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Zwischen Ariana und Lulu

Nikolaus Harnoncourt und die Oper

Dass Nikolaus Harnoncourt 1953 den Concentus Musicus gründete und später seinen sicheren Job als Cellist bei den Wiener Symphonikern aufgab, war der Ungeduld und der Neugier geschuldet. Denn vor ihm lag ein dazumal wenig erschlossener Kontinent in der Welt der Musik. Und wie einst die Siedler, die neues Land entdeckten und voller Enthusiasmus begannen, es in Besitz zu nehmen, hatten er und seine Mitstreiter zunächst die „Mühen der Ebene“ vor sich. Sich der „Alten Musik“ und dem „Originalklang“ zu verschreiben, bedeutete zunächst mal, entsprechende Instrumente zu finden, sie beherrschen zu lernen. Es hieß auch, auf die Suche nach den Originalhandschriften zu gehen, Grundlagenforschung zu betreiben – nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch. Man kann wohl getrost davon ausgehen, dass Kompendien wie etwa Leopold Mozarts „Versuch einer gründlichen Violinschule“, der „Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen“ von Carl Philipp Emanuel Bach, Johann Joachim Quantz‘ „Versuch einer Anweisung die Flöte traversiere zu spielen“ zur Handbibliothek des Dirigenten Nikolaus Harnoncourt gehörten. Alle diese Schriften erschienen kurz hintereinander in der Mitte des 18. Jahrhunderts und sind für das Verständnis der Musik des 17. und 18. Jahrhunderts unerlässlich.

Es sollten noch vier Jahre vergehen, ehe der Concentus Musicus 1957 im Wiener Palais Schwarzenberg sein erstes öffentliches Konzert gab. Dass die Alte Musik anfangs noch misstrauisch und skeptisch beäugt wurde, schreckte Harnoncourt nicht ab, im Gegenteil.

Nikolaus Harnoncourt. Foto: Charlotte Oswald

Nikolaus Harnoncourt. Foto: Charlotte Oswald

Wie bald sein Interesse über den Rahmen des instrumentalen Repertoires hinausging, belegt die Liste seiner Schallplattenaufnahmen für das „Alte Werk“ der TELDEC, bei denen er auch mit dem Produzenten Wolf Erichson zusammenarbeitete, was wesentlichen Einfluss auf seine Entwicklung nehmen sollte. Bei der ersten Aufnahme der „Johannespassion“ 1965 für Telefunken spielte er noch Gambe im Basso Continuo. Aber mit der Zeit der Anfangsjahre verbanden Nikolaus Harnoncourt lebhafte Erinnerungen, über die er ausführlich während eines Interviews sprach, für das ich gemeinsam mit Stefan Piendl bei Alice und Nikolaus Harnoncourt zu Gast war. Eine galt der Aufnahme von Monteverdis „Marienvesper“ 1967 für die TELDEC, zu der Produzent Wolf Erichson auch Gustav Leonhardt eingeladen hatte. Die Aufnahme fiel in den Beginn seiner Zusammenarbeit mit Erichson. In Vorbereitung auf die Aufnahmesessions allerdings kam es zu einem Konflikt zwischen ihm und Jürgen Jürgens, der nicht nur die künstlerische Leitung der Aufnahme innehatte, sondern auch die Chöre einstudiert hatte. Harnoncourt, dessen Aufgabe der instrumentale Bereich und das Klanggewand des Stückes waren, kam also mit bestimmten Vorstellungen über Interpretation und Tempo zu den Aufnahmen. „Ich hatte mich intensiv mit der ‚Marienvesper‘ befasst, habe eine Instrumentation geschrieben, also eine Partitur hergestellt.“ Es stellte sich heraus, dass auch Jürgen Jürgens mit Vorstellungen kam, die sich allerdings gänzlich von denen Harnoncourts unterschieden. Alle Tempi seien anders gewesen, wirklich alle, erzählte Harnoncourt. Für ihn jedoch waren die Tempi eines der wichtigsten Kriterien in der Musik überhaupt.

