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In den Kulissen lauert das Leben
Ein Opernprojekt an der Staatsoper Unter den Linden · Von
Carolin Pirich Marzahn und die Staatsoper Unter den Linden trennen sechzehn Kilometer,
fünfundfünfzig U-Bahn-Minuten und an diesem bleigrauen
Nachmittag vierhundert Jahre. Die Distanz ist so groß wie
die zwischen Macbeth und dem vierzehnjährigen Till. Auf seiner
Oberlippe wächst ein Bartflaum, den Kragen seines Anoraks
hat er nach oben geschlagen, die Hände in die Taschen seiner
weiten Hose geschoben. Es zieht an der Bus-haltestelle vor seiner
Schule. Sie steht zwischen fünfstöckigen weißen
Plattenbauten, vor die man blaue Stangen gesetzt hat, damit jede
Wohnung einen Balkon bekommt. Zwei Hochhäuser sehen aus, als
wurden sie vergessen. Die Fenster sind eingeschlagen, die Fassaden
braun geblieben; marode Zähne in einem sanierten Gebiss.
„Für Engländer ist Macbeth ein Fluch“, sagt Till, „der
Name bringt Unglück.“ Und worum geht es? „Mord und Totschlag
und Hexen und so.“ Ein schottischer Heerführer ermordet, angestachelt
vom Ehrgeiz seiner Frau, den König, wonach er mit Gespenstern spricht und
von seinem Freund getötet wird. Nicola, der Fußball mag und Computerspiele,
hat schon einen Film gesehen. Der versetzt die Handlung ins Mittelalter, es gibt
Kämpfe und Blut. „Das finde ich schön“, sagt Nicola und
grinst, weil er weiß, dass seine Lehrerin das nicht hören will. In
fünf Stunden wird er anders denken.
Eine andere Welt
Till und Nicola gehen in die neunte Klasse der Caspar-David-Friedrich-Realschule
im Plattenbauviertel Marzahn-Hellersdorf. Am Nachmittag wird die Klasse
die Staats-
oper besuchen, sich in Shakespeares Figuren einfühlen und verstehen, was
die Geschichte von damals mit dem Leben von heute zu tun hat. Das ist die Idee.
Die meisten Schüler besuchen zum ersten Mal die Oper. Ein Ausflug in eine
andere Welt. So klingt es jedenfalls, wenn man fragt, was sie vom Nachmittag
erwarten. „Spannend“ soll es werden, „nicht anstrengend“ und „Hauptsache,
kein Unterricht“. In eineinhalb Jahren werden sie ihren Abschluss machen, „wenn
dit jutjeht“, und Köchin werden, Sekretärin, Pferdewirtin
und Polizistin. Die Jungs wollen zur Bundeswehr und danach als Elektroinstallateur
oder Kfz-Mechaniker arbeiten. Sie haben eine konkrete Vorstellung davon,
wie
ihr Leben einmal sein wird.
Vor dem Fenster der Bahn verändert sich die große Stadt: Hochhausketten,
Gestrüpp, ein Kirchturm, wieder Plattenbauten, das Rote Rathaus, der Fernsehturm.
Keiner schaut hinaus. Die Jungs stehen an der Tür, die Mädchen verteilen
sich paarweise im Wagen, junge Frauen mit getuschten Wimpern und Glitzerlidschatten
unter angeschrägten Ponys. Sie fotografieren einander mit ihren
Handys.
Skepsis vor dem Neuen
Annette Pfohl, die Lehrerin, trägt die Haare blond und kurz, alles andere,
das sie anhat, ist schwarz. Anfangs war sie skeptisch, ob der jahrhundertealte
Stoff ihre Schüler interessieren könnte. Dann ließ sie sich überzeugen
von den Theaterpädagogen. Es gehe um Gier, um Macht, um Werben und Umwerben. „Das
sind Ansatzpunkte, die junge Menschen ansprechen können“, sagt sie.
