Mussbachs Libretto konfrontiert poetische Texte Friedrich Hölderlins mit dem modernen Alltagsjargon der Ellbogengesellschaft in Kaufhaus-, Fitness-, Fernsehstudio- oder Swingerclubszenen. Fischers routinierte Inszenierung verschleierte diese Kontrastdramaturgie wie auch das Vor und Zurück zwischen Gegenwart und Vergangenheit und machte so die Chronologie der Expedition undurchsichtig. Namenlosen Menschen standen als Alter Ego ebenso namenlose Götter gegenüber; sie waren im Stil der Hölderlin-Zeit mit Frack und Zylinder gekleidet, obwohl schon der Dichter seine eigene Epoche als gottlos angesehen hatte. Im Zentrum ein Darstellerpaar: ein Schauspieler (Markus Gertken), der Hölderlin-Texte deklamierte, und ein Sänger, der sie gelegentlich auch sang (optisch beeindruckend, aber stimmlich gelegentlich überfordert Dietrich Henschel). Mehr als Singen und Musizieren charakterisierten Sprechen, Schreien und Schreiten die Aufführung. Der unverzerrt dargebotene Text blieb trotz zusätzlicher Untertitel rätselhaft. Es geschah einfach zu viel und zu unstrukturiert in zu kurzer Zeit, wenn die zu Beginn aufgesammelten Katastrophenopfer erneut sprechen lernten, zum Glauben fanden, eine Madonnenfigur aufhängten und wieder herunterrissen und schließlich – vor der Silhouette des Palasts der Republik – in eine Diktatur gerieten. Die Geschichte der Menschheit als eine Geschichte der Menschenverachtung, Brutalität und Gottlosigkeit. Im Einerlei des Zeitflusses und einheitlicher Plattenbauten (Bühnenbild: Herbert Schäfer) gingen die vier Akte ohne Zäsur ineinander über. Statt in einer Eislandschaft lagen zu Beginn die Opfer einer apokalyptischen Katastrophe in großen Wasserbecken, die insgesamt mehr zur Verwässerung als zur Verdeutlichung beitrugen. Sinn ergaben sie erst bei schweren Regenfällen und im Schlussbild, als eine arkadische Landschaft am Meer zu sehen war. Der hier vorgestellten Vision einer „schönen Einsamkeit“ im Einklang mit der Natur entsprachen hochtönende Hölderlin-Worte („wir können uns auf dem Berge des weiten Himmels und der freien Luft freuen“) und eine emphatische Streicherlinie, die anschwoll und verschwand. War das die versprochene spirituelle Errettung der Menschheit? Der Komponist, der selbst am Pult stand, hatte bis dahin mit Ausnahme weniger Klanginseln, sirrenden Flächen und einer leitmotivisch wiederkehrenden Tristan-Reminiszenz der tiefen Streicher Musik aufge-spart und fast verweigert. Die hohe Streicherlinie bedeutete einen Ausgleich, aber keine Erfüllung. Die Dichtung Friedrich Hölderlins hat schon zeitgenössische Komponisten wie Holliger, Maderna, Nono, Pousseur, Reimann, Rihm und Zender beflügelt. Für Peter Ruzicka ist ihre Aktualität heute, „zu Beginn eines spirituell geprägten 21. Jahrhunderts“, sogar gewachsen. Erwartungen an seine Oper schürte er durch die Veröffentlichung von Vorstudien wie sein Orchesterstück „Vorecho“ und das Streichquartett „Erinnern und Vergessen“ sowie durch Interviews, in denen er nach der früheren Fragmentästhetik eine neue sinfonische Großbogigkeit ankündigte. Davon wie von einer „Wiedergewinnung des Kantablen“ war wenig zu verspüren. Es schien, als hätte der Respekt vor dem Dichterwort die musikalische Phantasie beschnitten. Der freundliche Beifall der zur Premiere erschienenen Freunde des Komponisten (darunter die Kollegen Halffter, Lachenmann, Matthus, Reimann und Rihm) verbarg nicht die Enttäuschung der hohen Erwartungen. Ein neues spirituelles Zeitalter dürfte diese neue Oper noch weniger einläuten als die von Messiaen und Stockhausen. Albrecht Dümling
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