Hintergrund
Erste Erfolgs-Bilanz
Das Bayerische Staatsballett unter neuer Führung
Für die erste Spielzeit hat Bayerns neuer Staatsballettchef Igor Zelensky seinem jungen Ensemble ein Repertoire klassischer Highlights verordnet. „Because we can!“ lautete seine Devise auf die Frage, warum dazu als erste Premiere auch Yuri Grigorowitschs ästhetisch-politisch problematischer „Spartacus“ zählen müsse. Seit die Münchner Compagnie am 23. September die Saison mit einer blitzsauberen Wiederaufnahme von Peter Wrights „Giselle“ eröffnete, sind Gegenstimmen und Vorwürfe bezüglich der im Vorfeld getroffenen personellen Entscheidungen fast schlagartig verstummt. In den Fokus rückten Potenzial und Qualitäten des neu sehr gut aufgestellten Bayerischen Staatsballetts. Verschiedene Besetzungen machten die alten Klassiker wieder sehenswert und lockten das Publikum gleich mehrmals ins Haus.
Wer Igor Zelensky bei einem seiner vielen Gastauftritte im Nationaltheater seit 1999 erlebt hat, kann sich erinnern, mit welch athletischer Leichtigkeit sich der heute 47-jährige Russe in die Luft zu katapultieren und effektvoll wieder am Boden zu landen wusste. Genau diesen Aha-Effekt will der resolute Mann seit seinem Amtsantritt im August 2016 mit einer Crew ausgezeichneter Tänzerinnen und Tänzer aus 22 Nationen erreichen.
Im Gespräch gibt Zelensky sich sowohl umgänglich als auch ungeduldig. Wozu viele Worte verlieren, wenn doch klar ist, wohin der Weg führen muss! Gemeinsam mit seinen Leuten will er das Ballett in Niveau und Renommee der Oper angleichen. Münchens Tanzerbe aus erster Hand auf Hochglanz zu polieren, ist deshalb ein wesentlicher Punkt auf Zelenskys Agenda – neben dem Ehrgeiz, von international wichtigen modernen Choreografen à la Wayne McGregor und Paul Lightfood, aber auch Nachwuchstalenten wie den Halbsolisten Dustin Klein (München) oder Andrey Kaydanovskiy (Wien) neue Kreationen für das Bayerische Staatsballett zu bekommen.
Dazu soll die Truppe mittels vieler Einstudierungen möglichst schnell zu einer miteinander harmonierenden Compagnie mit erkennbarem Eigenprofil zusammenfinden. Erste Erfolge wurden bereits sichtbar und dienen Zelensky als Grundlage für seine weiteren Ziele: eine Aufstockung der bisher 70 auf mindestens 90 Tänzerstellen sowie etliche Vorstellungstermine mehr im Zweispartenhausgefüge. Nach nicht einmal fünf Monaten steht fest, dass er für derartige Verhandlungen mit Intendant Nikolaus Bachler und Staatsminister Ludwig Spaenle bereits die besten Karten besitzt – dank überragender Leistungen seiner höchst motivierten Ensemblemitglieder.
Gelungener Auftakt mit „Giselle“
Zum Einstand ins ausverkaufte Nationaltheater waren viele gekommen, die nach Abgang von Münchens Ex-Traumpaar Lucia Lacarra und Marlon Dino die neuen ständigen Gäste Natalia Osipova (Giselle) und Sergei Polunin (Albrecht) erleben wollten: Als „Bad Boy of Ballet“ in die Schlagzeilen geraten, soll der 26-jährige Ukrainer als ständiger Gast das Ensemble bereichern. Allerdings können ihm wesentlich diszipliniertere hauseigene Stars wie Jonah Cook – zuletzt rasend kraftvoll als Crassus in „Spartacus“ – mittlerweile das Wasser reichen.
