Identitätsstiftendes Potenzial
Das Kurt-Weill-Fest in Dessau
Um den Songschreiber Weill braucht man sich keine Sorgen zu machen; um den Musiktheater-Komponisten schon. Jenseits des Dauerbrenners „Dreigroschenoper“, der selten überzeugend präsentierten „Mahagonny“-Oper und des originellen Balletts „Die sieben Todsünden“ hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten nur die Broadway-Oper „Street Scene“ dauerhaft auf deutschen Bühnen etabliert. Das ist ein mageres Ergebnis für die Kurt-Weill-Foundation in New York, aber auch für die Kurt-Weill-Gesellschaft in Dessau-Roßlau, die sich die Erforschung, Erschließung und Verbreitung der Werke auf die Fahnen geschrieben hat. Allerdings hat Weill in Dessau keine eigene Festspielbühne; das Festival bleibt immer wieder auf das inzwischen arg gerupfte Anhaltische Theater angewiesen. Andererseits: Wer hätte bei der Gründung 1993 gedacht, dass aus den vorsichtigen Anfängen im gebeutelten Sachsen-Anhalt einmal eine feste und etablierte Größe in der deutschen Festspiel-Landschaft werden würde?
Albrecht Kludszuweit (Offizier), Iordanka Derilova (Maria), Ulf Paulsen (Diktator). Foto: C. Heysel
Entsprechend fällt die Bilanz des 24. Kurt-Weill-Festes 2016 zwiespältig aus. Intendant Michael Kaufmann hat unter dem Motto „Krenek, Weill und die Moderne“ ein hochinteressantes Programm mit konzertantem Schwerpunkt zusammengestellt, das selbst dem Kenner noch etliche Neuentdeckungen bietet. Artist-in-Residence ist der Wiener Geiger, Hochschullehrer und Krenek-Experte Ernst Kovacic. Dass er unter anderem Weills einziges und Ernst Kreneks erstes Violinkonzert spielt, hat eine wichtige lokale Komponente, denn Dessau war 1925 Ort der deutschen Erstaufführung beziehungsweise der Uraufführung. Das Stadtarchiv hat dazu einen Sonderdruck mit den Zeitungskritiken von 1925 herausgebracht und würdigt neben der Krenek-Geigerin Alma Templeton Moodie auch Franz von Hößlin, den damaligen Dessauer GMD. Der mutete dem Abonnenten-Publikum nicht nur die Neue Musik zweier aufstrebender Mittzwanziger zu, sondern setzte sich auch für die Aufnahme des aus Weimar vertriebenen Bauhauses in Dessau ein. Für eine Weile war die Stadt an der Mulde damals eine Hochburg der klassischen Moderne. Die Erinnerung an diese weltoffene Zeit hat hier durchaus identitätsstiftendes Potenzial. Mit dem Thema „Luther, Weill und Mendelssohn“, das an die großen reformatorischen und aufklärerischen Traditionen der Region erinnert, wird dieser programmatische Ansatz im kommenden Jahr fortgesetzt. Angesichts des Aufstiegs der nationalpopulistischen „Alternative für Deutschland“ bei den Landtagswahlen am letzten Festival-Sonntag liegt hier auch eine wichtige politische Dimension.
Dass das Anhaltische Theater erstmals seit 2012 wieder eine Weill-Oper auf die Bühne bringt, war überfällig. Weills witziger Einakter „Der Zar lässt sich fotografieren“ ist sinnvoll gekoppelt mit seinem stärker melo-
dramatischen Krenek-Pendant „Der Diktator“. Beide Werke waren bei der Uraufführung 1928 von erstaunlicher Aktualität: Krenek nahm sich als sein eigener Librettist den Duce Benito Mussolini zum Vorbild, und Georg Kaisers farcenhaftes Pariser Szenario im „Zaren“ handelt von einem fehlgeschlagenen Attentat auf einen charmanten Monarchen. Terroristen montieren hier eine Pistole in einer Fotokamera, doch die als Fotografin getarnte Attentäterin kommt wegen zahlreicher Unterbrechungen nicht dazu, den Auslöser zu betätigen; den ganzen Ablauf kommentiert zudem noch ein Männerchor von zwei Seiten. Situationskomik und schwarzer Humor, doppelbödige Dialoge und eine scharf profilierende Musik gehen eine im Prinzip höchst bühnenwirksame Mischung ein. Krenek dagegen demonstriert eher die brutale Erotik der Macht, die darin gipfelt, dass sich eine entschlossene Attentäterin in den Potentaten verliebt und sich sogar für ihn opfert.
„Zaubernacht” mit Marin Delavaud, Maria-Sara Richter, Anna-Maria Tasarz, Daisuke Sogawa, Nicole Luketic, Thomas Ambrosini. Foto: Jan Pieter-Fuhr
Dass Doris Sophia Heinrichsens Inszenierung im Programmheft unter „Szenische Einrichtung“ firmiert, verweist auf einen reduzierten Anspruch. Im Weill-Einakter hakt es beim beeindruckend spielfreudigen Ensemble im Timing und in der Ablauf-Sicherheit. Ulf Paulsen in der Titelrolle überzeugt mehr durch spielerische Leichtigkeit als durch die eher schwere Stimmgebung. Während Interims-GMD Daniel Carlberg mit der Anhaltischen Philharmonie hier die musikalischen Impulse gut dosiert, akzentuiert er bei Krenek etwas zu stark die buffoneske Facette; gleichzeitig arbeitet Paulsen das gockelhafte Gehabe des Diktators mehr heraus als dessen virile Ausstrahlung, so dass am Ende die Tragik der Bühnenerzählung zu wenig herauskommt. Stünde die Inszenierung eine Weile im Repertoire, würde sich vieles einspielen, manches ließe sich nachjustieren, und sie käme den Vorstellungen der Komponisten recht nahe. Doch leider ist nach zwei Aufführungen Schluss. Hier ist die Chance vertan, einen Maßstab über das Festival hinaus zu setzen.
Mit 22 Jahren schrieb Weill in Berlin für eine russische Balletttruppe die Musik zu der Kinderpantomime „Zaubernacht“, in der zwei Kinder erleben, wie eine Fee ihre Spielzeuge vorübergehend zum Leben erweckt. Dessaus Ballettchef Tomasz Kajdánski hat das Stück auf die Kammerspielbühne des Alten Theaters gebracht. Es fehlt ein bisschen das Geheimnisvolle, der Bühnenraum ist vollgestopft wie die Kinderzimmer der meisten Kinder heute, und „Action“ dominiert über Verzauberung.
Aber das hat auch seinen Reiz, denn Kinder sind heute schnelle Bilderfolgen gewöhnt, und Kajdánski achtet sorgfältig auf die musikalischen Impulse des seitlich sitzenden Kammerensembles der Anhaltischen Philharmonie (Ltg. Boris Cepeda). Die sieben Tänzerinnen und Tänzer des Balletts bewegen sich in den von Doris Gal ansprechend gestalteten Kostümen zwar nicht immer mit der wünschenswerten Präzision, aber wunderbar rollengerecht und kindgemäß. Cornelia Marschall aus dem Opernensemble wechselt plausibel von der Mutter- in die Feenrolle und zurück; der Text ihres Zauberliedes ist leider kaum zu verstehen. Das aus Jung und Alt bunt gemischte Publikum folgt dem 70-minütigen Spektakel mit Vergnügen und Konzentration. „Zaubernacht“ bleibt weiter auf dem Spielplan, immerhin.
Andreas Hauff |