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Kulturpolitik

Pluralismus der Klangideale

Slawisches Repertoire in europäischen Städten · Von Christian Tepe

Gibt es noch signifikante Unterschiede in den klanglichen Charakteren der europäischen Theaterchöre? Oder sind analog zur Tendenz der Vereinheitlichung des Orchesterklangs ähnliche Entwicklungen bei den Chören der europäischen Opernhäuser zu beobachten? Die Internationalisierung der Ensembles ist vielerorts weit vorangeschritten. In Deutschland ist es zu einer Selbstverständlichkeit geworden, dass gerade auch die Stadttheater Sänger aus über einem Dutzend Nationen und beinahe allen Erdteilen im Chor versammeln. Aber bildet sich deshalb auch überall zwangsläufig ein einheitlicher, gleichsam kosmopolitischer Chorstil heraus? Die Ergebnisse einer kleinen, stichprobenartigen Rundreise mit Besuchen von Aufführungen des slawischen Repertoires in Amsterdam, Bratislava und Düsseldorf sprechen eher gegen diese Vermutung.

Es gab Zeiten, da war das klangliche Profil eines Chores noch eine Frage der Landschaft, in der die Sänger eines Ensembles gemeinsam aufgewachsen und musikästhetisch sozialisiert worden sind. Und einige Klangideale, die gerne mit konkreten geographischen Räumen assoziiert werden, sind nach wie vor sehr lebendig. Erinnert sei zum Beispiel an den Unterschied zwischen einem norddeutsch-herben, eher expressiven und einem lyrisch-weichen, samtfarbenen Wiener Chorklang. Vielleicht darf man hoffen, dass die Globalisierung in Kunst und Musik anders verläuft als ihr ökonomisches Pendant. Wo dieses die Gefahr einer weitgehenden Uniformierung der Lebensformen provoziert, da eröffnet jene „weiche“ Globalisierung durch die Künste womöglich die Chance auf einen echten Pluralismus gleichberechtigter Stile und Ausdrucksweisen. Für einen modernen Chor könnte dies bedeuten, dass die Erarbeitung und Pflege eines spezifischen Klangideals und die souveräne Verfügung über die ganze Fülle traditioneller und zeitgenössischer Idiome Hand in Hand gehen.

„Boris“ in Amsterdam

 
John Tomlinson (Boris Godunov), Brian Asawa (Fedor), Chor der De Nederlandse Opera.
 

John Tomlinson (Boris Godunov), Brian Asawa (Fedor), Chor der De Nederlandse Opera.
Foto: Marco Borggreve

 

Weit auf diesem Weg vorangeschritten ist der Chor der Niederländischen Oper Amsterdam, wobei hier die Produktionsbedingungen des Stagione-Prinzips die Qualität der künstlerischen Ergebnisse sehr begünstigen. Die aktuelle Wiederaufnahme von Modest Mussorgskijs Ur-Boris in der Inszenierung von Willy Decker aus dem Jahr 2001 hat absolutes Premierenformat. Die Sequenzierung des Spielplans in Aufführungsserien scheint intensive Probephasen, befreit von dem Verschleiß durch den Repertoirebetrieb, zu ermöglichen. Nur in dieser Konsequenz kann das Stagione-Prinzip eine Alternative zum Ensembletheater sein. Alle Beteiligten, die 110 Chorsänger, der Kinderchor, die Solisten und das Residenz Orchester werden durch einen gemeinsamen Kunstwillen zusammengeschweißt. Dessen autoritatives Zentrum ist der Dirigent Alexander Lazarev: Asketisch, konzis, ohne einen Hang zu Draperien, dynamisch kaum über ein verhaltenes Mezzopiano hinausgehend, legt Lazarev die innerlich ausgezehrten, rissigen Strukturen des Ur-Boris offen. In gleicher Weise beeindruckt auch der von Martin Wright vorbereitete Chor durch eine puristische aromantische Interpretation ohne Pathos und aufgesetzte Emphase. Ungeschönt-schnörkellose Expressivität vereint sich mit einer Pianokultur, die aus der geistigen Disziplin sängerischer Selbstzurücknahme, aus dem Verzicht auf Patina und plakative Farbgebung erblüht. Klarer, stringenter und überzeugender kann ein Chor den „Boris Godunow“ nicht singen.