Manche hat es offenbar nicht angesprochen. Fünfundzwanzig sollten mitfahren,
sechzehn sind gekommen. Noch am Vormittag haben Schüler Entschuldigungen
mitgebracht. Eine Mutter schrieb, ihr Kind müsse lernen; es habe keine
Zeit für Oper.
Vor dem Intendanz-Gebäude wartet der Musiktheaterpädagoge, ein schmaler
Mann mit kurz rasiertem Haar und einer Hornbrille, wie sie die Kreativen in
Großstadtcafés tragen. Er stellt sich als Rainer O. Brinkmann
vor; die Schüler dürfen ihn Rob nennen. Manche machen Fotos, manche
knuffen sich. Rob bittet sie, leise zu sein, als sie zwischen Kabeln und Gittern
unter der Bühne hindurch ins Opernhaus gehen und kurz in die Zuckertortenausstattung
des Zuschauerraums dürfen. Ihre Blicke tasten Gips, Gold und künstliche
Kerzen an den Rängen ab. Rob erklärt, dass man die Bühne mehrmals
am Tag umbaue, die Bühnenbauer in Schichten zum Dienst kämen, um
sechs Uhr die erste, und der netzartige Vorhang zu „La Traviata“ gehöre.
Es bleibt still. Dann fällt Till doch eine Frage ein, man weiß nur
nicht, ob die Antwort ihn auch interessiert. „Wie putzt man den Lüster?“ Rob
lächelt kurz. „Ach ja, unser fliegendes Personal.“ Nein, nein,
der Lüster werde heruntergelassen wie früher, als man vor Vorstellungsbeginn
die Kerzen einzeln löschte. Publikumsorientierung
In der „Konditorei“, wo das Opernpublikum zwischen Spiegeln und
Goldtapete am Abend in der Pause Sekt trinkt und Lachshäppchen isst, sind
Stühle im Halbkreis aufgereiht. Die Schüler sollen sich den Raum
in eine Bühne umdenken. Auf dem Steinboden zwischen den Pfeilern entsteht
ein Orchestergraben, der die Bühne vom Zuschauerraum trennt und die Würde
der Rolle vom „Privatsein“, wie Rainer Brinkmann es ausdrückt.
Er lehnt an einem Pfeiler und gibt Anweisungen. „Fall nicht in den Orchestergraben!“,
ruft er, wenn ein Schüler zu dicht an die imaginäre Grenze zum Zuschauerraum
herankommt. Und: „Erst lachen, wenn du abtrittst. Lachen heißt,
privat zu sein, das will der Zuschauer nicht sehen.“ Er wird
es oft sagen, manchmal sehr laut, aber immer geduldig, immer ernst.
Bevor sie entscheiden, ob sie Lord oder Lady Macbeth, Macduff
oder Duncan, Hexen, Diener oder Wachen sein wollen, setzen je
vier Schüler Masken auf,
weiße, strenge Gesichter. Die anderen spielen Publikum. „Auftritt
Edelfrauen!“, kommandiert Rob. „Spot an!“ Die vier frieren
die Bewegung ein wie früher beim Kindergeburtstag, wenn beim Tanzen plötzlich
die Musik ausging. Da ist ein Knicks zu erkennen, dort ein abgespreizter kleiner
Finger, und einer hat sich getraut, mit einem Schwung die Hüfte zur Seite
zu kippen. Dem Nächsten will nichts einfallen, er zappelt. „Ich
kann das nicht“, stöhnt es. Rob ruft: „Haltung! Und danke.“ Das
Publikum darf klatschen, die Maskenträger schleppen sich zu ihren Stühlen.
Es folgen Ritter, Diener, Mörder. Applaus. Dazwischen Fotos,
Kichern, Maulen. Aber niemand weigert sich mitzumachen.
