|
Berichte
Eigenes oder Fremdes
Tanztheater an der Ostsee: Schwerin – Kiel – Lübeck
Für Ballettfreunde in Schwerin ist es sicher schmerzlich, dass Lars Tietje, seit dieser Spielzeit Intendant des Mecklenburgischen Staatstheaters, unter dem Druck einer leeren Kulturkasse das Corps von 16 auf 12 Tänzerinnen und Tänzer verringern musste. Daraus folgt, dass auch der bislang klassische, am Gruppentanz orientierte Stil sich wandelt. Mehr Tanztheaterelemente müssen einfließen. Um dies anzupacken brachte Tietje aus Nordhausen seine Ballettdirektorin Jutta Ebnother mit. Sie hatte dort unter anderem mit „Ravel“ auf sich aufmerksam gemacht, eine tänzerische Annäherung an den französischen Impressionisten. Mit dieser Choreografie debütierte sie nun im Oktober 2016 an ihrem neuen Wirkungsort.
Kiel, die benachbarte Landeshauptstadt, hat mit 21 Tänzern eine fast doppelt so starke Truppe. Sie leitet seit 2011 Yaroslav Ivanenko, ehemals Solist bei Neumeier. Er setzt mit eigenen Choreografien zu großen Balletten Akzente, etwa mit Léo Delibes „Coppelia“, im November war seine letzte Premiere.
„Apropos Liebe“ mit Dan Datcu und Magdalena Pawelec. Foto: Silke Winkler
Doch auch kleinere Häuser sind auf Tanz angewiesen, nicht nur als Zutat in Oper, Operette und Musical. Er ist in welcher Form auch immer als eigenständiges Medium oft verkannt. Ohne ihn ist Musiktheater ein Torso. Lübeck etwa, genau zwischen Schwerin und Kiel, hat ein respektables Theater. Weithin wird es wahrgenommen. Aber es ist ein Zwei-Sparten-Haus – seit vor 21 Jahren 15 Tänzer dem Sparzwang wegen einer Renovierung geopfert wurden. Die führte zwar dazu, dass eines der schönsten Jugendstilhäuser wiederentdeckt wurde, der Dülfer-Bau von 1908. In der Nazizeit verkleidet, weil der Stil dem Regime nicht passte, strahlt er heute in alter Pracht. Aber Ballett findet seitdem nicht mehr statt. Für sechs Jahre füllte die engagierte Juliane Rößler mit ihrer „Tanz Companie“ noch das Vakuum, bis auch diese bundesweit einzigartige Kooperation eines freien Tanztheaters und eines Stadttheaters an der Ignoranz irgendwelcher Entscheidungsträger zerbrach. Seit wenigen Jahren nun, genau seit 2012, kann man am Theater Lübeck wieder große Ballette sehen. „Nussknacker“, „Schwanensee“, „Drei Schwestern“ und „Romeo und Julia“ wurden kurzerhand an der Förde in Kiel gekauft und an die Trave verfrachtet. Das kommt an, findet beim Publikum Zuspruch, erfreut auch den Kaufmännischen Direktor, weil der Einkauf billiger kommt als Eigenes. Bei anderen Produktionen behilft sich das Haus, im „Sunset Boulevard“ zum Beispiel mit sechs (!) dafür engagierten Tänzern. Dafür wird der Opernchor angehalten, nicht nur zu singen, sondern sich auch kräftig zu bewegen.
Auch kleinere Häuser sind auf Tanz angewiesen, nicht nur als Zutat in Oper, Operette und Musical. Er ist in welcher Form auch immer als eigenständiges Medium oft verkannt. Ohne ihn ist Musiktheater ein Torso.
Aber das Eigene fehlt, die ausdrucksvolle Geste, die aus der Musik geborene Körpersprache. Lübecker müssen reisen, etwa nach Schwerin. Nach der Annäherung an „Ravel“ erforschte das Dutzend Tänzer dort nun zusammen mit dem französischen Choreografen Martin Chaix das, was „nebenbei“ über „Liebe“ so zu sagen ist. Keine Abhandlung, eher ein lockeres Räsonieren über das ewige Problemfeld zwischenmenschlichen Gehabes. Anregung holte man sich hautnah in der Musik, in ihrer Stimmung und in ihren Texten. Chansons vor allem boten da viel, versetzten im Geiste nach Paris, immer als die Hauptstadt der Liebe apostrophiert. Der Tanz verdeutlichte die Empfindungen oder weckte Erinnerungen. Das hatte Studiocharakter, wollte Fragen stellen, auch in der Darstellung.
Irene López Ros und Alyosa Forlini. Foto: Silke Winkler
Martin Chaix, 1980 geboren, debütierte vor zehn Jahren als eigenständiger Choreograf. Mit Leidenschaft fordert er alle Mittel ein, Klassisches bis hin zum Ausdruckstanz, auch Pantomime und Sprache. Der nüchterne alte Maschinenraum des E-Werks mit nackten Neon-Röhren an der Wand bot wenig Atmosphäre. Die mussten die Tänzer in ihrer einheitlich dunklen Tanzkleidung erst schaffen. Gegliedert wurde der episodische Ablauf durch Musik ausschließlich französischer Komponisten. Eher vordergründig begann es mit dem „Parlez-moi d’amour“ der 1930er-Jahre. Ein Paar umwirbt sich. Andere treten auf, werben ab. Neue Paarungen bilden sich, hetero- und homoerotische. Zu Debussys „Clair de lune“ lässt sich ein Paar tief aufeinander ein. Liebe zeigt sich in allen Schattierungen, auch einsam, eingefangen in Saties empfindsamer „Gymnopédie“, oder heftig in seinem erotischen „Je te veux“. Die Gefahr, ins Banale zu kippen, wird durch die Gebärdensprache gebannt, auch in einer machohaften Chippendale-Parodie oder dem nicht minder klischeebedrohten Pas de trois gefühlsbeseelter Weiblichkeit zu Faurés „Pavane“. In einem zweiten Teil verdichten sich die Probleme. Herbstliche Requisiten verdeutlichen Tränen, Enttäuschung, Einsamkeit. Musikalisch fällt Pierre Boulez‘ „Dèrive“ aus dem Rahmen. Atonal und flirrend, klangsinnlich in anderer Art, wird der Verlust von Träumen untermalt, ein Gegenpol der Liebe, der zum Tode führt.
Lübeck ist zu bedauern, dass es solche Abende am heimischen Theater nicht erleben darf.
Arndt Voss |