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Ein nationales Heiligtum
Zum 85. Geburtstag der Tänzerin Maija Plissezkaja · Von
Vesna Mlakar „Natürlich sind meine Sprünge nicht mehr
so hoch, aber die alte Kraft spüre ich immer noch.“ Maija
Plissezkaja wäre nicht „die Plissezkaja“ ohne
solche (augenzwinkernden) Feststellungen. Immer wieder kann man
ihre hochaufgerichtete, schlanke Gestalt, zum Beispiel in von Mariss
Jansons dirigierten Konzerten, an der Seite ihres Mannes – des
Komponisten Rodion Shchedrin (geb. 1932) – ausmachen. Die
Musik und das Ballett prägten sie von frühester Kindheit
an. Und so manch märchenhafter oder mythischer Bühnenfigur
verhalf Maija mittels ihrer brillanten Technik, gewaltigen Sprungkraft
und individuellen Ausdrucksstärke zu Wahrhaftigkeit und Ausstrahlung.
Tanz-Familie
Geboren wurde Maija Michailowna Plissezkaja am 20. November 1925
als Enkelin einer litauischen Familie in Moskau. Ihre Mutter, Rachel
Messerer, war von Beruf Filmschauspielerin, verdiente sich ihr
Geld aber auch als Telefonistin, Registratorin in einer Poliklinik
oder selbstständige Masseurin. Assaf Messerer, Maijas Onkel,
war ein hervorragender Tänzer und ersann zahlreiche technische
Tricks, womit er den virtuosen Stil des klassischen männlichen
Solotanzes vorantrieb. Ballettlegenden wie Ulanowa, Wassiljew,
Maximowa und die junge Plissezkaja trainierten unter seiner pädagogisch
großartigen Obhut. Aber auch die Schwester der Mutter, Sulamith
Messerer, gehörte zur Bolschoier Ballettcompagnie. Sie war
es auch, die Maija betreute, während ihre Mutter Rachel von
1938 bis 1946 im Gefängnis festgehalten wurde. Der Vater Plissezki
stammte aus Gomel und trat 1918 der kommunistischen Partei bei.
1938 – Maija war gerade mal 13 Jahre alt – wurde er
in Stalins Auftrag von Tschekis-ten erschossen, 20 Jahre später,
zur Zeit des Chruschtschowschen „Tauwetters“ posthum „wegen
des Fehlens eines Tatbestandes“ rehabilitiert. Erste Erfolge „Vorbelastet“ – in doppelter Hinsicht – bestand
Maija Plissezkaja 1934 die Zulassungsprüfung für den
Eintritt in die Moskauer Choreografische Lehranstalt unter dem
damaligen Schuldirektor Viktor Alexandrowitsch Semjonow, ehemals „premier
danseur“ des St. Petersburger Marientheaters und einem der
ersten von Agrippina Waganowa ausgebildeten Tänzer. Die Abschlussfeier
in ihrer Schule am 21. Juni 1941 fiel auf den Vortag des Kriegsbeginns
zwischen Hitler-Deutschland und der Sowjetunion Stalins. Zwei Jahre
später, nach Beendigung ihrer Ballettausbildung, wurde Maija
Plissezkaja mit Auszeichnung am Bolschoi aufgenommen und bekam
ein zehn Quadratmeter großes Zimmer in einer Kommunalwohnung
des Theaters an der Schtschepkinstraße 8 zugeteilt. Diese
Adresse behielt sie bis 1955.
