|
Tanzpädagogische Leitbilder
Reflexionen zu einer Tagung in Remscheid · Von Ronit Land
Im September fand in der Akademie Remscheid eine internationale
Tagung der Gesellschaft für Tanzforschung in Kooperation mit
der Akademie statt. Ronit Land, Tanzpädagogin und Tanzwissenschaftlerin,
fasst anlässlich der Remscheider Veranstaltung Erkenntnisse
zu Fragen der Tanzpädagogik zusammen.
Es stellt sich immer die Frage, ob sich ein geschlossenes pädagogisches
System nicht lediglich am Rande des Lernens bewegen kann, da es
nie vollendet ist und nur unter gegenwärtigen Bedingungen
wirken kann. Die Kontinuität eines Lernprozesses, der den
Körper als Mittelpunkt versteht, könnte in ihrer Nachhaltigkeit
bewirken, dass nicht das Wissen gewürdigt wird, sondern das
Lernen an sich. Bekanntlich kann ein Lernprozess nicht in einen
45-Minuten-Takt gepresst werden. Die Neurowissenschaft versorgt
uns mit der Erkenntnis, dass nur eine permanente Wechselseitigkeit
von Herausforderung und Erfahrung das Bewusstsein des Körpers
schult. In den meist verbreiteten tanzpädagogischen Leitbildern
ist das Lernen aber nur der Übergang zwischen Wissen und Nichtwissen
und nicht ein Zustand, der an sich als erstrebenswert vermittelt
wird. Diese Leitbilder führen zu oft zu einer Vereinzelung
der Person, die ausschließlich gelernt hat, ihre eigenen
Interessen zu verfolgen anstatt ihre persönlichen Ressourcen
im Austausch zu vervielfachen.
Integrative Lernprozesse
Wie Lernprozesse die persönliche Entfaltung beeinflussen,
kann der Tanzpädagoge selbstverständlich nie im Voraus
wissen. Bei einer internationalen Tagung an der Akademie Remscheid
in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft für Tanzforschung wurde
die Frage diskutiert, wie es möglich ist, im Prozess einer
Tanzimprovisation sinnliche Ressourcen im Körpergedächtnis
aufzurufen, um so ein Lernen im Sinne einer Entscheidungsfähigkeit
zu trainieren. Der Prozess des Lernens darf nicht linear verstanden
werden. Lernen beruht auf kaleidoskopisch-gebrochenen Formen, die
sich ineinander integrieren, um die gesamten menschlichen Schätze
und Ressourcen zu aktivieren. Es bleibt ein Abenteuer, das den
Risikofaktor des Augenblicks verkraften
muss, ein Phänomen das im vorhandenen Schulsystem nur schwer
zu beachten ist.
Wenn körperliche Sinnlichkeit und Denken miteinander verknüpft
werden, entsteht eine Erfahrung, die sich in einer Person als Handlungsfähigkeit
manifestieren kann. Lernprozesse, die ein Bewegungserlebnis voraussetzen,
entwickeln neue Fähigkeiten und Qualitäten, die zu einem
Bestandteil der Persönlichkeit werden. Dabei kann der Tanzpädagoge
durch eine prozessorientierte Ausbildung in die Lage versetzt werden,
jedem Dogma zu widersprechen – mit dem Ziel, einer Vielfalt
von Lebenssituationen gerecht zu werden und jedem einzelnen Lernenden
einen individuellen Weg aufzuzeigen, mit den eigenen Qualitäten
effektiv umzugehen. Die Frage, ob körperliche Organisation
gelingt, hat wenig mit einer vorgegebenen Tanzform zu tun: eine
Meinung, die von Institutionen wie dem Laban-Center in London oder
dem Centre National de la Danse in Paris vertreten wird. Beide
waren bei der Tagung im September 2008 in Remscheid anwesend.
