|
Nürnberg als Gesellschaftsmodell
„Die Meistersinger von Nürnberg“ in Leipzig · Von
Frank Kämpfer
Beckmesser wird von den eigenen Leuten verlacht, Stolzing weist
die Meisterwürde zurück, Sachs wird von Notärzten
von der Bühne getragen – das stolze Nürnberg ist
nurmehr Naschwerk. Die Sekttrinkenden auf der Bühne amüsieren
sich. Hinter ihnen senkt sich grabenbreit eine spiegelnde Wand,
und das Publikum, unvermittelt Aug’ in Aug’ mit sich
selbst, ist also gebeten, Stellung zu nehmen: Was bedeuten heute
Kunst und Kultur, welches Bedürfnis danach hat die Gesellschaft?
Die Frage verschränkt das Werk, die Regiekonzeption und den
Anlass für die Premiere der „Meistersinger von Nürnberg“ in
Leipzig am 9. Oktober. Wagner, so die These im Produktionsteam,
habe Nürnberg als Modell angesehen: als eine Gemeinschaft
hierarchielos freier Bürger, gegründet auf aktiven Gebrauch
von Musik, Theater, Literatur. Die 1943 zerbombte Leipziger Oper
hat diese „Meistersinger“-Vision auf sich selbst zu
münzen versucht: bei der Eröffnung des Theater-Neubaus
am 9. Oktober 1960, als Joachim Herz das Stück heiter-historisierend
darbot, und nun, zum halben Jahrhundert-Jubiläum, in der Inszenierung
von Jochen Biganzoli als gespenstische Farce. Letztere zugespitzt
durch den neuesten städtischen Sparplan, der einen lebendigen,
geschweige denn innovativen Opernbetrieb künftig unmöglich
macht.
Präzis in jenem Moment, da das Nürnberg-Ideal in Kitsch
und Erstarrung umschlägt, beginnt Gastregisseur Jochen Biganzoli
sein szenisches Spiel. Ein Chor begrüßt freudig die
Miniatur der Nürnberger Altstadt; im nächs-ten Bild ist
sie bereits in eine Glasvitrine versenkt. Bühnenbildner Helmut
Brade enthält sich aller Illustrativen – sein Bühnenspielraum,
die städtische Öffentlichkeit, ist ein leeres, anfangs
grünes Geviert. Mit dem Einbruch von außen, hier mit
dem nicht nach bisherigen Regeln, zudem mit Herzblut agierenden
Ritter von Stolzing wird die Kehrseite deutlich: Ge- und Verbotstafeln
klappen auf, die freie Stadt wird zum Käfig, lange vor der
Johannesnacht zeigt sich potenzielle Gewalt.
Biganzoli verdeutlicht sie in der panoptikumsreif agierenden Schar
der Meister – allen voran Sixtus Beckmesser, der seine Gefühle
nur schwer bezähmt. Dietrich Henschel als herausragender Sängerdarsteller
des Abends verleiht dieser Figur eine neue Mehrschichtigkeit. Bedeutsam
wird Szenisches, wenn Konkretes abstrakte Dimensionen bekommt.
Die Prügelfuge im zweiten Akt ist ein Beispiel dafür:
Sie beginnt realistisch, dann – derweil das Orchester zu
stampfen beginnt – lässt Biganzoli die Tobenden in militärischer
Formation bedrohlich erstarren: Ein Schlüsselmoment für
den szenisch wie stimmlich ambitionierten Chor der Leipziger Oper.
Düsseldorfs GMD Axel Kober am Pult des Gewandhausorchesters
nimmt Wagner beinah alle Heroik und liest die „Meistersinger“ als
große, zuweilen innige Kammermusik.
Wagners vermeintlich heitere Oper hat eine bewegte Aufführungsgeschichte.
Die Uraufführung 1868 in München glich einem Fest, die
Berliner Premiere zwei Jahre danach verkam zum Skandal. Nach den
von NS-Propaganda geprägten Aufführungen der 1930er-Jahre,
suchten Wieland und Wolfgang Wagner, Harry Kupfer, Peter Konwitschny
und andere Regisseure nach Wegen, um den Widerstreit von Innovation
und Tradition, die Generationenkonflikte, die „deutsche Thematik“ inklusive
Sachs’ Schlusswort und Wahnmonolog vertretbar und erhellend
aufzubereiten. In diesem Fall hier ist die Botschaft des Abends
der Sinnverlust in der Bürgerschaft selbst. Die Verwandlung
im dritten Akt wird zum Zeitraffer durch die eigene Geschichte:
Komparserie paraphrasiert Kaiserreich, SA und FDJ, erreicht die
Konsumwelt von heute. Hans Sachs, auch bei Biganzoli die zentrale
Figur der Oper, erlebt diesen Durchlauf als einen Alptraum. Was
er an Bürger-Idealen selbst exemplarisch verkörpert,
verliert auf dem Weg in die Gegenwart an Entsprechung. Bariton
Wolfgang Brendel, in der Partie sehr erfahren, spielt Sachs als
Pragmatiker und Visionär. Ein alternder Intellektueller, der
schlichtet, aufopfernd ordnet und sein Alleinsein ersäuft.
Einzig ihm, Sachs, gelingt es, im Figurendrama des Stücks,
im Dickicht der Liebe dreier Männer zu Eva Pogner, die entscheidende
Schneise zu schlagen – für Stolzing. Doch der ästhetische
Innovator des Meistergesangs ist seinem sozialen Part nicht gewachsen.
Tenor Stefan Vinke zeichnet den Ritter mit leeren Opernsänger-Klischees.
Ein passendes Sinnbild für Stolzings Profillosigkeit. Ganz
anders, wenn Sachs und Eva Pogner (Meagan Miller) einander begegnen.
Beider inniges Miteinander, das nicht an Geburtsdaten scheitert,
spricht von Sinnerfülltheit und verlangt Perspektive. Biganzolis
Wagner formuliert Utopisches deshalb genau hier. Im Quintett „Wach
ich oder träum ich“, das Sachs, Eva und Stolzing sowie
Magdalene und David – also Rivalen, verschiedene Stände – für
Minuten miteinander vereint, artikuliert sich, was das Normalste
und zugleich das Gefährdetste ist: ein Moment unverstellter
menschlicher Nähe, die jenseits von allen Gesetzen und Normen
auf Lebendiges, Lebenswertes verweist.
Frank Kämpfer
|