Suchon in Bratislava

Einer völlig anderen, aber nicht minder faszinierenden Chorklangästhetik begegnet man über 1.000 Kilometer südostwärts mit dem Chor des Slowakischen Nationaltheaters Bratislava. Auch dieses Ensemble hat einen ganz eigenen Charakter. Die Slowaken sind ein kleines Volk mit einem großen Reichtum an schönen Naturstimmen und einem vorbildlichen Gesangsschulwesen. So sind die 60 Sänger des Theaterchores fast ausschließlich Einheimische – aus deutscher Perspektive ist das ein Unikum, für mittelosteuropäische Theater hingegen nichts Ungewöhnliches. Als Höhepunkte dieser Saison gelten unter anderem die Aufführungen der beiden Opern des vor 100 Jahren geborenen Komponisten Eugen Suchon. Er ist als Schöpfer eines ästhetisch eigenständigen slowakischen Musiktheaters zu einer nationalen Symbolfigur geworden. Da lässt es sich auch die Projektmanagerin der Oper, die studierte Sängerin Andrea Ilenciková, nicht nehmen, das Büro mit der Bühne zu tauschen; ein typisches Detail für die Arbeitsatmosphäre an einem Opernhaus, das mit Gabriela Benacková eine slowakische Sängerin von Weltformat als Direktorin gewinnen konnte. Musik und Chorgesang haben in der Slowakei eine viel stärkere Präsenz im alltäglichen Leben der Menschen. Das schlägt sich auch in der Auffassung der Oper als dramatisch durchpulster und gesteigerter Gesang nieder. Die Trennung zwischen ernster Musik und Volksmusik verläuft nicht so scharf wie im Westen (wo genau genommen von einer Pflege der Volksmusik gar nicht mehr die Rede sein kann). Entsprechend verschmilzt Suchon in seiner Oper „Krútnava“ die Mittel einer avancierten, modernen Klangsprache mit folkloristischen Wurzeln. Die Hauptrolle fällt in dieser Nationaloper dem Chor zu – und der Chor des Nationaltheaters (Einstudierung: Nada Raková) erweist sich als ein Sängerensemble von höchster musikdramatischer Eloquenz: einfach bezaubernd die klangliche Pracht-entfaltung und darstellerische Vitalität der Volksszenen, hymnisch strahlend und von raumgreifender Erhabenheit dagegen jene Passagen zu Beginn und am Ende der Oper, wenn der Chor die Handlung kommentiert; voller imaginativer Spannung schließlich die unheimlichen Momente, wenn der Chor zur inneren Stimme des um sein Seelenheil ringenden Helden Ondrej wird. – Slawisches Repertoire in Amsterdam und Bratislava: Dazwischen liegen nicht nur geographische Welten. Was aber diese beiden grundverschiedenen Hemisphären eines strukturanalytisch durchsichtigen Klangideals hier und eines äußerst evokativen Singens dort verbindet, das ist die europäische Spitzenstellung beider Ensembles.

„Lady Macbeth“ in Düsseldorf

Geplant war, den Vergleich Amsterdam-Bratislava durch eine Chorklanganalyse der aktuellen, russischsprachigen Produktion von Schostakowitschs „Lady Macbeth von Mzensk“ in Düsseldorf abzurunden. Doch diese Absicht hat der am letzten Novemberwochenende um sich greifende Orchesterstreik vereitelt. Zwar konnte die besuchte Aufführung durch die hochgradig brillante Pianistin Ellen Rissinger, deren Freude an den rhythmischen Raffinessen, der motorischen Nervosität, den perkussiven Elementen, aber auch den hauchzarten dynamischen Feinheiten des Klavierauszugs rasch auf das Publikum übersprang, gerettet werden. Doch natürlich ging die klangliche Balance zwischen Vokalem und Instrumentalem trotz des unverhofften, virtuosen Klavierabends verloren. Weitaus mehr als den Solisten fehlte dem Chor das starke, kompakte Gegenüber, die grundierende Farbgebung durch den Orchestersatz. Durch die ausfallende Synchronisation von Chor und Orchester wirkte der Chorpart bisweilen skelettiert und löchrig, ohne dass dies im Geringsten den Sängern zuzuschreiben gewesen wäre. Im Gegenteil: Viele Einzelheiten, wie das hämisch geifernde Kollektiv der Angestellten-Kreaturen, zu denen in Dmitri Tcherniakovs Inszenierung die Knechte und Mägde mutieren, verrieten Verve, Schliff und Elastizität der von Christoph Kurig präparierten Chöre. Aber es half nichts: Raubt man dem Gesamtkunstwerk Oper nur eines seiner Elemente, verliert unweigerlich auch alles andere seinen Sinn und seine Überzeugungskraft.

Christian Tepe

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