,
die letzten Bewegungen vollzogen, das Licht ist aus den Bildern
verschwunden. Da hebt dieser besondere Applaus an. Er überrascht,
und Begeisterung und Neugier schwingen in ihm mit. Er dauert immer
etwas länger, vollzieht sich als ein Geben und Nehmen zwischen
den Zuschauern im Parkett und den Tänzern auf der Bühne.
Geheime Komplizenschaften sind im Schattenreich des Tanzes entstanden,
die im Applaus, in Blicken, Gesten, Betrachtungen und Verbeugungen
ihre sichtbaren Codes haben.
Es ist die Rede vom neuen Ballettensemble des Staatstheaters
Nürnberg:
19 erstklassig ausgebildete Tänzerinnen und Tänzer zwischen
22 und 32 Jahren aus 10 Ländern, ein Drittel von ihnen stammt
aus Spanien – so auch ihr Chef: Goyo Montero, Jahrgang 1975,
Kind einer Balletttänzerin und eines ebenso tanzenden und
choreografierenden Vaters aus Madrid. Er folgte den Spuren, die
sie gelegt hatten, und wurde ein äußerst erfolgreicher
Solist und Erster Solist, unter anderem an der Deutschen Oper Berlin.
Sein jetziges Ensemble ist frisch aus der Sommerpause zurück
und beglückt das Publikum bis zur nächsten Uraufführung
mit seinem jüngsten Streich, dem Tanzstück „El
sueño de la razón – der Traum der Vernunft“.
Am Ende der Vorstellung ist sie wieder da: diese erhöhte Präsenz
und Zuneigung. Montero hatte sich für das Stück intensiv
mit den Künstlern Francisco de Goya und Ludwig van Beethoven
auseinandergesetzt. Auch diesem Werk sieht man seine Faszination
für den Film an: Die einzelnen Szenen sind so raffiniert gebaut,
dass Außen- und Innenwelt sowie die Empfindungen der erkrankten
Künstler gleichzeitig wahrgenommen und erspürt werden
können. Textpassagen und Bewegungsphrasen verwandeln sich
zu intensiv getanzten, surreal anmutenden Darstellungen. Und es
ist das Auge des Betrachters, das an der Zusammensetzung der Bilder
großen Anteil hat. So erweist sich die hochmusikalische Variation,
die als Bewegungsfluss über mannshohe schwarze Aufbauten hinwegperlt,
nach und nach als sichtbar gemachte Kompositionsphantasie Beethovens
auf dem Klavier. Das Stück beinhaltet viele Momente, in denen
die Passionen des Choreografen Goyo Montero zum Vorschein kommen:
so seine Beschäftigung mit der Kunst und Kultur seines Heimatlandes.
Vieles davon ist in seine Tanzstücke eingewoben. Hinzu kommt
seine Vorliebe für die Kreation dynamischer Bewegungsströme
in einer Gruppe. Jede Andeutung einer Form erweist sich als doppelte
Passage: des Einzelnen und der Gemeinschaft. Zunehmend zeigt sich
sein Experimentieren mit zeitversetzten Anordnungen von Bewegungen
und Schritten in einer Gruppe als Charakteristikum seiner Auseinandersetzung
mit dem Strukturmodell Ballett. Der Ansatz wurde bereits beim Einstieg
in Nürnberg mit „Benditos Malditos“ sichtbar.
In Erinnerung daran offenbart sich seine dritte Passion: Seine
Tänzer sollen, so sein Wunsch, einen homogenen Stil tanzen. „Ich
liebe diese Company. Jedes Mitglied ist eine Persönlichkeit,
die sich auf der Bühne mitteilt. Wichtig ist mir als Choreograf
aber, dass sie das, was sie auf der Bühne tanzen, in derselben
Art tun.“ Warmherzig und zäh
Montero traf man zuvor in der Kantine des Hauses. Wenn er sich
hinsetzt, reflektiert seine Körperspannung die jahrelange
Existenz als Tänzer. Nach und nach entdeckt man in ihm einen
warmherzigen und zugleich sehr zähen Anführer, der weiß,
wohin die Reise gehen soll und dass sie sich lohnen wird. Aktuell:
geradewegs zu auf eine „Carmen“ auf der Grundlage von
Prosper Mérimées Novelle aus dem Jahr 1845. Die Uraufführung
ist am 12. Dezember 2010. Der Stoff reizt ihn nicht nur wegen des
herausfordernden Frauenbildes. Er achtet „Carmen“ als
komplexes Erbe, zu dem er Stellung beziehen möchte. So scheint
der Choreograf Goyo Montero seine künstlerischen Prozesse
zu beginnen. Dann geht es ihm darum, sagt er, seinen eigenen Weg
zu finden. Man kann diesen „Weg“ als Strategie oder
Verfahren interpretieren. Denn obgleich Mats Ek eines seiner wichtigsten
Vorbilder ist und er selbst als Tänzer gerne auf der Bühne
einen Rollencharakter entwickelte, sucht er weniger die Bewegung
in ihrer Bedeutung. Stattdessen geht er mit dem Ballett und anderen