Körperliche und emotionale Integrität wird durch die
Flexibilisierung von Grenzen und deren Reflexion entwickelt, nicht
durch das Pauken von Formen und vorgefertigten Bildern. Die Vielfalt
der Tanzmethoden, die auf der Tagung gezeigt wurde, führte
zu der Erkenntnis, dass es nötig ist, eine kontinuierliche
europäische Plattform, die einen Gedanken- und Ideenaustausch
ermöglicht, ins Leben zu rufen. Ästhetische Erfahrungen
Nur mit einer individuellen Bewegungssprache kann sich ein junger
Mensch symbolisch darstellen, um Aufmerksamkeit für seine
Qualitäten zu erlangen. Deshalb muss bei weiteren Forschungen
der Fokus auf die ästhetische Körperbildung im umfassenden
Sinne erweitert werden. Wichtig ist zu verdeutlichen, dass die
Intensität der ästhetischen Erfahrung die sinnliche Qualität
vertieft. Wenn die Aufmerksamkeit auf den Augenblick ins Zentrum
der Wahrnehmung rückt, kann das kognitive Lernen motiviert
werden. Als Beispiel können elementare Bewegungssequenzen
in verschiedenen interdisziplinären Zusammenhängen gestaltet
werden, um nicht nur eine neue ästhetische Erfahrung zu ermöglichen,
sondern um die Motivation grundsätzlich zu fördern und
die individuelle Entscheidungsfähigkeit zu schulen. Die Fähigkeit,
zwischen verschiedenen Bewegungs-Erfahrungen zu differenzieren,
bildet letztendlich die Intensität der Sinnlichkeit. Darüber
hinaus ist das Training der Sinnlichkeit beziehungsweise die Körperwahrnehmung
ein unmittelbarer Weg zum Training der ästhetischen Empfindung.
Diese und ähnliche Überlegungen wurden bei der Tagung
von den Mitwirkenden mit großer Offenheit diskutiert.
Wenn der Gruppenprozess einen Schwerpunkt der tanzpädagogischen
Arbeit bilden soll, werden vom Tanzpädagogen Kompetenzen erwartet,
die ihm ermöglichen, mit der Heterogenität einer Gruppe
umzugehen. Die Aufforderung aber, den Tanz als Gruppenprozess zu
sehen, muss zunächst einen Demokratisierungsprozess in den
vorhandenen Ausbildungssystemen voraussetzen. Mit der Überzeugung,
dass Kommunikationsmuster eine körperliche Reflexion ermöglichen
wie auch ästhetische Themen umfassen, muss der Tanzpädagoge
in seiner Ausbildung befähigt werden, die Verbindung zwischen
der persönlichen und der gesellschaftlichen Wahrnehmung als
Ausgangspunkt für seine Arbeit herzustellen. Wahrnehmung findet
allerdings immer im Augenblick statt und kann, weder körperlich
noch emotional, vorhersehbar gemacht werden. Über Bewegungs-Erfahrungen,
die ein junger Mensch in seinen ersten Lebensjahren sammelt, lernt
er, seine gewonnenen Erlebnisse zu reflektieren und ein bewusstes
Verhältnis zu seinen individuellen Ressourcen zu entwickeln.
Dieser Lernprozess kann auch als Entwicklung einer körperlichen
und geistigen Identität bezeichnet werden. Diese Identität
möchten menschliche Wesen auch anderen mitteilen. Sie möchten
einen Austausch zwischen Ideen, Gedanken, Gefühlen und Visionen
herstellen. Dafür brauchen sie soziale und kommunikative Fähigkeiten,
um ihre Mitteilung klar zu strukturieren, Emotionen im Sinne der
Bewegtheit authentisch zu überbringen und ihr gesellschaftliches
Umfeld für die eigenen Visionen zu begeistern. Wenn die lernende
Gruppe als eigenständiges Phänomen verstanden wird, wird
auch jeglicher kreative Prozess als eine wechselseitige Entscheidung
der gesamten Gruppe betrachtet. Die Notwendigkeit, Neues zu lernen,
beruht auf der Grundlage, dass es ohne dies kein Überleben
gibt. Gesunde Menschen aller Altersgruppen verfügen über
ein ungeteiltes und totales Interesse an dem, was sie „bewegt“.
Nur dieses leidenschaftliche Interesse gibt ihnen die Kraft, Neues
und Anderes zu sehen und zu erkennen. Dieses Erkennen findet nie
ausschließlich im Kopf statt, sondern ist eine Aktion, die
das ganze Wesen einbezieht. Eine gut trainierte Aufmerksamkeit
führt zu einem erweiterten und klareren Blick auf den eigenen
Körper, das eigene Handeln und den eigenen Umgang mit der
Umwelt. Die Entwicklung und Durchführung von tänzerischen
Konzepten und Ideen sowie die subjektive körperliche Erfahrung
jedes Einzelnen ermöglicht ihm, mit Lebensentscheidungen offener
und differenzierter umzugehen. Keine klaren Erfolgsvorgaben In der Praxis wird sehr oft vergessen, wie prägend eine Tanzerfahrung
im Körpergedächtnis verankert ist. Wir ordnen den Tanz
der körperliche Wahrnehmung zu, häufig ohne der ästhetischen
Erfahrung ihren Stellenwert zuzugestehen. Zwar ist die körperliche
Wahrnehmung grundsätzlich unvollständig, gerade dies
ermöglicht aber, individuell mit persönlichen Ressourcen
umzugehen sowie sie in einen kollektiven Ausdruck der Gruppe zu
transformieren. Wahrnehmung und Gestaltung stehen immer in Verbindung
zueinander und unterstützen den Transfer in die Alltagswirklichkeit.
