|
Panoptikum der Gegenwelten
DANCE 2008 in München · Von Vesna Mlakar
Das Internationale Festival des zeitgenössischen Tanzes in
München glich in seiner elften Ausgabe einem Veranstaltungsmarathon
mit vielen Durchhängern und wusste doch, durch eine Hand voll „Treffer“ zu
begeistern.
Das beste Pulver verschoss Kuratorin Bettina Wagner-Bergelt gleich
zu Beginn. Mit Hofesh Shechter holte sie einen Israeli in die bayerische
Landeshauptstadt, der die Londoner Tanzszene schon seit einigen
Jahren in Atem hält. Seine an sich ähnlich gestrickten
vier Stücke überraschten durch die eigenwillig harsche
Dynamik, mittels derer er unbequeme Gesellschaftsbilder, Situationen
von Bedrohung, Aufbegehren, Gewalt, hilflosen Annäherungsversuchen
oder (ja, auch das!) Momenten des Vergnügens kreiert: Bewegungsgeschichten,
angesiedelt im Irgendwo zwischen Alltag und Krieg. Dabei strotzen
seine agilen Tänzer vom Haaransatz bis in die Fußsohlen
vor Kraft und haben einen Drive wie unter Strom.
Elektrisierend wirkte auch, was die drahtigen Jungs der brasilianischen
Grupo de Rua de Niterói unter Bruno Beltrao in „H3“ mit
dem Ziel, Raumwahrnehmung und physische Konfrontation zu schärfen,
auf die Bühne pfefferten. In verzahnten Formationen preschten
und kreiselten sie übers Plateau und formten anhand des HipHop’schen
Bewegungsrepertoires Duette, die ihre Energie aus Konflikten oder
Komplizenschaft zogen. Wie die neun Streetdancer das machten war
beeindruckend – für eine rundum spannende Tanzperformance
jedoch zu wenig. Ebenso wie das verblüffende Crossover von
Live-Tanz und Video der Amerikaner Myrna Packer und Art Bridgman.
Zu schnell erschöpften sich trotz ungewöhnlicher Projektionsideen
die frappierenden visuellen Effekte von Doppelungen, Identitätsüberblendungen
und Schwebeillusionen.
Für die fehlenden innovativen Entdeckungen entschädigten
dramaturgisch wie ästhetisch sattelfeste Beiträge bekannter
Größen – mit teilweise deutlich politischen Aussagewerten.
So zum Beispiel VA Wölfl oder die Compañia Nacional
de Danza, der Nacho Duato seit 1990 mit seinen Choreografien einen
eigenen (wenn auch stark von Jirí Kylián beeinflussten),
klassisch-athletisch-fließenden Stil verleiht. Auf dem Programm
standen zwei eindringliche Themenstudien des Spaniers. Zuerst „White
Darkness“ – eine berührende Parabel auf die zerstörerischen
Einflüsse von Drogen. Duato hat im herabfallenden Sand, den
die Tänzer aufnehmen, sich durch die Finger und in die Hände
rieseln lassen, ein wunderschönes Symbol für das Rauschmittel
gefunden. Und darüber hinaus ein Werk geschaffen, das in knapp
30 Minuten atmosphärisch packend von menschlicher Schwäche,
Abhängigkeit, Hoffnung, Leidenschaft, beschwipster Albernheit,
Zärtlichkeit, Verlust und Tod erzählt. Ganz anders „Herrumbre“ (dt. „Rost“),
Duatos gnadenlose Anklage gegen Internierungslager, menschliche
Unterdrückung, Folter und Vergewaltigung. Es gibt kein Auskommen,
keine poetische Überhöhung. Fast eine Stunde spielen
17 Tänzer konfrontiert mit einem verstellbaren, mobilen Zaungerüst
alle erdenklichen Scheußlichkeiten zwischen Tätern und
Opfern mit abgründig rüder, impulsiv riskanter, aus der
Achse gekippter, ineinander verhakter beziehungsweise gequält
verkrümmter Motorik und zugleich tänzerischer Bravour
durch. Gleißendes Scheinwerferlicht und suggestive Soundeffekte
verstärken die beklemmende Wirkung.
Noch bevor das Kernprogramm am 25. Oktober startete, gastierten
bereits fünf „kindgerechte“ Produktionen im Theater
der Jugend. „DANCE 4 kids“ nannte sich das neue Spezial,
das mit zwei höchst reizvollen Vorstellungen ausklang: dem
zauberhaften Zirkusduett „Edgar“ des riesenhaften Träumers
Grayson Millwood und seiner zierlichen Partnerin Claudia de Serpa
Soares sowie Christian Spucks bis ins letzte Detail ausgefeiltem „Don
Q“. Letzterer hatte das von darstellerischer Brillanz nur
so sprühende Meisterstück über einen älteren
Herrn (Egon Madsen) und seinen jungen Weggefährten (Eric Gautier),
die in ihrer tragisch-absurden Zweckgemeinschaft gefangen sind,
2007 nach Motiven von Cervantes‘ „Don Quijote“ ersonnen.
Mit ihren skurrilen, mal witzigen, mal melancholischen Episoden
zählte diese „nicht immer getanzte Revue über den
Verlust der Wirklichkeit“ zu den Highlights!
Vergleichbar stark in seiner grotesken Wechselwirkung von gegenseitiger
Manipulation und Passivität war die Uraufführung „Hotel
Hassler“ des Berliner Duos „Wilhelm Groener“ (bestehend
aus Günther Wilhelm und der bildenden Künstlerin Mariola
Groener). Ihr Trio punktete zudem mit absurden Bewegungsverkettungen
seiner Darsteller, die wie ferngesteuerte Marionetten die Skala
zwischen Empathie und Grausamkeit ausloteten. Entscheidend dabei:
das perfekte Timing – eine Qualität die auch Wim Vandekeybus/Ultima
Vez seit mehr als 20 Jahren auszeichnet.
Auch der Choreograf Stefan Dreher ging seine Neuproduktion „Ausgenommen
die Hunde“ vielversprechend an. Mit originellen Kopfmasken,
Krücken und wunderbar tierischer Allüre ließ er
seine sechs Performer auftreten. Das Publikum erlebte höllisch
gute Hunde, die sich zu streitbaren Tänzern wandelten und
sich in Fremdsprachen, Aussprachevarianten und Assoziationen eine
Wortschlacht rund um den Begriff „Dog“ lieferten. Trotz
der verbindenden Texte von Ruth Geiersberger verpuffte der Reiz
an Imagination. Ein Phänomen, quasi symptomatisch für
ein Festival, das bei aller Abwechslung zwischen Bewegung und Reglosigkeit,
Stille und Lärm, Realität und Irrealität, Konkretem
und Abstraktion, Besinnlichkeit und Schockerei, Geschichtsbewusstsein
und zeitgenössischen Tendenzen gegen Ende hin einfach ausfranste.
Vesna Mlakar
|