traditionellen Tanz-Ästhetiken wie nun bei „Carmen“ mit
dem Flamenco als ideelles und materielles Artefakt so um, dass
die eigene Kreation einer Ästhetik der Gegenwart folgt, jedoch
den weiten Resonanzraum des Vergangenen erinnert: Dieses jeweils
Vergangene wird evoziert, zitiert, kommentiert oder zum Material
umfunktioniert, um eine spezifische narrative Substanz für
die Gegenwart zu gewinnen – so wie es ihm auf herausragende
Weise mit „Dornröschen“ gelungen ist. Die Wiederaufnahme
des Stückes steht am 22. Januar an. Es ist eine der erfolgreichsten
Choreografien Goyo Monteros. Um den Ballettklassiker zu fassen,
hatte Montero ihn hinsichtlich seines gesamten Zeichenbestands
durchleuchtet, sich mit der Psychologie im Stück auseinandergesetzt,
dann das Alltägliche herausgeschält und in eine Inszenierung
gegossen, die der Postmoderne alle Ehre macht. Die Handlungsstränge
sind umgestellt, der Kuss zwischen Prinz und Aurora erfolgt früh
im Stück und endet mit einer schallenden Ohrfeige, die das,
was zu verhandeln gilt, aus dem geschichtsträchtigen Raum
in die Gegenwart herüberholt. Montero gehört, und das
zeigt der kontinuierliche Blick auf seine in Nürnberg entstehenden
Stücke, zu jenen Choreografen, die Ballett zum Ausgangspunkt
einer wirklich eigenen künstlerischen Position machen. Kraftvolle Impulse
Den Horizont hierfür spannte zuletzt William Forsythe weit
auf, als er in den 1980er-Jahren seine weitreichende Auseinandersetzung
mit dem Ballett führte und es aus der Vorstellung eines abgeschlossenen,
homogenen, unbedingt narrativen Kunstobjekts irreversibel lösen
konnte. Kraftvolle und kontrovers diskutierte Impulse gehen seitdem
bekanntermaßen von Den Haag, Stuttgart, München, Hamburg,
Frankfurt, London oder dem italienischen Reggio Emilia aus, um
nur einige der traditionellen europäischen Tanzzentren zu
nennen. Nürnberg zählt nun dazu. Goyo Montero macht das
dortige Staatstheater zu dem Ort, an dem er, zieht man nach seinen
zwei Jahren als Direktor eine künstlerisch-ästhetische
Zwischenbilanz, beharrlich an seinem künstlerischen Konzept
des performativen Erzählens arbeiten kann: einem inszenatorischen
Verfahren, das narrativen Impulsen folgt und dem Zuschauer Möglichkeiten
zur Identifikation mit den fiktiven Figuren, Rollenmustern und
dargestellten Erfahrungen bietet, ohne diese jedoch wirklich zu
behaupten. Dadurch schafft er einen großen Freiraum für ein performatives Wahrnehmen, das bislang
hauptsächlich im Hinblick auf den zeitgenössischen Tanz
diskutiert wurde. Das narrative Ballett wird dadurch konzeptionell
mit neuen Optionen weitergeführt. Bewegungsflusssucher
Wo aber William Forsythe bis in die Körper hinein gearbeitet
hat, die Bewegungstextur des klassischen Tanzes freilegte und nach
neuen Verfahren wieder zusammensetzte, ist Goyo Monteros Schrittmaterial
dem allgemein zeitgenössischen Ballettbewegungsvokabular anverwandelt.
Als Schrittemacher kann man ihn daher weniger bezeichnen, eher
schon als „Bewegungsflusssucher“, „Regisseur
mehrerer Wirklichkeiten“ oder „Bildhauer eines anderen
kollektiven Ballettkörpers“. Sein Publikum liebt ihn
dafür, die Zahlen und Auslastungen gehen steil nach oben.
Den Tänzern geht er voraus, indem er viele Bewegungsfolgen
vorgibt und den Raum eher klein lässt für eigene Kreationen.
Das wirft ihn, gemessen an Forsythes Errungenschaft der Partizipation
der Tänzer am choreografischen Prozess, zurück. In dieser
Spielzeit holt er auf. Was in anderen Städten oft „Junge
Choreografen“ heißt, nennt er „Exquisite Corpse“,
gemäß der von den Surrealisten entwickelten kreativen
Methode, einen Satz oder eine Zeichnung durch mehrere Personen
konstruieren zu lassen. Start ist am 15. April 2011. Zwei Monate
später wird Montero schließlich stolz die letzte Saisonpremiere
vorstellen. Am 18. Juni wird seine Truppe erstmals jeweils ein
Ballett von Jirí Kylián („Sechs Tänze“ von
1984) und Nacho Duato („Duende“ von 1991) tanzen – in
Nürnberg ein Novum und so etwas wie der Eintritt in die Champions
League unter den Balletthäusern. Den Vertrag dafür hat
er schon in der Tasche. Er gilt bis 2012. Alexandra Karabelas
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