In „Giselle“ verharrte das Publikum eher still – bis Höhe und Ausdauer von Polunins Sprungserien (mehr noch als sein darstellerischer Einsatz) keine Zurückhaltung mehr zuließen. Der vollmonddüsteren Waldszenerie von Peter Farmer wäre eine Auffrischung zwar gut bekommen, doch letztlich überzeugten einmal mehr Peter Wrights choreografisch plausibel gezeichnete Charaktere. Die anfängliche Skepsis dem insgesamt radikal verjüngten Ensemble gegenüber war nach etwas mehr als zwei gemeinsamen Stunden verschwunden. Flink auf Spitzen wie selten präsentierten sich die Damen. Der Abend mündete in applaus-
intensivem Wohlgefallen.
Wiedersehen mit „La Bayadère“
Mitte Oktober kehrte dann Patrice Barts „La Bayadère“ ins Repertoire zurück – exotisch-opulent 1998 vom Japaner Tomio Mohri ausgestattet. Die Kostümpracht war seinerzeit ein Wunsch der Staatsballettgründerin Konstanze Vernon. Nun verbreitete sich erneut helle Freude über die kombinationssauber durch den Raum quirlenden Gruppen- und Solo-Variationen, die der Franzose für die Wiederaufnahme tanztechnisch nochmals aufgefrischt hat.
In drei Folge-Vorstellungen stachen im „Schattenbild“ Mai Kono, Elizaveta Kruteleva und Luiza Bernardes Bertho unter der fein einstudierten Riege von Bayadèren und Begleiterinnen hervor. Den von wilder Virilität überschäumenden Hindu-Tanz führten mit hollywoodtauglicher Speedpower Konstantin Ivkin und Gianmarco Romano mit Partnerin Nicha Rodboon an. Jeder Beinwurf, jedes übermütige Schulterrütteln saß. Klassisch-ungewohnt ist, wenn Gamzatti (ausdrucksstark als Radscha-Tochter: Ivy Amista) ihre Konkurrentin aus Eifersucht zu Boden ringt. Dieser, der Tempeltänzerin Nikija, verlieh Ksenia Ryzhkova vom ersten Augenblick an eine schicksalhaft-tragische Dimension.
Im neuen Bayerischen Staatsballett wird ein Tandem aus stupender Technik und facettenreicher Personality ganz selbstverständlich forciert. Durch zukünftige Neukreationen gilt es, dies weiter zu festigen und zu entwickeln. In die Championsleague der großen Ballett-Truppen hat man sich bereits getanzt. Es war der rechte Augenblick für Igor Zelensky zu vermelden, dass er fortan ausschließlich für sein bayerisches Ensemble tätig sein und sein Engagement in Moskau niederlegen wird. Anders wäre die enorme Herausforderung, drei Handlungsballette und einen Dreiteiler (mit Werken von George Balanchine, Jerome Robbins und Aszure Barton) in bloß sechs Wochen zu stemmen, gar nicht zu schaffen gewesen.
„Romeo und Julia“
Hochdramatische, dabei völlig natürliche Emotionen prägen John Crankos „Romeo und Julia“. In den Titelpartien trat erstmals das bestens aufeinander eingespielte Solistenpaar Maria Shirinkina/Vladimir Shklyarov auf. Ihre Persönlichkeiten und ihre geschliffene Technik bescherten dem Publikum eine fulminante Aufführung. Shirinkina entfaltete zuerst kindlichen Liebreiz. Beim nächtlichen Stelldichein durfte sie Romeo, den
Shklyarov rückhaltlos überschwänglich verkörperte, schlichtweg überrumpeln. Als Julia zur Heirat mit Paris gezwungen wird, zeigte die zierliche Ballerina dann ihr starkes, realistisch-dramatisches Potenzial. Cranko aufzuführen – das machte diese Neueinstudierung sehr deutlich – ist eine Kunst für sich. Zu Prokofjews Musik stürzte sich das Ensemble ausgelassen ins bunte Veroneser Markttreiben. Nicht alles konnte da auf Anhieb klappen. Die Power aber stimmte.
