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Kulturpolitik

Theaterchor und zeitgenössische Oper

Gedanken des Komponisten hespos · Im Gespräch mit Christian Tepe

Von einer bloßen Staffage, die dem Schicksal des individuellen Helden als aparter Farbreiz beigesellt war, hat sich der Chor seit Gluck zu einem dramaturgischen Grundpfeiler der Oper entwickelt. In zahlreichen Stücken des 19. und 20. Jahrhunderts erscheint das Sängerkollektiv nicht nur als repräsentativer Ausdruck der Gesellschaft, sondern es verleiht den einzelnen Kompositionen zuallererst ihr unverwechselbares vokaldramatisches Gepräge. Vollends im zeitgenössischen experimentellen Musiktheater avancieren die Chorsänger und Chordirektoren zu Spezialisten für klangliche und ästhetische Grenzüberschreitungen in das Terrain des Ungewohnten und Unerhörten. Um so erstaunlicher bleibt, wie zurückhaltend dieses Potenzial in der jüngsten Gegenwartsproduktion oft nur genutzt wird, sei es dass man in neuen Opern-Auftragskompositionen gleich ganz auf den Chor verzichtet, sei es dass der Chorpart wie zuletzt in Ludger Vollmers „Gegen die Wand“ wieder auf eine simple Hörkulisse reduziert wird.

„Oper&Tanz“ fragt heute und in den nächsten Ausgaben nach der Zukunft des Opernchores. Wie verändern sich Studium und Berufspraxis der Sänger, wenn die Anforderungen an die Stimme zu immer neuen Extremen vordringen? Findet der künstlerische Fortschritt im Musiktheater künftig womöglich ohne den Opernchor statt? Ist Innovation immer gleichbedeutend mit einer permanenten Neuerfindung der Gattung? – Den Diskurs eröffnet ein mit der Wortsprache findig musizierender Beitrag des Komponisten Hans-Joachim Hespos, der seinen Beitrag als – auch grafisch – nicht veränderbares Kunstwerk zur Verfügung gestellt hat, und dessen 2005 in Hannover einstudierte Oper „iOPAL“ (siehe „Oper&Tanz“ 3/2005) einem Kunstskandal nahe kam, dann aber von der Zeitschrift Opernwelt zur Uraufführung des Jahres auserkoren wurde.

h e s p o s
DAS GESAMTWERK
D27777 ganderkesee , riedenweg 16 , fon +49-(0)4222-6171 , fax +49-(0)4222-5778 , hespos@web.de, www.hespos.info


1. Wie schätzen Sie die in der Theaterwelt verbreitete Meinung ein, Chorsänger und Chordirektoren hätten gar kein Interesse an Neuer Musik?

aktuelle operntheaterwelt ist wieder ab ins vor/gestern gelangt: klamotte statt spitz-witz, historie statt erhellung, privates regie-getrottel statt esprit und hellhörigkeit. und die jungen komponisten machen aus dummheit und unvermögen diesen schwachsinn mit. keine phantasie, nichts wird gewagt!
so verkommt das, was sich einst das NEUE nannte zur gähnung, – und die leute bleiben weg!

 
Der Komponist hespos (Foto: Kieselbach)
 

Der Komponist hespos (Foto: Kieselbach)

 

nicht weit verbreitete meinungen, umfragen, abo-zahlen interessieren; auch geht es nicht um gmbh und geschäft, sondern um kunst. und die will man, oder man läßt das ganze wirklich sein.
WIR, und somit du und ich bestimmen uns in unserer freiheit und verantwortung selbst.
so liegt es selbstverständlich an den chorsängern, an den chordirigenten an-deres zu wollen, an-deres zu machen, so wie es an uns allen liegt, an-deres zu tun und unserer neugierigen natur voranzueifern oder eben zu verweilen, zu faulen. es ist das faustische problem, das uns in die aktuellen reperessalien von unlust, abmahnung, mobbing, aussteigen, elend und krankheit kippt.

nein –, nein! das interesse ist voll hier und da: publikum, youngster und akteure lassen sich aufschließen und begeistern.