1951 hatte das Bolschoi-Theater 175. Jubiläum gefeiert und
Maija Plissezkaja war mit dem Titel „Verdiente Künstlerin
der Russischen Föderation“ ausgezeichnet worden. Nach
ihrer Heirat mit Rodion Shchedrin am 2. Oktober 1958 zog sie in
eine Wohnung am Kutusow-Prospekt. Als sie dann ab Ende der 1950er-Jahre
wiederholt auf Auslandstourneen geschickt wurde (der persönliche
Verdienst pro Vorstellung betrug 40 Dollar), musste ihr Mann quasi
als Faustpfand daheim zurückbleiben. So eroberte sie New York
(1959), Paris (1961) und England (1963) im Sturm. Zurück in
Moskau wurde ihr 1964 die höchste Auszeichnung für Künstler
in der Sowjetunion verliehen: der Leninpreis. Eine Filmaufzeichnung
(DVD VAI 4264) gibt davon Zeugnis. Offen für moderne Choreografie
Saint-Saëns’ „Sterbender Schwan“, den sie
laut Aufzeichnungen mehr als 20.000 Mal verkörperte, machte
sie weltberühmt. Ihre Interpretation von Béjarts legendärem „Bolero“ (Ravel)
1975 – da war sie 50 – jedoch zeigte, wie wenig sie
sich trotz aller Treue zur russischen Tradition des Bolschoi in
ein Korsett purer Klassik sperren ließ. Gegen heftige Widerstände
setzte sie moderne Choreo-grafien durch, und das kommunistische
Russland verdankte ihr die Akzeptanz von Roland Petits und Maurice
Béjarts Schaffen. Von Stalin beklatscht, von Chruschtschow
gepiesackt und von Putin verehrt, überwand Maija Plissezkaja
im Namen der Tanzkunst die politischen und künstlerischen
Grenzen ihres Heimatlandes. Flucht kam für sie nicht in Frage. Überlegungen,
sich nach dem Fall des Eisernen Vorhangs in Paris niederzulassen,
schlug sie in den Wind.
Seit 1991 lebt sie (allerdings nicht ausschließlich) in München.
Angetan haben es ihr „der Ordnungssinn und Fleiß“ der
Deutschen. In ihrer Heimat, deren Sprache sie – zwar Weltbürgerin – nach
wie vor an erster Stelle zu sprechen pflegt, wurde ihr als Primaballerina
Assoluta der Status eines „nationalen Heiligtums“ zuerkannt.
Und das, obwohl sie 1993 die spanische Staatsangehörigkeit
annahm. Im Rahmen einer zu ihrem 80. Geburtstag im Moskauer Kreml
ausgerichteten Gala tanzte sie noch einmal die von Béjart
zu ihrem 50. Bühnenjubiläum im Jahr 2000 kreierte Bach-Miniatur „Ave
Maya“. Eigene Choreografien
Plissezkajas Stärke lag – nachprüfbar dank zahlreicher
Filmaufnahmen, die in den letzten Jahren vor allem bei VAI auf
DVD herauskamen – unzweifelhaft in der Rollengestaltung.
Der Tanz, die Entwicklung einer Bühnenpersönlichkeit
und die darzustellende dramatische Aktion bilden für sie eine
untrennbare Einheit, die mittels virtuoser Beherrschung der Balletttechnik
(schau-)spielerisch gemeistert werden muss. Viele namhafte Choreografen
haben Ballette für sie, die 1972 mit „Anna Karenina“ (nach
Tolstoi; DVD VAI 4286/neu VAI 4496) selbst zu choreografieren begann,
kreiert. In den 1980er-Jahren folgten „Die Möwe“ (nach
Tschechow; DVD Arthaus Musik 101 477) und „Die Dame und das
Hündchen“ – alle zur Musik von Ehemann Rodion
Shchedrin. Bis heute gibt die Plissezkaja ihre Geheimnisse und
ihre unbändige Liebe zum Tanz in ausgesuchten Meisterklassen
an jüngere Generationen weiter. Niemals ist sie sich selbst – oder
der „Rolle“ ihres Lebens, ihrer Lebensaufgabe „Tanz“ – untreu
geworden. Davon künden auch ihre beiden Biografien. So ist
es Maija gelungen, ihre phänomenale Karriere als eine der
herausragendsten und einzigartigsten russischen Starballerinen
von den Anfängen in den 1940er-Jahren am Bolschoi-Theater über
dem sowjetischen Regime abgetrotzte internationale Erfolge bis
ins hohe Alter fortzuführen. Ihr Erfolgsrezept: Hingabe zur
Kunst, eiserne Disziplin bis in die Fingerspitzen und ein von Temperament
sprühender Charme voller Ernsthaftigkeit.
Vesna Mlakar Autobiografien
- Maija Plissezkaja: Ich, Maija, Lübbe, Bergisch
Gladbach, 1995, ISBN 3-7857-0774-6
sowie: (1. Aufl., vollst., korr. u. um ein Vorwort ergänzte)
Taschenbuchausgabe, 2006, ISBN 3-404-61602-2
- Maija Plissezkaja:
Haltung bewahren. Zornige Aufzeichnungen einer Primaballerina
Asssoluta, Schott, Mainz, 2009, ISBN 978-3-254-08413-2
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