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Wo man singt, da gibt es Neues
Erste Dresdner Chorwerkstatt für Neue Musik · Von Michael
Ernst Wenn es um neue Wege geht, insbesondere um neue Wege zu Neuer
Musik, sind Gemeinsinn und offene Formen übergreifender Zusammenarbeit
gefragt. Wer fünf Tage lang die Pfade hin zu Novitäten
hiesigen Chorgesangs beschreiten will, ist folglich gut beraten,
sich mit kompetenten Partnern zu versehen. Rasch wird dann festzustellen
sein, dass weder Rom noch sonst etwas an einem Tage erschaffen
wurde, mancher Kontinent aber durchaus ein zweites und drittes
Mal als neu entdeckt gepriesen worden ist.
In der vor allem traditionsbezogenen Stadt Dresden fanden sich
Anfang des Jahres gewohnt stimmhaltig sowie leicht waghalsig Damen
und Herren des Dresdner Kammerchores zu einer Kooperation mit der
Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden und dem
Europäischen Zentrum der Künste Hellerau zusammen, um
den Ausblick theoretisch und praktisch in Richtung zeitgenössischen
Chorgesangs zu richten. Die Resonanz war, wie wohl kaum anders
zu erwarten, eine gemäßigt begrenzte, doch der Ansatz
trug und hat die gebündelten Anstrengungen durchaus gerechtfertigt.
Nun gut, mag man meinen, Veranstaltungen wie die Kürtener
Stockhausen-Kurse etwa sind im Grunde nichts anderes – höchst
ambitioniert, doch letztlich ohne Breitenwirkung. Das stimmt aber
nur, wenn der Langzeiteffekt außer Acht gelassen und die
Streuwirkung solch engagierter Aktionen nicht nachverfolgt wird.
Zudem liegt Kürten, was derartige Kurse betrifft, auf einer
vom nahen WDR aus Köln beschatteten Insel der glückseligen
Komponisten. Besinnung auf die Wurzeln
Dresden ist anders, sonnt sich lieber barock und pflegt modernes
Singen heldenhaft bis hin zu Richard Strauss. Exzeptionelle Tage
der zeitgenössischen Musik erfüllen eher die Funktion,
auf Fehlendes hinzuweisen. Der Ansatz dieser Chorwerkstatt nun
ließ aufhorchen und gar auf künftige Wege, neue Denkansätze,
unbekannte Gedanken hoffen. Beschworen wurde jedoch auch hier erst
einmal wieder das Vergangene, was in diesem Kontext jedoch nicht überrascht,
da heutige Chormusik und deren Pflege nun mal zuvörderst aus
dem 19. Jahrhundert resultieren. Die damaligen Singebewegungen
schufen tragfeste Grundlagen für gegenwärtigen Gruppengesang,
erlebten in ihrer Geschichte Missbrauch und Lebensrettung auch
unabhängig davon, ob Kammerkonzert oder Massenchöre erklangen.
Selbst die Fischer-Chöre kamen – in einer Chorwerkstatt
für Neue Musik eher untypisch – zu ihrem Recht und wurden
gar nicht einmal arg desavouiert, sondern erhielten etwas gönnerhaft – denn
sympathisch sind sie ja doch?! – Daseinsberechtigung erteilt.
Wo man singt, da lass‘ dich ruhig nieder? Neue Chormusik in der Praxis
Nein, ganz so einfach haben es sich die klug arrangierenden Veranstalter
denn doch nicht gemacht, sondern geradewegs auf das Entstehen und
Erklingen von Neuem gezielt. Fünf Tage lang galt das Augenmerk
dem Gruppengesang im Heute, wurde theoretisch und praktisch über
die aktuell gegebenen Möglichkeiten des Genres und der unterschiedlichsten
Ensembles doziert und probiert. Das Ergebnis – nach Symposien
zu „Chormusik im 20. und 21. Jahrhundert“, zu „Musikalischer
Intention und Klangsuche“ sowie zu „Transkription und
Interpretation“, nach Komponistenporträts und öffentlichen
Proben – gipfelte in einem Abschlusskonzert mit gleich vier
Uraufführungen nebst Werken von Berio und Brahms, Gottwald,
Lachenmann und Schwitters. Einmal mehr durfte sich da der erst
kürzlich eröffnete Neue Konzertsaal der Hochschule als
architektonisch und akustisch gediegen erweisen. Ein klingender
Lichtblick! Gute Ergebnisse in kleinem Kreis
Solcherlei Novitäten haben es, siehe oben, im der Traditionskultur
verbundenen Dresden selbstredend nicht leicht. So fand diese Chorwerkstatt
denn auch nahezu ausschließlich im Kreis der Initiatoren
und Mitwirkenden statt. Der Mangel an öffentlichem Interesse
schmälerte weder den sinnvollen Ansatz noch die kurzweilige
Umsetzung. Insbesondere Jörn Peter Hiekel (Leiter des Instituts
für Neue Musik an der Dresdner Musikhochschule) sowie Hans-Christoph
Rademann (Chefdirigent des RIAS-Kammerchors und Leiter des Dresdner
Kammerchors) machten sich um Fortbestand und Identitätsfindung
der Gattung verdient. Mit dem Komponisten Helmut Lachenmann („Das
Mädchen mit den Schwefelhölzern“) hatten sie sich
zudem einen erprobten Praktiker ins Boot geholt, der aus eigenen
Erfahrungsschätzen anregend zu plaudern verstand. Ausgerechnet
er war es denn auch, der aufgrund eines glücklich überstandenen
Doppelinterviews mit Gotthilf Fischer dessen Unterhaltungserfolge
in die Debatte warf.
Erklärtes Ziel der Werkstatt war freilich die klingende Musik.
Im Programm des Abschlusskonzerts wurde der Arbeitstitel „Chormusik
im 20. und 21. Jahrhundert“ nachdrücklich gespiegelt.
Neben den genannten (Alt-)Meistern waren es (Jung-)Komponisten
wie Reiko Füting (geboren 1970), Karsten Gundermann (geboren
1966), Florian Heigenhauser (geboren 1963) und Alexander Keuk (geboren
1971), die sich jeweils mit einem Chorwerk von Johannes Brahms
beschäftigten, das wundersame Vineta-Thema in je eigener Ausprägung
deuteten und den Werkstattteilnehmern im gemeinsamen Probenprozess
tieferen Einblick ins Schaffen ermöglichten. Allein dies – und
die rar gewordene Chance gründlichen Annäherns an Neue
Musik – ließ bereits vor dem Ende der Ersten Dresdner
Chorwerkstatt auf Fortsetzungen hoffen.
Michael Ernst
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