2. Welche Erfahrungen haben Sie bei der Einstudierung Ihrer Oper „iOPAL“ mit den Chorsängern gemacht, als es darum ging, neue Ausdrucksmöglichkeiten jenseits der gesangstechnischen Schultradition zu entwickeln?

vorab vielerlei treffen, ausführliches partiturlesen und genaueste detailbesprechungen mit dem international hocherfahrenen chordirektor des niedersächsischen staatstheaters hannover, herrn johannes mikkelsen.

dann die erste probenbegegnung mit den 40 damen und herren des opernchores!
freimütig-offenes gespräch, in dem vor allem affronts, un-zumut-barkeiten, vor-urteile, miß- verständnisse, un-behagen, ängste überwunden, hilfen und mitwirkungen praktiziert und so schwierigkeiten zu möglichkeiten umgestaltet werden. erste kleine erstaunliche arbeitsergebnisse machen mut und schaffen klarheit. man kommt langsam aber voran.
und seltener glücksfall: in beneidenswerter weitsicht hat der sprachennarr johannes mikkelsen sich im laufe der zeit einen vielzüngigen chor gebildet; denn jeder der damen und herren entstammt einer anderen nation, kommt aus einem anderen außer/europäischen sprachraum und beherrscht zum teil noch feine dialekte, so daß innere instrumentierungen, individuelle verteilungen nach lage, farbe, können, eigenart der hoch differenzierten offenen partitur zugute kommen: CÒROGRAMMI 1998-2000 für chöre – un/gemischte – überwiegend a cappella – gesamtdauer 43 minuten, bestehend aus 10 episoden und bestandteil von iOPAL , große oper.

wenige wochen später die zweite und letzte chorprobe im beisein des komponisten.
mit großem stolz werden knifflige akkordische unisoni präsentiert, auch nochmals perfekt wiederholt, kommentarlos – ob er´s wohl merkt?! auch alle anderen episoden geraten aufregend gut. nur noch ein kleines hier und dort, dann eine erfahrung, eine nachfrage, vorschläge ... locker und gelöst und mit etlichem gelächter löst sich die probe auf in privaten gesprächen mit-ein-Ander.
und da gibt es überraschende äußerungen: .. wie schön, endlich einmal etwas anderes .. man hat die möglichkeit, selber etwas zu gestalten .. wir können eigenes einbringen, können experimentieren, neues finden .. es erweitert unseren stimmlichen kanon um so vieles, das wir bislang vermieden haben .. man kommt auf ganz andere ideen .. so etwas macht freude und beschäftigt einen .. wie schön, daß wir das erleben dürfen .. das macht ja richtig spaß ..

toll und einfach großartig, wie ein auf den ersten blick abweisend schwieriges werk sich meistern läßt von menschen, die aufgeschlossen nicht nur wollen, sondern in bereitwilligkeit auch außerordentlich können. es sind offenbar immer die nichtskönner im leben, die schwierigkeiten machen.


3. Sind die Chorsänger Ihrer Meinung nach durch das Gesangsstudium/Hochschulstudium ausreichend auf die Aufgabe, Neue Musik zu interpretieren, vorbereitet?

chor: das denkt, suppt und sumpft zumeist noch immer im vierstimmigen satz, oder heult sich was esoterisches.
wo sind heute die lehrer an unseren schulen, hochschulen, universitäten, die mit der kraftvollen potenz ihrer fachlichkeit und universalität die vision gegenwart aufscheuchen, den nachfolgend jungen neue mission und förderung angedeihen lassen? wie selten, daß ein avancierter hochschulchor, der circus musicus aus stuttgart, auf initiative von studenten einen heiklen kompositionsauftrag vergibt, um dann SCHRY , das etwa viertelstündige werk für gemischten chor a cappella voller ungehöriger albernheiten, komplexester unmöglich-keiten und der ganzen skala stimmlicher ausdrucksarten im jahre 2000 bei einem festkonzert der hugo-wolf-gesellschaft in der liederhalle unter professoraler zauberhand bravourös uraufzuführen !
immer in verbindung mit dem leben - . das ist unterricht!

und wie reich sind wir beschenkt mit hochmusikalischen menschen-stimmen aus aller herren länder mitten unter uns, mit denen wir arbeiten, von denen wir lernen können.
die studien sollten die tore ihrer engen dressurkäfige nach innen und außen weit öffnen.
zumal die zeiten, in denen -wie im falle la fenice- opernchorsänger sich aus den gondolieri der stadt rekrutierten, vorüber sind.

4. Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen der Nicht-Berücksichtigung von Chören bei Auftragsopern und zu geringen Etats?

geld ist immer die ausrede für mangelnden mut und fehlende phantasie!
Sie haben recht, in jüngeren opern ist chor nur selten besetzt. junge komponisten scheuen ja selbst das volle orchester ! , aus angst vor schwierigkeiten, bequemlichkeit und unkenntnis der sache.

5. Vielleicht gibt es noch ganz andere Fragen, die Sie zum Thema „Theaterchor und zeitgenössische Oper“ aufwerfen möchten?

es gibt aufregende chor-momente zum beispiel bei nono und in der oper WÄNDE von adriana hölzsky, bei hespos die frechen komplexien GELEUT , uraufgeführt beim kirchentag 1995 in hamburg, das unerschrockene, noch nicht aufgeführte coriAnder, liederliches für frauenchor von 2006, (swingAtem – zerrastert – gestarrtes nichts – sirreal – passagen-brüche – echoi – verklappt zu stille), ca.24 minuten, und in meiner kaleidoskopen doppeloper S P I L von 2005 sind neben sopran, baßbariton und zwei orchestern ein knabenchor, ein frauenchor und ein großer extrachor besetzt.

Oper ? - man wohlfühlt und guckt nur noch. verstanden will es schon längst nicht mehr werden.
und hinhören, hinein-hören, zu-hören, lauschen, er-lauschen,
über die ohren sich völlig öffnen, um an/aufgeregt wahr-zu-nehmen ??

gerade mit chor ließen sich neuartige galakonzerte veranstalten, unerhörte a cappella ereignisse, vielleicht mit nur noch wenigen gesten aus licht und dingen, um vor allem am musikdramatischen spiegel/brennpunkt menschenchor die focussierte vielfalt des geklatters unseres lebens-dramas aufzufächern, musikalisch aufzuschlüsseln,
außergewöhnliche teilszenische konzerte also in großen programmatischen spannweiten mit allen vergangenheiten und orten und stets gemessen an neuem und allerneuestem, verwirrende facetten in gediegenen, phantasievollen arrangements – vom gerausch menschlichen atems bis zu krachschwarzem gebrüll des tieres, das wir alle sind, zauber von fein gläsernem geschweb bis zu atemberaubender vielzüngigkeit hochdramatischen palavers – , alles ohne erklärende schlaumeiereien, sondern einfach und geschickt zusammen-gebrachtes,
vielfältig kurz/lang-kom-poniertes SO IST, einzig festgemacht an bedeutsamer transparenz menschlichen stimmen-chores, seiner musiken, seiner faszination und schönheit, in brutalem aufgeschrei, und der gänze seiner sinnlichen brillianz und filigranen struktur ..,
auf daß wahr-nehmung ins staunen gerät, auf daß wahr-nehmung neuAndere er-fahrungen macht.

oh wäre das spannend ! - man müsste mit viel kenntnis, einfühlungsvermögen, phantastischer begeisterung und erwartungsvoller geduld so etwas starten, mit leichtem mut anfangen irgendwo, ein korn säen, auf daß großes daraus werden kann.

den choristen, den chorleitern, uns allen ist aufgegeben, immer und immer wieder an-deres, lebendiges einzufordern, neues zuzumuten, es schließlich selber tun, um zukunft zu ermöglichen.

nicht resignieren und in die luft sprengen, sondern selbst alles fixiert bestehende mit schöpferischer gelassenheit immer wieder umwandeln ins lebendige.

Christian Tepe

 

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