Wer ist denn eigentlich dieser Tybalt?
Das Kinderprogramm der Bayerischen Staatsoper · Von Jörg
Lichtinger
Das Arbeitsfeld klassischer Kulturträger ist vielschichtig
geworden. Die Opernhäuser der Länder und Kommunen sind
längst nicht mehr allein damit beschäftigt, künstlerisch
anspruchsvolle Programme auf die Bühnen zu bringen. Ein immer
größer werdender Teil der Energien fließt in den
erzieherischen Bereich der Kulturvermittlung. Vorbereitende Werkeinführungen
sind für das erwachsene Publikum seit längerem Usus.
Das jugendliche Publikum wird mit eigens konzipierten Projekten
noch intensiver an die Hand genommen, natürlich auch, um eine
dauerhafte Bindung junger Opernbesucher an die Häuser zu erreichen.
Die Bayerische Staatsoper ist in dieser Hinsicht sehr aktiv und
kann auf mehrere Projekte und Initiativen zur Betreuung und Förderung
des jungen Publikums verweisen. Praxis vor Theorie
Es ist neun Uhr morgens und Ulrich Grußendorf hat alle Hände
voll zu tun. Nicht wie sonst als Geiger im Bayerischen Staatsorchester,
sondern als Workshopleiter für eine fünfte Klasse einer
Münchner Hauptschule. Diese Workshops, in denen Schulklassen
von Mitgliedern des Bayerischen Staatsorchesters auf eine Vorstellung
im Nationaltheater vorbereitet werden, sind für den studierten
Musikpädagogen eine willkommene Abwechslung zum Orchesteralltag.
Diesmal geht es um Prokoffiefs Ballett Romeo und Julia. Die Kinder,
die hier teilnehmen, haben zuvor bereits einen Workshop im Staatsballett
besucht, sind also schon eingestimmt. Zusammen mit einigen Kollegen
erklärt Grußendorf den Schülern, was es mit den
streitenden Parteien der Capulets und der Montagues auf sich hat
und warum Romeo und Julia es mit der Feindschaft ihrer Familien
nicht so genau nehmen. Erfreuliche Ergebnisse
Die meisten der Schüler sind bisher weder mit Opern noch mit
Shakespeare in Berührung gekommen und dementsprechend verwirrt.
Wer war Mercutio noch mal? Ist dieser Tybalt eigentlich Romeos
Freund oder sein Feind? Egal, vorerst folgt der grauen Theorie
die weitaus unterhaltsamere Praxis: Grußendorf und seine
Kollegen haben eine Reihe von Instrumenten vorbereitet, auf denen
die Kinder selbst ein Stück aus Prokoffiefs Werk interpretieren
können. Dazu haben die Musiker Xylophone und ein Marimbaphon
mit farbigen Punkten präpariert und auf einer Flipchart den
Ablauf in einfacher Form aufgemalt. Offenbar ist das durchaus verständlich
für die Schüler, denn das Ergebnis klingt gar nicht schlecht.
Zwei Geigerinnen spielen das Thema, ein Bassist legt das Fundament
und die in Gruppen aufgeteilten Kinder hämmern begeistert
auf ihre Schlaginstrumente ein.
Diese Workshops sind Teil eines gemeinsamen Programms für
Schüler und Studenten, das die Bayerischen Staatstheater,
also neben der Staatsoper auch Staatsballett, Staatsschauspiel
und Staatstheater am Gärtnerplatz, unter dem Label THEATERLEBEN
anbieten. Dabei handelt es sich neben verbilligten Kartenangeboten
für Schüler und Studenten und speziellen Schulaufführungen
vor allem um ein pädagogisch geprägtes Vermittlungskonzept.
In der Saison 2007/08 haben rund 24.000 Jugendliche Vorstellungen
der Staatsoper und des Staatsballetts besucht, davon haben 3.000
auch das Jugendprogramm durchlaufen. Dazu gehören neben den
vorbereitenden Workshops auch Führungen für Kinder durch
das Nationaltheater und die Junge Akademie, ein Begegnungsprojekt,
bei der Kinder mit Vertretern einzelner Berufsbereiche aus der
Theaterwelt zusammenkommen und Fragen stellen dürfen. Maestro
Margarini Auch das Internet hat man sich als pädagogisches Mittel
erschlossen. Auf einer interaktiven Website können sich Kinder,
geführt
vom virtuellen Dirigenten Maestro Margarini, spielerisch mit dem
Opernhaus und seinen Geheimnissen vertraut machen, Fotos ansehen
und sich über weitere Kinder- und Jugendprojekte informieren.
Kinder
und Jugendliche können im Münchner Nationaltheater
aber auch selbst aktiv auf der Bühne mitwirken. Das Angebot
führt hierbei konkret in den Ausbildungsbereich hinein und
reicht von regelmäßiger Teilnahme an Kinderchor und
Kinderstatisterie, über die Ballettausbildung an der Heinz-Bosl-Stiftung
bis hin zum Opernstudio und der Orchesterakademie, zwei Förderprogrammen,
mit denen jungen Profimusikern der Einstieg ins Berufsleben erleichtert
werden soll. Orchesterprojekt ATTACCA
Eine spezielle Initiative des Bayerischen Staatsorchesters hat
zu einem eigenen Jugendorchester namens ATTACCA geführt. 2007
wurde das Ensemble vor dem Hintergrund ins Leben gerufen, Jugendliche
am Erfahrungsschatz professioneller Orchestermusiker teilhaben
zu lassen und ihre Musikbegeisterung zu fördern. Neben dem
Künstlerischen Leiter Allan Bergius betreuen Musiker des Staatsorchesters
die einzelnen Stimmgruppen im Orchester. Seinen Einstand feierte
das Jugendorchester im letzten Jahr bei „Oper für Alle“,
wo sich die Jugendlichen mit den Musikern des Staatsorchesters
die Pulte teilten. In diesem Jahr haben die Nachwuchsmusiker bereits
ein gemeinsames Konzert in München mit dem türkischen
Jugendorchester DOGUS absolviert.
Inzwischen haben Ulrich Grußendorf und seine Einsatztruppe
vom Bayerischen Staatsorchester ihre Schulklasse verabschiedet.
Der Klassensprecher hat sich noch artig im Namen aller bedankt,
nachdem die Lehrerin unauffällig das verabredete Zeichen gegeben
hatte. Der fliegende Wechsel ist eingeläutet: Draußen
steht schon die nächste Klasse bereit, denn am Freitag ist
es soweit, Romeo und Julia im Nationaltheater, Montagues kämpfen
gegen Capulets, und bis dahin sollen schließlich alle Bescheid
wissen. Jörg Lichtinger
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