„Wir haben immer diskutiert – noch nicht gestritten, aber doch diskutiert. Einer von uns beiden musste dann nachgeben.“ Wer von beiden schließlich nachgegeben habe, wollten wir wissen. „Wie ich mich kenne, war ich es nicht.“

Legendäre Salzburger „Don Giovanni“-Aufführung. Anna Netrebko und Thomas Hampson. Foto: Hans Jörg Michel

Legendäre Salzburger „Don Giovanni“-Aufführung. Anna Netrebko und Thomas Hampson. Foto: Hans Jörg Michel

Welchen immens großen Platz das Musiktheater im Schaffen Nikolaus Harnoncourts einnahm, zeigt die Liste seiner Aufnahmen und ein Blick auf das Repertoire, das er im Laufe seiner Karriere auf Opernbühnen und Konzertsälen weltweit dirigierte. Natürlich mit dem Schwerpunkt auf Mozarts Opern, wie etwa der „Zauberflöte“, der „Entführung“, „Lucio Silla“, „Idomeneo“, dem da-Ponte-Zyklus und anderen. Von Haydn über Händel und Beethoven bis zu Gershwin spannte sich der Bogen.

Legendäre Salzburger „Don Giovanni“-Aufführung. Luca Pisaroni und Thomas Hampson. Foto: Hans Jörg Michel

Legendäre Salzburger „Don Giovanni“-Aufführung. Luca Pisaroni und Thomas Hampson. Foto: Hans Jörg Michel

Interessant dabei ist, dass sich das Tor zur Opernwelt für Harnoncourt nicht etwa mit Mozart öffnete, sondern mit Claudio Monteverdi. Das scheint auf den ersten Blick gar nicht mal ungewöhnlich. Nikolaus Harnoncourt jedoch beschrieb die Besonderheit dieses Umstands mit der Tatsache, dass er während seiner ganzen Studienzeit an der Wiener Musikhochschule den Namen Claudio Monteverdi nie gehört hatte! Er war ihm nicht bekannt. „Und dabei habe ich mich wirklich interessiert, für Architektur, für Philosophie, Malerei und Bildhauerei“, sagte er. „Ich habe immer die Querverbindungen zwischen den Künsten gesucht – aber der Name Monteverdi war mir effektiv nicht untergekommen!“ Umso heftiger, „einem Blitzschlag gleich“, verlief dann seine Erstbegegnung mit dem Werk des Komponisten im Jahre 1954. Damals war er gerade mal zwei Jahre als Cellist bei den Wiener Symphonikern beschäftigt. Paul Hindemith plante die szenische Aufführung von Monteverdis „Orfeo“ in Wien. „Um das machen zu können, wandte sich Hindemith an den Direktor der Wiener Konzerthausgesellschaft Egon Seefehlner mit einer Liste von Instrumenten, die er samt Spieler für diese Aufführung brauchte“, erinnerte sich Harnoncourt. „Auf dieser Liste standen lauter Instrumente, die kein Mensch in Wien zuvor gekannt hatte. Der Direktor wiederum hatte gehört, dass da im Orchester so ein junger Spinner sitzt, der solche alten Instrumente hat und sie auch spielt. Und es war tatsächlich so: Ich hatte mit meinem Concentus Musicus das komplette Instrumentarium, samt Spielern, mit Ausnahme der zwei Zinken. Das haben zwei Musiker dann gelernt und ein ganzes Jahr lang auf diesen Instrumenten geübt.“ Zu diesem Zeitpunkt war der Concentus Musicus noch nicht mal öffentlich aufgetreten. Fortan jedoch sollte das Werk Claudio Monteverdis einer der wesentlichsten Schwerpunkte im musikalischen Schaffen Harnoncourts bleiben.

Das Werk Claudio Monteverdis sollte einer der wesentlichsten Schwerpunkte im musikalischen Schaffen Harnoncourts werden.

So war auch der erste Auftritt Nikolaus Harnoncourts als Dirigent untrennbar mit dem Namen Claudio Monteverdi verbunden: 1972 leitete er die Aufführung von dessen „Il ritorno d’Ulisse“ an der Piccola Scala in Mailand. Und 1975 startete am Opernhaus in Zürich mit „L’Orfeo“ die zyklische, szenische Aufführung der drei bis heute erhaltenen Musiktheaterwerke von Claudio Monteverdi, zu denen neben „Il ritorno d’Ulisse in patria“ (Die Rückkehr des Odysseus) auch noch „L’Incoronazione di Poppea“ (Die Krönung der Poppea) gehören. Die musikalische Wucht dieses Zyklus sorgte denn auch für Furore. Denn ungeachtet der Existenz von diversen Bearbeitungen für modernes Orchester vertraute Nikolaus Harnoncourt auf starke Wirkung der von ihm praktizierten Historischen Aufführungspraxis, umso mehr auf einer Opernbühne, im Vergleich zum Konzertsaal. Das allerdings setzte eben nicht nur das Beherrschen der Spieltechnik alter Instrumente voraus, sondern auch die genaue Kenntnis jener Regeln, wie sie für die Musik des frühen Barock, speziell auch des Gesanges galten. Von daher durfte man ein weiteres Grundsatzwerk in der Handbibliothek Nikolaus Harnoncourts vermuten: die „Anleitung zur Singkunst“ von Pier Francesco Tosi, herausgegeben von Johann Friedrich Agricola. Auch wenn Tosis „Anleitung“ schon 1752 veröffentlicht wurde – die Grundlagen, die dieser für einen Sänger gelegt wissen wollte, blieben zweifelsohne auch für Harnoncourt ein Maßstab. Der wurde zudem nicht müde, die Bedeutung autographer, handschriftlicher Ausgaben der Komponisten für seine Arbeit zu betonen. In ihnen finde sich der Wille des Komponisten – unverstellt und unverfälscht –, man müsse sie nur zu lesen verstehen.