Mit Osiel Gouneo und Ivy Amista, die übermütig ihre jugendliche Fröhlichkeit beim ersten Auftritt mit der Amme ausspielte, war ein weiteres Liebespaar am Start. Neuer Aspekt hierbei: Amistas virtuos getanzte Interpretation räumt sogar Graf Paris, dem von den Eltern ausgewählten Ehemann, eine reale Chance ein. Adam Zvonař kehrte den letztlich bloß einseitig Liebenden gut heraus. Das größte Kapital von Gouneo ist sein unglaubliches technisches Know-how. Brillant-mühelos wirbelte er seine Partnerin durch Crankos Hebevariationen, in denen sich die dramatische Zuspitzung ihrer Beziehung widerspiegelt. Seine Solopirouetten schraubte er, vom Glück befeuert, fast endlos weiter. Umringt von einem Ensemble, das nach zwei Vorstellungen super synchronisiert und mit zunehmendem Drive in den Gruppenszenen auftrat.
Für zusätzlichen Furor sorgte die heftig bejubelte Rückkehr von Tigran Mikayelyan auf die Bühne. Die abgründige Rachsucht seines Tybalt hat sich gewaschen. Sein Abgang, bei dem er wutverzerrt den weinerlich-entsetzten Kontrahenten noch im Angesicht des Todes fixiert, war eine Wucht. Solist Alexey Popov (Ausnahmetalent auch er!) war am Vorabend erstmals in die Rolle des forsch-frechen Mercutio geschlüpft. Beeindruckend, wie er seine Schnelligkeit bewies, im Kampf mit ungewohnt vertracktem Schrittvokabular nicht nur die Oberhand zu gewinnen, sondern auch seiner Figur deutlich Kontur zu geben. Resultate, die der Forderung des neuen Ballettdirektors nach mehr Auftritten Nachdruck verliehen. Das Haus ist voll und ein längst nicht ausgeschöpftes Tänzerpotenzial, das man live auf der Bühne beim Erobern neuer Partien beobachten möchte, vorhanden.
Jubel für „Spartacus“
Jubel für Spartacus. Foto: Wilfried Hösl
Kaum ein Handlungsballett ist so mitreißend und zugleich befremdlich wie „Spartacus“. Geradezu magisch scheint das Historiendrama Tänzer anzuziehen. Bolschoi-Übervater Yuri Grigorowitsch übersetzte es 1968 in martialisch-brutale wie elegische Ballettpower: Legionäre marschieren im Stechschritt und revoltierende Sklaven hechten in hohen Sprüngen über die Bühne. Lyrische Passagen gibt es kaum. Heroisierung pur, die am 22. Dezember Einzug ins Nationaltheater hielt. In München wurde der legendäre Dreiakter erstmals von einem westeuropäischen Ensemble getanzt.
Als Premieren-Spartacus hatte Gouneo dank seiner Begabung, mühelos ganze Diagonalen mit hohen Spagatsprüngen zu durchmessen, leichtes Spiel. Seine Bewegungen suggerieren den Freiheitsdrang per Definition. An seiner Seite durchläuft Phrygia die insgesamt interessanteste Entwicklung. Es ist eine emotionsheftige Paraderolle für Ivy Amista. Sie tanzt so intensiv, dass man sie kaum wiedererkennt. Wenn sie mit offenen Haaren um Spartacus trauert, überwältigen ihre Gefühle ganz unmittelbar. Zum Schluss wurden die Interpreten und der fast 90-jährige Choreograf über 20 Minuten lang heftig beklatscht.
Ob man nun „Spartacus“ in der altbackenen Uraufführungs-Ausstattung von Simon Virsaladze gutheißt oder nicht: Die Münchner Tänzerinnen und Tänzer haben aus dem Werk das Bestmögliche herausgeholt und Zelenskys Rechnung, das Publikum zu überwältigen, aufgehen lassen. Leere Plätze wird es in dieser Spielzeit keine mehr geben.
Vesna Mlakar |