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Nürnberg als Gesellschaftsmodell

„Die Meistersinger von Nürnberg“ in Leipzig · Von Frank Kämpfer

Beckmesser wird von den eigenen Leuten verlacht, Stolzing weist die Meisterwürde zurück, Sachs wird von Notärzten von der Bühne getragen – das stolze Nürnberg ist nurmehr Naschwerk. Die Sekttrinkenden auf der Bühne amüsieren sich. Hinter ihnen senkt sich grabenbreit eine spiegelnde Wand, und das Publikum, unvermittelt Aug’ in Aug’ mit sich selbst, ist also gebeten, Stellung zu nehmen: Was bedeuten heute Kunst und Kultur, welches Bedürfnis danach hat die Gesellschaft?

 
Meagan Miller, als Eva und Stefan Vinke als Stolzing. Foto: Andreas Birkigt
 

Meagan Miller, als Eva und Stefan Vinke als Stolzing. Foto: Andreas Birkigt

 

Die Frage verschränkt das Werk, die Regiekonzeption und den Anlass für die Premiere der „Meistersinger von Nürnberg“ in Leipzig am 9. Oktober. Wagner, so die These im Produktionsteam, habe Nürnberg als Modell angesehen: als eine Gemeinschaft hierarchielos freier Bürger, gegründet auf aktiven Gebrauch von Musik, Theater, Literatur. Die 1943 zerbombte Leipziger Oper hat diese „Meistersinger“-Vision auf sich selbst zu münzen versucht: bei der Eröffnung des Theater-Neubaus am 9. Oktober 1960, als Joachim Herz das Stück heiter-historisierend darbot, und nun, zum halben Jahrhundert-Jubiläum, in der Inszenierung von Jochen Biganzoli als gespenstische Farce. Letztere zugespitzt durch den neuesten städtischen Sparplan, der einen lebendigen, geschweige denn innovativen Opernbetrieb künftig unmöglich macht.

Präzis in jenem Moment, da das Nürnberg-Ideal in Kitsch und Erstarrung umschlägt, beginnt Gastregisseur Jochen Biganzoli sein szenisches Spiel. Ein Chor begrüßt freudig die Miniatur der Nürnberger Altstadt; im nächs-ten Bild ist sie bereits in eine Glasvitrine versenkt. Bühnenbildner Helmut Brade enthält sich aller Illustrativen – sein Bühnenspielraum, die städtische Öffentlichkeit, ist ein leeres, anfangs grünes Geviert. Mit dem Einbruch von außen, hier mit dem nicht nach bisherigen Regeln, zudem mit Herzblut agierenden Ritter von Stolzing wird die Kehrseite deutlich: Ge- und Verbotstafeln klappen auf, die freie Stadt wird zum Käfig, lange vor der Johannesnacht zeigt sich potenzielle Gewalt.

Biganzoli verdeutlicht sie in der panoptikumsreif agierenden Schar der Meister – allen voran Sixtus Beckmesser, der seine Gefühle nur schwer bezähmt. Dietrich Henschel als herausragender Sängerdarsteller des Abends verleiht dieser Figur eine neue Mehrschichtigkeit. Bedeutsam wird Szenisches, wenn Konkretes abstrakte Dimensionen bekommt. Die Prügelfuge im zweiten Akt ist ein Beispiel dafür: Sie beginnt realistisch, dann – derweil das Orchester zu stampfen beginnt – lässt Biganzoli die Tobenden in militärischer Formation bedrohlich erstarren: Ein Schlüsselmoment für den szenisch wie stimmlich ambitionierten Chor der Leipziger Oper. Düsseldorfs GMD Axel Kober am Pult des Gewandhausorchesters nimmt Wagner beinah alle Heroik und liest die „Meistersinger“ als große, zuweilen innige Kammermusik.

Wagners vermeintlich heitere Oper hat eine bewegte Aufführungsgeschichte. Die Uraufführung 1868 in München glich einem Fest, die Berliner Premiere zwei Jahre danach verkam zum Skandal. Nach den von NS-Propaganda geprägten Aufführungen der 1930er-Jahre, suchten Wieland und Wolfgang Wagner, Harry Kupfer, Peter Konwitschny und andere Regisseure nach Wegen, um den Widerstreit von Innovation und Tradition, die Generationenkonflikte, die „deutsche Thematik“ inklusive Sachs’ Schlusswort und Wahnmonolog vertretbar und erhellend aufzubereiten. In diesem Fall hier ist die Botschaft des Abends der Sinnverlust in der Bürgerschaft selbst. Die Verwandlung im dritten Akt wird zum Zeitraffer durch die eigene Geschichte: Komparserie paraphrasiert Kaiserreich, SA und FDJ, erreicht die Konsumwelt von heute. Hans Sachs, auch bei Biganzoli die zentrale Figur der Oper, erlebt diesen Durchlauf als einen Alptraum. Was er an Bürger-Idealen selbst exemplarisch verkörpert, verliert auf dem Weg in die Gegenwart an Entsprechung. Bariton Wolfgang Brendel, in der Partie sehr erfahren, spielt Sachs als Pragmatiker und Visionär. Ein alternder Intellektueller, der schlichtet, aufopfernd ordnet und sein Alleinsein ersäuft. Einzig ihm, Sachs, gelingt es, im Figurendrama des Stücks, im Dickicht der Liebe dreier Männer zu Eva Pogner, die entscheidende Schneise zu schlagen – für Stolzing. Doch der ästhetische Innovator des Meistergesangs ist seinem sozialen Part nicht gewachsen.

Tenor Stefan Vinke zeichnet den Ritter mit leeren Opernsänger-Klischees. Ein passendes Sinnbild für Stolzings Profillosigkeit. Ganz anders, wenn Sachs und Eva Pogner (Meagan Miller) einander begegnen. Beider inniges Miteinander, das nicht an Geburtsdaten scheitert, spricht von Sinnerfülltheit und verlangt Perspektive. Biganzolis Wagner formuliert Utopisches deshalb genau hier. Im Quintett „Wach ich oder träum ich“, das Sachs, Eva und Stolzing sowie Magdalene und David – also Rivalen, verschiedene Stände – für Minuten miteinander vereint, artikuliert sich, was das Normalste und zugleich das Gefährdetste ist: ein Moment unverstellter menschlicher Nähe, die jenseits von allen Gesetzen und Normen auf Lebendiges, Lebenswertes verweist.

Frank Kämpfer


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