Die Schwierigkeit für die tanzpädagogische Arbeit ist,
dass es keine klaren Vorgaben gibt, an die man sich halten könnte,
um einen erfolgreichen Transfer zu garantieren.
Es kann dem Tanzpädagogen gelingen, die Kreativität der
Teilnehmer so zu lenken, dass sie ihre Handlungsmöglichkeiten
selbst erkennen. So umfasst der pädagogische Prozess die mentale
Ebene der Wahrnehmung wie auch die imaginäre Fähigkeit,
Körperübertragungen zu speichern und sie ins sinnliche Bewusstsein
zu integrieren. Allein schon die Ausstrahlung der Tanzpädagogen,
die bei der Tagung mitwirkten, hatte ihre Wirkung auf die Bereitschaft,
sich auf eine neue Erfahrung einzulassen. Auch die Aussicht auf
ein Lob, behauptet die Neurowissenschaft, rege die Gehirnzentren
derart an, dass ein gewünschter Lerneffekt eintreten könne.
Wichtig ist es, einmal festzuhalten, dass tanzpädagogische
Theorien in den letzten 40 Jahren kamen und gingen. Sie waren eine
wichtige, zusätzliche Anregung für die Praxis, nie aber
eine Grundlage, die die Praxis ersetzen konnte. Diese fordert nämlich
vom Tanzpädagogen, sein transformatives Potenzial improvisatorisch
einzusetzen, ohne dabei seine übergeordneten Zielsetzungen
aus den Augen zu verlieren.
Da die Gattung „Tanz“ eine Ausdrucksform ist, die mit
künstlerischen Fähigkeiten eng verbunden ist, ist es
eine alltägliche tanzpädagogische Realität, den
zutreffenden Ausgleich zwischen tänzerischer Leistung und
der gemeinsamen Erarbeitung einer individuellen Ausdruckssprache
anzustreben. Darüber hinaus ist aber ein kreativer Umgang
mit der eigenen Lebensrealität der einzige Zweck der kulturellen
Bildung. Im Laufe der Tagung wurde die Hoffnung laut, dass das
biografische Selbst jedes Tanzpädagogen diesen befähigen
kann, die Zusammenhänge zwischen der alltäglichen Flexibilität
und der ästhetischen Struktur herzustellen.
Der Tanz definiert sich nicht über seine formale Ordnung.
Ohne sie kann er aber nicht existieren. Er kann sich jedoch über
die Gesamtheit von Form und die Einzigartigkeit des Erlebten artikulieren.
Tanz steht immer in Bezug zu dem, der ihn erlebt, und soll, obwohl
in seinem Erlebnischarakter auf die Gegenwart reduziert, immer
eine Perspektive der menschlichen Freiheit beinhalten. Je differenzierter
der Mensch in seiner Wahrnehmung ist, desto „ästhetischer“ kann
seine Lebensqualität sein. Eine Zwischenbilanz der Tagung
könnte daher folgendermaßen lauten:
Wenn die Perspektive der menschlichen Freiheit im Vordergrund
stehen soll, kann sich der Erfolg der kreativen Arbeit nur daran
messen,
wie solche Menschen, mit denen tänzerisch gearbeitet wurde,
ihre Lebensqualität verbessern. Offensichtlich lässt
sich keine ästhetische Erfahrung von der eigenen Lebensgeschichte
eines Menschen trennen. Die pädagogische und gesellschaftliche
Verantwortung eines Tanzpädagogen liegt im Spannungsfeld zwischen
dem Verstehen und Reflektieren menschlicher Verhaltensweisen und
der Erschaffung von Freiräumen, in denen ein hochwertiger
künstlerischer Ausdruck dieser Freiräume stattfinden
kann. Je präziser und partieller die Aufgabenstellung eines
Pädagogen, desto phantasievoller der Umgang des Lernenden
mit seinen körperlichen, emotionalen und kognitiven Ressourcen. Ronit Land
|