Das Prekariat auf der Opernbühne
„Wozzeck“ an der Münchner Staatsoper · Von Christian
Kröber
Wie passt das zusammen? Das reiche, schicke Münchner Opernpublikum,
zurecht gemacht zur neuesten Premiere – und oben auf der
Bühne die schleichende Verelendung und Entmenschlichung des
Franz Wozzeck in Alban Bergs Bühnenwerk von 1925. Es passt
leider sehr gut zusammen, in der Zeit nach dem Zusammenbruch großer
Bankhäuser, mitten in der größten Finanzkrise nach
1929.
Als der neue Intendant Nikolaus Bachler dem aus Magdeburg stammenden
Theaterregisseur Andreas Kriegenburg das Angebot machte, den Wozzeck
an der Münchner Oper nach gut zwanzig Jahren wieder auf die
Bühne zu stellen, erahnte noch niemand die aktuellen Bezüge
des spät expressionistischen Stücks. Aber ebenso wie
beim kürzlich realisierten Macbeth, bildet das politische
und wirtschaftliche Umfeld plötzlich einen aktuell kommentierenden
Kontext, der die theatralische Fiktion um ein Vielfaches überholt
hat.
Bei so viel Aktualität kann Kriegenburg auf den direkten
Zeitbezug verzichten und lässt seinen Wozzeck als Jahrmarkts-Moritat
im weit entfernten 19. Jahrhundert spielen. Im Mittelpunkt seiner
Interpretation steht freilich nicht die titelgebende Hauptfigur,
sondern sein und Mariens namenloses „Armer Leuts Kind“ (Aurelius
Braun).
Ob dieses wohl eine Chance hat, aus der gesellschaftlichen Stellung
auszubrechen, die Schicht des Prekariats zu verlassen – das
ist die eigentliche Frage für Kriegenburg, der das Kind eines „Monsters“ und
einer „Hure“ mit viel Wohlwollen durch den Abend begleitet,
aber seine Zweifel daran nicht verbergen kann und möchte.
So aufgeweckt der Junge die sich abzeichnende Tragödie zwischen
Wozzeck und seiner Mutter verfolgt und schweigend kommentiert:
Als alles zu Ende ist und er allein auf sich gestellt als Waise
durchs Leben gehen muss, dient er den umherstreunenden Altersgenossen
erneut als Zielscheibe ihres Spottes. Das Drama kann von Neuem
beginnen...
Das Drumherum ist professionell organisiert und durchdacht. Die
große Bühne füllt sich bereits zu Beginn des Abends
mit dem Wasser, das für Wozzeck und Marie von schicksalhafter
Bedeutung werden wird. Arbeitslose waten durch die Fluten, tragen
als menschliches Fundament den Orchesterboden im Wirtshausgarten
und bilden so das trübe Ensemble der biedermeierlichen Kasernenstadt.
In Brecht‘scher Manier vollzieht sich der Lauf der Ereignisse:
Hauptmann (Wolfgang Schmidt), Doktor (Clive Bayley) und der Tambourmajor
(Jürgen Müller) werden schon rein optisch (Kostüme:
Andrea Schraad) zu Abziehfiguren des Vorstadttheaters degradiert.
Einzig Wozzeck (Michael Volle) und Marie (Michaela Schuster) gelingt
es, ihren Rollen menschliche Züge zu verleihen. Von großer
Eindringlichkeit geprägt ist die wie immer tadellose sängerische
und schauspielerische Leistung des Chores der Bayerischen Staatsoper
unter Andrés Máspero.
Michael Volle verbindet dabei schauspielerisches Können und
stimmliche Präsenz zu einer überragenden Kombination
und beherrscht damit mit Abstand diesen fulminanten Premierenabend.
Dass sich die Sänger musikalisch in idealer Weise entfalten
konnten, ist zu allererst das Verdienst von Münchens Generalmusikdirekor
Kent Nagano, der das Bayerische Staasorchester souverän durch
die Schwierigkeiten der Berg‘schen Partitur führt. Sein
Wozzeck ist das lyrische Gegenstück zum Expressionismus, der
auf der Bühne stattfindet. Aber gerade diese Gegensätzlichkeit
bewirkt das beglückende theatralische Gesamtkonzept, dem – eine
große Ausnahme für München – das Publikum
mit stehenden Ovationen für Musik und Bühne zujubelt.
Christian Kröber
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