Das gebe es manchmal auch und breite sich wie ein Feuer unter
den Schülern
aus, erzählt Rainer Brinkmann während einer kurzen Pause in der Kantine,
die in der Staatsoper Casino heißt. Balletttänzer schweben vorbei, ätherische
Wesen, die sich von Kaffee ernähren. Die Mädchen sitzen an einem
Ende des Raumes, die Jungs am anderen. Brinkmann klingt wie ein Psychologe,
wenn er erzählt, wie er zurzeit täglich Teenager-Horden für
Oper zu begeistern versucht. Aber vielleicht muss jeder, der am Theater arbeitet,
ein bisschen Psychologe sein. Oberstufenschüler gingen die Rollen analytisch
an. Sie wüssten, was die Lehrer von ihnen hören wollen. Andere finge
man über die Emotion. „Alle haben Angst, von sich etwas zu veröffentlichen“,
sagt Brinkmann schließlich. „Sie müssen sich eben überwinden.“ Das
gehe am besten, wenn die Schüler keine Zeit haben, ihre Außenwirkung
zu testen.
Rollenspiele
Nach der Pause verwandeln sie den Spiegelsaal in
ein Brueghel‘sches Wimmelgemälde,
es fehlt allein das Dorfidyll. Jeder hat sich ein Kostüm ausgesucht,
Seidenkleid mit Schleife, Rotkäppchen-Cape, Schlapphut, Uniformmütze,
Kopftuch. Sie schlurfen, stolzieren, humpeln durch den Raum. Spiegel
und Fotohandys bleiben
unbeachtet. Rob teilt weiße Karten aus. „Du bist 35
Jahre alt“,
steht auf einer. „Wenn du aus der Schlacht zurückkehrst,
erwartet dich in deinem Schloss deine Gattin. Du liebst sie, weil
sie so ehrgeizig und
zielstrebig ist.“ Das ist Macbeth. Ihn gibt es vier Mal,
dazu zwei Lady Macbeths, mehrere Banquos, Wachen und drei Hexen.
Jede Figur hat einen Satz,
der unten auf der Karte steht, und die Schüler nuscheln diese
Sätze
jetzt vor sich hin, gleichzeitig.
„Was geschehen ist, ist geschehen.“ – „Nun kocht
und schmort und brodelt es im Hexenkessel.“ – „Nun
liegt er in seinem Blute.“
Es folgt das, was der Musiktheaterpädagoge „szenische
Interpretation“ nennt:
spontanes Theater im Zeitraffer. Rob positioniert sich im imaginären
Orchestergraben und treibt die Handlung voran, den Text müssen
die Schüler selbst
erfinden. Wenn Lady Macbeth den Festgästen erklärt, weshalb
ihr Mann mit Geistern spricht, hört sich das dann so an: „Sie
wissen ja, die Tabletten mit den Nebenwirkungen.“ Und zu
sich: „Scheiße,
warum haben wir ihn umgebracht!“ Aus dem CD-Spieler schallen
finstere Töne von Verdis Oper Macbeth und kündigen den
Tod an. Nicola trägt
als Macduff Jeans und Turnschuhe zu einem Jackett mit überdimensional
breiten Schultern. Bedrohliche Kontrabässe. Er zückt
die Eisenstange und rammt sie Macbeth unter die Achsel. Vorbildlich
sackt Jule in die Knie
und kippt zur Seite. Ein bisschen Geisterbahn. Dann lässt
Nicola den Arm sinken.
„Der bringt tatsächlich seinen besten Freund um!“, sagt er plötzlich.
Es ist ein Donnerstagabend im Dezember, und die Schüler einer Realschule
haben erlebt, wovon Theater lebt. Die Figur, die in gelben Reclamheften antiquierte
Sätze deklamiert, hat sich in jemanden verwandelt, über den sich
nachdenken lässt. Für einen Moment zumindest. Vielleicht lässt
sich das wiederholen, wenn die Klasse im März einen eigenen Macbeth aufführt
mit eigener Musik. Das ist der Plan.
Nachdruck aus: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18. Dezember
2008
Carolin Pirich
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