Foto: Oswald

Foto: Oswald

Inzwischen gibt es ungezählte Opern- Aufnahmen und Aufführungen auf Konzert- und Opernbühnen, darunter auch jene „Don Giovanni“-Produktion der Salzburger Festspiele 2002. Diese wurde seinerzeit in Fachkreisen erregt diskutiert, unter anderem seine Wahl der Tempi. Sie nämlich hatten besonders unter Harnoncourts Anhängern für Irritation gesorgt: Er, der doch vierzig Jahre gerade die Frage der Tempi gegen den Strich gebürstet habe, dirigiere jetzt selber so langsam...

Er sei absolut nicht der Meinung, dass „schneller“ zugleich „historisch richtig“ bedeute, erklärte Harnoncourt. „Nehmen Sie Mozarts letzte drei Da-Ponte-Opern: Da hat er ungefähr vierzig verschiedene Tempi pro Werk, plus minus. Die Frage, die ich mir immer wieder stelle: Meint er mit einer wiederkehrenden Tempobezeichnung tatsächlich auch das Tempo, so, wie es zuvor gespielt wurde oder ist das mehr oder weniger zufällig?“

„Die wirkliche Romantik fängt für mich an mit einem Sextakkord.“

Er habe am Pult kein Metronom liegen und versuche deshalb auch nicht, ein Tempo mechanisch zu übernehmen, sagte uns Harnoncourt. Er versuche, es zu empfinden. „Die erste Arie der Elvira und die erste Arie des Leporello haben dieselbe Tempobezeichnung. Da heißt es: ‚Ah! chi mi dice mai....‘. Ich meine, dass die, die sie schneller machen, nicht verstehen, was die Orchestersprache bedeutet: dass nämlich jeder einzelne Ton ein Schlag auf die Seele der Elvira ist! Das hat nichts mit einer Orchesterbegleitung zu tun, wie sie etwa Rossini schrieb…“

Dass der Operndirigent Nikolaus Harnoncourt keinesfalls mehr nur auf die Historische Aufführungspraxis der Oper des 17. und 18. Jahrhunderts ausgerichtet war, mag auch der folgende Dialog mit Nikolaus Harnoncourt und seiner Frau Alice zeigen. Zum Ende unseres Gespräches fragten wir ihn, der doch Plattenaufnahmen zu hunderten gemacht hatte, welche drei Opern-Aufnahmen er unbedingt noch machen „müsse“. Harnoncourt überlegte lange. „Drei Stücke sagen Sie? Gut, eins wäre auf jeden Fall ‚Lulu‘, das ist mal ganz sicher.“ Leise zu seiner Frau: „Ich weiß nicht, ob ich den ‚Tristan‘ nehmen soll oder den Janácˇek...“ Dann wandte er sich wieder zu uns und fuhr fort: „Also, bei der tschechischen Musik käme eine große Oper von Dvorˇák in Frage oder eine von Janácˇek… Ja, und wenn ‚Ariana‘ von Monteverdi auftauchen würde... Die gibt’s ja, sie liegt in irgendeiner Bibliothek, aber wahrscheinlich weiß es diese Bibliothek nicht mal. Wieso sind Sie verwundert über die Wahl?“

Weil wir vermutet hätten, dass ihm „Ariana“ näherstehe als „Lulu“, antworteten wir. „Aber das ist für mich das Herzblut!“, rief er aus. „Die wirkliche Romantik in der Musik, die fängt für mich an mit einem Sextakkord und das heißt: mit Dufay. Und sie endet für mich wahrscheinlich mit Alban Berg.“ Nikolaus Harnoncourt hatte nicht mehr die Zeit, das herauszufinden.

Thomas Otto

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