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Musik als energetisches Quantum
Hindemiths „Cardillac“ in Braunschweig · Von
Christian Tepe
Nichts vermag die Empfänglichkeit des Publikums für
den Reiz und die Magie großer Kunst so sehr zu hemmen wie
Schlagwörter. Durch sie wird die Fülle der an einem Meisterwerk
aufgewandten künstlerischen Mittel und deren inhaltliche Vieldeutigkeit
auf die Simplizität einer griffigen Formel heruntergedrückt.
Nur wenige Werke jedoch dürften von diesem Rezeptionsmechanismus
so hart und so andauernd betroffen sein wie die Urfassung von Hindemiths „Cardillac“.
Auf diesem Werk lastet von jeher das vereinfachende Schlagwort
von der Musizieroper oder – vornehmer ausgedrückt – von
der Autonomie der Musik gegenüber Wort und Szene: Gänzlich
unbeeindruckt vom Bühnengeschehen, so will es das Vorurteil,
schnurre im Orchester der Automatismus einer freilich virtuos beherrschten
Fugentechnik ab, die sich jeglichen psychologisierenden Kommentar
zur Handlung oder gar deren Illustration versagt. Solche Zuschreibungen
erwecken bei vielen Zuhörern die Schreckvorstellung von einer
trocken-spröden Kunstübung, der gerade das abgeht, was
die meisten Menschen am Musiktheater berührt und bewegt: zuspitzende
Dramatik, seelische Vertiefung und überhöhende Emotionalität.
Es ist nun das besondere Verdienst der Braunschweiger Neueinstudierung,
die immense Bühnenwirksamkeit, ja Theatervitalität des „Cardillac“ freizusetzen – doch
geschieht dies, indem man gerade den konstruktivistischen Charakter
des Stücks hervorhebt. Dirigent Sebastian Beckedorf und das
Staatsorchester Braunschweig musizieren die hitzig drängende
Motorik, den kraftvollen rhythmischen Furor und den ganzen hypertrophen
Formenbau der polyphon verästelten Partitur mit Drive, Vehemenz
und bewundernswerter Präzision in den instrumentalen Details.
Dabei werden die stilistischen Eigenheiten der Musik als Ausdruck
eines veränderten Aggregatszustandes in der Darstellung menschlicher
Gefühle fassbar. Letztere sind im „Cardillac“ nicht
mehr die Keimzellen einer individualistischen Gemütskultur
der Innerlichkeit, sondern sie bieten sich als ein gleichsam energetisches
Quantum dar, das als namenlose, wahnhaft-superlativische Angstintensität
auf alle Figuren überspringt und somit eine ganze Gesellschaft
fest im Griff hat. Beckedorf und das vielfach solistisch geforderte
Staatsorchester erschließen aus den Notenwerten also das
Abbild einer aus den Angeln gerissenen, sich im Sturz befindenden
Welt.
Auf der Bühne wird der Chor zum Träger solch düsterer,
ebenso archaischer wie moderner Endzeitstimmung. Von Beginn an überzeugt
der von Johanna Motter umsichtig einstudierte Chor durch die wuchtige,
aber nicht zu plakativ aufgetragene Dynamik der Unisono-Blöcke,
steigert sich sogar noch zu grandiosem Format bei der klaren Durchlichtung
der feinädrigen mehrstimmigen Satzstrukturen und findet schließlich
für die Finalapotheose mit ihrem atmosphärischen Vorgriff
auf die Musiklandschaft des „Mathis“ die dafür
erforderliche ganz neue Stilebene eines nun innerlich ergreifenden
und bewegenden Klangs. Jan Zinkler gibt einen überaus impulsiven
Cardillac, verkörpert glaubwürdig zwanghafte Getriebenheit
und Dämonie, während sein vokales Portrait die düstere
Dramatik der Titelpartie hingegen noch nicht ganz ausschöpft.
Für eine mehr als respektable Ensembleleistung stehen beispielhaft
Rebecca Nelsen als Tochter mit der gläsernen Transparenz ihres
zu keinem Zeitpunkt ins diffus Gefühlige abgleitenden, aber
gleichwohl warmen Soprans und Susanna Pütters, die nicht nur
im Vokalen die Partie der Dame mit unwiderstehlich kühler
Noblesse ausgestaltet.
Unter großen wie kleineren Theatern ist in den letzten Jahren
eine Tendenz zur Mehrfachverwertung von Inszenierungen erkennbar.
So ist auch Klaus Weises Regie die Reprise seiner schon vor drei
Jahren am Theater Bonn gezeigten Deutung. Minutiös arbeitet
Weise die dialektische Beziehung zwischen dem Volk und Cardillac
heraus. In den choreografisch ausgefeilten Menschenballungen trägt
die Masse überdimensionierte Gesichtsmasken wie Schutzschilde
vor sich her. Weises Sicht auf Cardillac ist von spürbarer
Sympathie geprägt. In einer Zeit, in der alles und erst recht
die Kunst zur Ware wird, erscheinen dem Regisseur Cardillacs Morde
an den Käufern seiner Produkte wie ein Aufschrei gegen eine
durchökonomisierte Welt. Aus dem Blickfeld gerät dabei
allerdings, dass die Unbedingtheit, mit der Cardillac die Autonomie
seiner Kunst oder seines Handwerks bis hin zum Kapitalverbrechen
verteidigt, von dem brutalen Ausschließlichkeitsanspruch
der Ökonomie und ihrer Sozialgleichgültigkeit, die nur
noch die „Moral“ der Geschäftsprinzipien gelten
lässt, im Ergebnis gar nicht so weit entfernt ist. Beide gehen
sie über Leichen.
Christian Tepe |